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BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
V ZR 100/02
vom
31. Oktober 2002
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
ZPO (2002) § 543 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2
a) Bei einem Rechtsanwendungsfehler - hier: fehlerhafte Anwendung der Beweislastregeln
- ist der Zulassungsgrund der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung insbesondere dann gegeben, wenn aufgrund konkreter Anhaltspunkte zu besorgen ist, daß dem
fehlerhaften Urteil ohne Korrektur durch das Revisionsgericht eine Wiederholungsgefahr
oder ein Nachahmungseffekt zukommen könnte. Hingegen reicht für diesen Zulassungsgrund eine Fehlentscheidung nur in einem Einzelfall selbst dann nicht aus, wenn
der Rechtsfehler offensichtlich oder von Gewicht ist (Fortführung von Senat, Beschl. v.
4. Juli 2002, V ZR 75/02, NJW 2002, 2975)
b)
Konkrete Anhaltspunkte für eine Wiederholungsgefahr oder einen Nachahmungseffekt
liegen vor, wenn sich die rechtsfehlerhafte Begründung eines Urteils verallgemeinern
läßt und überdies eine nicht unerhebliche Zahl künftiger Sachverhalte zu erwarten ist,
auf welche die Argumentation übertragen werden könnte.
BGH, Beschl. v. 31. Oktober 2002 - V ZR 100/02 - OLG Braunschweig
LG Göttingen
-2-
Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat am 31. Oktober 2002 durch den
Vizepräsidenten des Bundesgerichtshofes Dr. Wenzel und die
Richter
Prof. Dr. Krüger, Dr. Klein, Dr. Gaier und Dr. Schmidt-Räntsch
beschlossen:
Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten wird die Revision gegen das Grund-Urteil des 7. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Braunschweig vom 4. März 2002 zugelassen.
Gründe:
I.
Mit notariellem Vertrag vom 9. Februar 1995 verkaufte die Beklagte unter Gewährleistungsausschluß mehrere Grundstücke, auf denen ein "ländliches Wohnhaus" errichtet war und die im übrigen als Weidefläche genutzt
wurden, zum Preis von 540.000 DM an die Kläger. Die Weidefläche war beim
Verkauf von einem 1,3 m hohen Zaun umgeben; außerdem befanden sich auf
dem Gelände zwei Blockhütten, die als Unterstände für die dort gehaltenen
Schafe sowie zur Lagerung von Holz und Futtermitteln genutzt wurden. 1998
erließ der zuständige Landkreis eine Abrißverfügung für den Zaun und die
beiden Hütten. In einem anschließend geführten Verwaltungsstreitverfahren
unterlagen die Kläger.
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Die Kläger haben behauptet, der Beklagten sei die formelle und materielle Baurechtswidrigkeit des Zaunes und der Hütten schon seit 1994 nach
einer Ortsbesichtigung durch das Bauordnungsamt bekannt gewesen. Sie sehen sich daher arglistig getäuscht und machen einen Schadensersatzanspruch
auf Zahlung von 691.682,90 DM Zug um Zug gegen Rückauflassung des
Grundbesitzes geltend. Die Beklagte ist dieser Forderung insbesondere mit
der Behauptung entgegengetreten, vor Vertragsschluß sei auf das Fehlen einer Baugenehmigung für die Hütten hingewiesen und deren Abriß angeboten
worden. Nach Abweisung der Klage durch das Landgericht hat das Oberlandesgericht die Klage dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt. Mit ihrer Beschwerde wendet sich die Beklagte gegen die Nichtzulassung der Revision im
Urteil des Oberlandesgerichts.
II.
Die Nichtzulassungsbeschwerde (§ 544 ZPO) der Beklagten ist zulässig
und hat auch in der Sache selbst Erfolg.
1. Das Berufungsgericht bejaht einen Schadensersatzanspruch aus
§ 463 Satz 2 BGB a.F.; denn es sei davon auszugehen, daß die Beklagte die
Baurechtswidrigkeit zwar nicht des Zaunes, wohl aber der Hütten arglistig verschwiegen habe. Daß eine Information über die Baurechtswidrigkeit der Hütten
erfolgt sei, sei nach den Aussagen der Zeugen, die die Beklagte für die von ihr
behauptete Aufklärung benannt habe, nicht erwiesen. Dieses Beweisergebnis
wirke sich zu Lasten der Beklagten aus. Zwar sei es grundsätzlich Sache der
Kläger, den gesamten Sachverhalt, aus dem Arglist folge, zu beweisen. Hier
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ergebe sich aber eine "abweichende Regelung" aus dem Inhalt des Kaufvertrages, der die Vermutung der Vollständigkeit und Richtigkeit begründe. Die
Beklagte habe nämlich in dem Kaufvertrag erklärt, daß ihr "vom Vorhandensein wesentlicher unsichtbarer Mängel nichts bekannt" sei. Hieraus könne nur
der Schluß gezogen werden, daß über die formelle Baurechtswidrigkeit der
Unterstände nicht gesprochen worden sei. Eine über den Vertragsinhalt hinaus
erfolgte Aufklärung müsse danach die Beklagte beweisen.
2. Dies verwirklicht zwar nicht aus Gründen der Divergenz, wohl aber
wegen (a) fehlerhafter Anwendung des Rechts verbunden mit (b) der im konkreten Fall gegebenen Gefahr der Wiederholung und Nachahmung den Zulassungsgrund der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 543 Abs. 2
Nr. 2 Alt. 2 ZPO). Daß die Beschwerde demgegenüber von einer grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 543 Abs. 2 Nr. 1 ZPO) ausgehen will, ist
unschädlich, weil der maßgebliche Zulassungsgrund gleichwohl in der Beschwerdebegründung schlüssig und substantiiert dargelegt ist (vgl. BGH,
Beschl. vom 23. Juli 2002, VI ZR 91/02, NJW 2002, 3334, 3335 zur
Veröffentlichung in BGHZ vorgesehen).
a) Das Berufungsgericht hat nicht die Überzeugung gewonnen, daß eine Aufklärung über die Baurechtswidrigkeit der Hütten unterblieben sei. Vielmehr zeigen die Ausführungen zur Verteilung der Beweislast, daß die Annahme des Berufungsgerichts, die behauptete Unterrichtung sei nicht erwiesen,
die Entscheidung trägt. Getroffen wurde demnach eine Beweislastentscheidung zum Nachteil der Beklagten. Bei dieser ist dem Berufungsgericht ein
Fehler unterlaufen. Es obliegt dem Käufer, der bei § 463 Satz 2 BGB a.F. für
den gesamten Arglisttatbestand die Darlegungs- und Beweislast trägt, vorzu-
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tragen und nachzuweisen, daß der Verkäufer ihn nicht gehörig aufgeklärt hat
(Senat, Urt. v. 20. Oktober 2000, V ZR 285/99, NJW 2001, 64, 65). Zwar hat
das Berufungsgericht diese Regel seiner Entscheidung zugrunde gelegt und
auch bei seinen weiteren Überlegungen keinen Rechtssatz aufgestellt, der den
Rechtssätzen der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur Verteilung der Beweislast widerspricht. Der Zulassungsgrund aus § 543 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO
ist mithin nicht aus Gründen einer Divergenz eröffnet (vgl. Senat, Beschl. v.
4. Juli 2002, V ZR 75/02, NJW 2002, 2957; zur Rechtsbeschwerde auch Senat, Beschl. v. 29. Mai 2002, V ZB 11/02, NJW 2002, 2473, 2474, zur Veröffentlichung in BGHZ vorgesehen; Beschl. v. 4. Juli 2002, V ZB 16/02, NJW
2002, 3029, 3030, zur Veröffentlichung in BGHZ vorgesehen). Das Berufungsgericht hat allerdings die Beweislastregel fehlerhaft angewandt, weil entgegen
seiner Auffassung die in der Kaufvertragsurkunde enthaltene Erklärung der
Beklagten, ihr sei "vom Vorhandensein wesentlicher unsichtbarer Mängel
nichts bekannt", keine Ausnahme von dem geschilderten Grundsatz im Sinne
einer Beweislast des Verkäufers für eine tatsächlich erfolgte Unterrichtung des
Käufers über aufklärungsbedürftige Mängel des Kaufobjekts rechtfertigt.
aa) Das Berufungsgericht hält die von der Beklagten behauptete Aufklärung für unvereinbar mit der in der Vertragsurkunde beanspruchten fehlenden
Kenntnis von unsichtbaren Mängeln. Ersichtlich läßt es sich von der Überlegung leiten, daß niemand über einen ihm selbst nicht bekannten Umstand unterrichten kann. Hieraus folgert das Berufungsgericht, daß nach dem Inhalt der
notariellen Urkunde eine Information der Kläger unterblieben ist. Im Anschluß
daran weist es - wegen der für die Urkunde streitenden Vermutung der Richtigkeit und Vollständigkeit - der Beklagten die Beweislast für eine gleichwohl
erfolgte Aufklärung zu.
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bb) Diese Argumentation ist schon im Ansatz verfehlt. Das Berufungsgericht hat keine Feststellungen dazu getroffen, daß sich die Erklärung mangelnder Kenntnis überhaupt auf den baurechtswidrigen Zustand bezog. Zwingend ist das keineswegs; denn waren - wie von der Beklagten behauptet - die
Kläger vor Vertragsschluß bereits informiert, so liegt es doch nahe, daß die
Beklagte insoweit nicht länger von einem "unsichtbaren" Mangel ausging. Die
Schlußfolgerung des Berufungsgerichts auf eine nach dem Inhalt der Urkunde
unterbliebene Aufklärung ist mithin nicht möglich. Aber selbst wenn das fehlerhafte Zwischenergebnis hingenommen wird, durfte das Berufungsgericht zur
Begründung der von ihm auf dieser Grundlage angenommenen Beweislastumkehr nicht die Vermutung der Vollständigkeit und Richtigkeit notarieller Urkunden heranziehen. Sie erstreckt sich nämlich nur auf die vollständige und richtige Wiedergabe der getroffenen Vereinbarungen. Dagegen gilt sie nicht für eine etwa erteilte Information; denn eine solche bedarf nicht der notariellen Beurkundung und nimmt daher an der Vermutung der Vollständigkeit und Richtigkeit der notariellen Urkunde nicht teil (Senat, Urt. v. 1. Februar 1985, V ZR
180/83, WM 1985, 699, 700; Urt. v. 20. Juni 1986, V ZR 158/85, BGHR § 313
Satz 1 BGB Vollständigkeitsvermutung 1). Der Vertragsinhalt hätte in dieser
Hinsicht - wäre die Schlußfolgerung des Berufungsgerichts möglich gewesen allenfalls eine mehr oder minder große indizielle Bedeutung für die den Klägern obliegende Beweisführung erlangen können (vgl. Senat, Urt. v. 20. Juni
1986, V ZR 158/85, aaO).
b) Über den dargestellten Rechtsanwendungsfehler hinaus liegt auch
die weitere Voraussetzung vor, die notwendig ist, um für diesen Fall den Zulassungsgrund aus § 543 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO zu eröffnen. Dafür reicht es
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nicht aus, daß in einem Einzelfall eine Fehlentscheidung getroffen wurde,
selbst wenn der Rechtsfehler offensichtlich oder von Gewicht ist (Senat,
Beschl. v. 4. Juli 2002, V ZR 75/02, aaO; auch Beschl. v. 29. Mai 2002,
V ZB 11/02, aaO, mit zustimmender Anmerkung von Burgermeister, BGHReport 2002, 747). Anderes läßt sich auch der in dieser Hinsicht widersprüchlichen Gesetzesbegründung (vgl. Begründung des Regierungsentwurfs eines
Gesetzes zur Reform des Zivilprozesses, BT-Drucks. 14/4722, S. 67, 104 zu
§ 543 Abs. 2 Nr. 1 ZPO einerseits und S. 104 zu § 543 Abs. 2 Nr. 2 ZPO andererseits) nicht entnehmen (MünchKomm-ZPO/Wenzel, 2. Aufl., Aktualisierungsband, § 543 Rdn. 19; a.A. Piekenbrock/Schulze, JZ 2002, 911, 918).
Vielmehr erfordert die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung dann eine Entscheidung des Revisionsgerichts, wenn ein Fehler bei der Anwendung
revisiblen Rechts über die Einzelfallentscheidung hinaus die Interessen der
Allgemeinheit nachhaltig berührt (vgl. Senat, Beschl. v. 4. Juli 2002,
V ZB 16/02, aaO für die Rechtsbeschwerde), weil auf Grund der Publizitätswirkung das Vertrauen in die Rechtsprechung als Ganzes erschüttert ist (Senat,
Beschl. v. 4. Juli 2002, V ZR 75/02, aaO) oder weil es gilt, der Entwicklung einer uneinheitlichen Rechtsprechung schon in den Anfängen durch eine
höchstrichterliche Leitentscheidung entgegenzutreten. Das ist namentlich der
Fall, wenn auf Grund konkreter Anhaltspunkte zu besorgen ist, daß einem
Rechtsfehler ohne Korrektur durch das Revisionsgericht eine Wiederholungsgefahr oder ein Nachahmungseffekt zukommen könnte (vgl. Senat, Beschl. v.
4. Juli 2002, V ZR 75/02, aaO; zur Rechtsbeschwerde auch Senat, Beschl. v.
29. Mai 2002, V ZB 11/02, aaO; BGH, Beschl. v. 4. September 2002, VIII
ZB 23/02, Umdruck S. 6, zur Veröffentlichung vorgesehen). Daß dem Berufungsgericht hier ein Fehler nicht bei der Anwendung von Gesetzesvorschriften unterlaufen ist, führt zu keinem anderen Ergebnis. Auch die Beweislastre-
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geln sind bindend (vgl. BGHZ 112, 222, 224 f) und unterliegen hinsichtlich ihrer richtigen Anwendung von Amts wegen der Nachprüfung durch das Revisionsgericht (vgl. Senat, BGHZ 119, 387, 391 f; BGHZ 28, 251, 254; 46, 260,
267).
Die hiernach notwendige Gefahr der Wiederholung oder Nachahmung
ist mit dem vorliegenden Rechtsfehler verbunden; denn die Begründung des
Berufungsurteils läßt sich zum einen verallgemeinern, und zum anderen ist eine nicht unerhebliche Zahl künftiger Sachverhalte zu erwarten, auf welche die
Argumentation übertragen werden kann. Das Berufungsgericht beschränkt
seine Überlegungen zwar auf den konkreten Sachverhalt, sie können aber ohne weiteres von diesem gelöst und auch für andere Fälle herangezogen werden, in denen nach Erklärungen des Verkäufers über seine Unkenntnis von
versteckten Mängeln über die Verteilung der Beweislast für eine angebliche
Aufklärung der Käufer zu befinden ist. Mit einer Vielzahl ähnlicher Sachverhalte ist jedenfalls im Hinblick auf die Menge der Vertragsverhältnisse zu rechnen, für die nach Art. 229 § 5 EGBGB das Bürgerliche Gesetzbuch weiterhin in
der vor dem 1. Januar 2002 geltenden Fassung Anwendung findet. In solchen
Verträgen finden sich regelmäßig im Zusammenhang mit dem üblichen Gewährleistungsausschluß bei dem Verkauf von Grundstücken mit Altbauten ohne Herstellungsverpflichtung (vgl. Hagen/Brambring, Der Grundstückskauf,
7. Aufl., Rdn. 217) vergleichbare Erklärungen zur fehlenden Kenntnis des Verkäufers von versteckten Mängeln, an denen eine Argumentation wie die des
Berufungsgerichts anknüpfen könnte. Es ist daher zu befürchten, daß sich
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nicht nur das Berufungsgericht, sondern auch andere Instanzgerichte in künftigen Fällen, die ähnlich dem vorliegenden gelagert sind, der geschilderten Begründung bedienen und so zu gleichermaßen fehlerhaften Entscheidungen
über die Verteilung der Beweislast gelangen werden.
Wenzel
Krüger
Gaier
Klein
Schmidt-Räntsch