Cyberlaywer/build/tfgpu-cyberlaywer/EndDokumente/iv_zr__66-05.pdf.txt
2023-03-06 15:36:57 +01:00

213 lines
No EOL
12 KiB
Text
Raw Blame History

This file contains invisible Unicode characters

This file contains invisible Unicode characters that are indistinguishable to humans but may be processed differently by a computer. If you think that this is intentional, you can safely ignore this warning. Use the Escape button to reveal them.

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
IV ZR 66/05
Verkündet am:
11. Oktober 2006
Heinekamp
Justizhauptsekretär
als Urkundsbeamter
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
-2-
Der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat durch den Richter
Seiffert als Vorsitzenden und die Richter Dr. Schlichting, Wendt, die
Richterin Dr. Kessal-Wulf und den Richter Dr. Franke auf die mündliche
Verhandlung vom 11. Oktober 2006
für Recht erkannt:
Die Revision gegen das Urteil des 5. Zivilsenats des
Saarländischen Oberlandesgerichts vom 26. Januar
2005 wird auf Kosten des Klägers zurückgewiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
1
Der Kläger, von Beruf Betonmaurer, nimmt die Beklagte auf Leistungen aus einer bei ihr gehaltenen Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung in Anspruch, der ihre Bedingungen für die Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung (BUZ) zugrunde liegen.
2
Am 21. Dezember 2001 verletzte sich der Kläger bei einem Arbeitsunfall am rechten Fuß und ist seitdem arbeitsunfähig krank geschrieben. Er erlitt eine so genannte Maisonneuve-Fraktur, die komplizierte Sonderform einer Sprunggelenkfraktur. Diese inzwischen unstreitige Diagnose wurde jedoch erst im April 2002 gestellt. Die Verletzung
wurde konservativ behandelt. Einen Arbeitsversuch am 27. Juni 2002
musste der Kläger wegen anhaltender Schmerzen beim Gehen und
-3-
Schwellneigung im Sprunggelenk abbrechen. Während der behandelnde
Arzt noch Ende Mai 2002 einen Termin für die Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit nicht abzuschätzen vermochte, stellte er nach dem fehlgeschlagenen Arbeitsversuch Anfang Juli 2002 einen deutlich diskrepanten
Unterschied zwischen dem objektiv erhobenen Befund und den subjektiven Beschwerden des Klägers fest. Die Beklagte erkannte ihre Leistungspflicht mit Schreiben vom 14. Januar 2003 an und gewährte dem
Kläger rückwirkend ab dem 1. Juli 2002 eine monatliche Rente sowie die
vertraglich vereinbarte Beitragsbefreiung. Der Kläger ist der Ansicht, er
sei bereits am Tag des Unfalls bedingungsgemäß berufsunfähig geworden, und begehrt von der Beklagten auch für die ersten sechs Monate
seit dem Unfallereignis die Zahlung einer Rente sowie die Erstattung geleisteter Beiträge.
3
Das Landgericht hat seine Klage auf Zahlung von insgesamt
6.586,80 € abgewiesen. Die Berufung des Klägers ist ohne Erfolg geblieben. Mit der zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Zahlungsbegehren weiter.
Entscheidungsgründe:
4
Die Revision hat keinen Erfolg.
5
I. Das Berufungsgericht hat ausgeführt:
-4-
6
Der Kläger habe nicht bewiesen, dass er bereits ab Unfalleintritt
berufsunfähig gewesen sei. Vollständige Berufsunfähigkeit im Sinne des
§ 2 Abs. 1 BUZ setze voraus, dass der Versicherungsnehmer infolge
Krankheit, Körperverletzung oder Kräfteverfalls, die ärztlich nachzuweisen seien, voraussichtlich dauernd außer Stande sei, seinen Beruf oder
eine andere Tätigkeit auszuüben, die aufgrund seiner Ausbildung und Erfahrung ausgeübt werden könne und seiner bisherigen Lebensstellung
entspreche. Entscheidend sei daher der Zeitpunkt, zu dem erstmals die
Prognose gestellt werden könne, dass der Zustand des Versicherten
nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft keine Erwartungen auf
eine Besserung mehr rechtfertige. Dieser Zeitpunkt sei rückschauend zu
ermitteln. Dabei sei weder auf frühere Prognosen der den Versicherungsnehmer behandelnden Ärzte abzustellen noch auf den Zustand des
Versicherungsnehmers zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung.
Vielmehr sei maßgebend, wann nach sachverständiger Einschätzung ein
gut ausgebildeter, wohl informierter und sorgfältig handelnder Arzt nach
dem jeweiligen Stand der medizinischen Wissenschaft erstmals einen
Zustand des Versicherungsnehmers als gegeben ansehe, der keine Besserung mehr erwarten lasse.
7
Die Formulierung "voraussichtlich dauernd" in § 2 Abs. 1 BUZ sei
entgegen der Auffassung des Klägers nicht dahin auszulegen, dass es
darauf ankomme, ob mit einer Wiedereingliederung des Versicherungsnehmers in das Arbeitsleben zu mehr als der Hälfte seiner Arbeitskraft
binnen sechs Monaten zu rechnen sei. Vielmehr komme es schon unter
Berücksichtigung des Wortlauts der Klausel darauf an, ob eine Veränderung des aktuellen, die Berufsunfähigkeit begründenden Zustands nicht
absehbar sei. Zu Unrecht stütze sich der Kläger für seine Ansicht auf ei-
-5-
nen Umkehrschluss aus der in § 2 Abs. 3 BUZ enthaltenen Fiktion, wonach die Fortdauer eines Zustandes im Sinne des § 2 Abs. 1 BUZ über
einen Zeitraum von sechs Monaten als (vollständige oder teilweise) Berufsunfähigkeit gelte. Die Fiktion des § 2 Abs. 3 BUZ mache im Gegenteil
deutlich, dass "an sich" auch nach sechsmonatiger Berufsunfähigkeit
grundsätzlich noch nicht von ihrer Dauerhaftigkeit ausgegangen werden
könne.
8
Der Sachverständige habe in seinem Gutachten vom 22. November 2003 und in seiner schriftlichen Stellungnahme zur Nachfrage des
Senats überzeugend dargelegt, dass erstmals nach dem gescheiterten
Arbeitsversuch des Klägers am 27. Juni 2002 davon ausgegangen werden konnte, dieser würde auf absehbare Zeit nicht wieder in seinem Beruf arbeiten können. Zwar ergebe sich aus dem Gutachten, dass dem
Kläger, wäre das Ausmaß seiner Verletzung von Anfang an zutreffend
erkannt worden, zu einem operativen Eingriff geraten worden wäre, dem
dieser sich entgegen seinem früheren Sachvortrag auch unterzogen hätte. Gleichwohl hätte bis zum 27. Juni 2002 sowohl bei Durchführung einer Operation als auch einer konservativen Behandlung die Möglichkeit
einer vollständigen Genesung bestanden. Selbst bei einer Operation im
April 2002 hätte die Heilungschance noch 40% betragen. Ausgehend
vom Stand der Wissenschaft zum jeweiligen Untersuchungszeitpunkt
hätte daher vor Durchführung des Arbeitsversuchs kein Mediziner die
Prognose bedingungsgemäßer Berufsunfähigkeit gestellt.
9
II. Das hält rechtlicher Nachprüfung stand. Das Berufungsgericht
hat die Voraussetzungen einer Berufsunfähigkeit im Sinne des § 2 Abs. 1
-6-
BUZ beim Kläger für die ersten sechs Monate seit dem Unfallereignis im
Ergebnis zutreffend verneint.
10
1. Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats ist für die Feststellung bedingungsgemäßer Berufsunfähigkeit weder allein die zu diesem Zustand führende Krankheit maßgebend noch die mit dem Krankheitsprozess verbundene Unfähigkeit zur Berufsausübung. Damit diese
Beeinträchtigungen zu bedingungsgemäßer Berufsunfähigkeit werden,
muss der körperlich-geistige Gesamtzustand des Versicherten derart beschaffen sein, dass eine günstige Prognose für die Wiederherstellung
der verloren gegangenen Fähigkeiten in einem überschaubaren Zeitraum
nicht gestellt werden kann; es muss demnach ein Zustand erreicht sein,
dessen Besserung zumindest bis zur Wiederherstellung der halben Arbeitskraft nicht mehr zu erwarten ist (Senatsurteile vom 22. Februar 1984
- IVa ZR 63/82 - VersR 1984, 630 unter III; vom 21. März 1990 - IV ZR
39/89 - VersR 1990, 729 unter I 1). Wann erstmals ein solcher Zustand
gegeben war, der nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft keine
Erwartungen mehr auf eine Besserung rechtfertigte, ist danach rückschauend festzustellen bzw. zu ermitteln (Senatsurteile vom 22. Februar
1984 und vom 21. März 1990, jeweils aaO; Senatsurteil vom 27. September 1995 - IV ZR 319/94 - VersR 1995, 1431 unter 2 a). Der hier in
der Rechtsprechung des Senats verwendete Begriff der rückschauenden
Feststellung trägt dem Umstand Rechnung, dass der Versicherungsnehmer den Vollbeweis dafür führen muss, dass und wann die nach § 2
Abs. 1 BUZ erforderliche ärztliche Prognose möglich war und er diesen
Beweis regelmäßig nur mit Hilfe eines medizinischen Sachverständigen
führen kann (Senatsurteil vom 14. Juni 1989 - IVa ZR 74/88 - VersR
1989, 903 unter 3 c; vgl. auch Voit/Knappmann in Prölss/Martin, VVG
-7-
VVG 27. Aufl. § 2 BUZ Rdn. 57). Der Sachverständige aber wird auch als
Mediziner des einschlägigen Fachgebietes meist erst in nachträglicher
Auswertung der jeweiligen Krankengeschichte feststellen können, ab
wann bei dem Versicherungsnehmer ein nicht mehr mit Aussicht auf Erfolg therapierbarer Zustand mit Krankheitswert eingetreten war, dies
nicht zuletzt auch deshalb, weil die Medizin in ständiger Fortentwicklung
begriffen ist und neue Heilmethoden gefunden werden (Senatsurteil vom
27. September 1995 aaO unter 2 b). Damit betrifft der Gesichtspunkt der
rückschauenden Feststellung bzw. Ermittlung, der das Berufungsgericht
zur Zulassung der Revision veranlasst hat, nicht die materiellen Voraussetzungen des Anspruchs auf die Versicherungsleistung in der Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung, sondern, wie die Beklagte in ihrer Revisionserwiderung zutreffend hervorgehoben hat, allein die Frage, ob und ab
welchem Zeitpunkt der Versicherungsnehmer das Vorliegen der Voraussetzungen bedingungsgemäßer Berufsunfähigkeit hat nachweisen können.
11
a) Das Berufungsgericht hat daher den Ausführungen des Sachverständigen zutreffend die nach der Senatsrechtsprechung erforderliche
rückschauende Feststellung entnommen, wonach beim Kläger erstmals
nach dem gescheiterten Versuch der Arbeitsaufnahme am 27. Juni 2002
von einem Zustand ausgegangen werden konnte, der eine Wiederherstellung seiner Arbeitskraft zu mindestens 50% in absehbarer Zeit nicht
mehr erwarten ließ. Denn in dem davor liegenden Zeitraum seit dem Unfallereignis bestand nach Einschätzung des Sachverständigen bei einer
- im Fall der Maisonneuve-Fraktur vorzugswürdigen - operativen Therapie je nach Zeitpunkt der Durchführung eine Heilungschance von 90%
bis 40%; wäre die Verletzung unmittelbar nach dem Unfall erkannt wor-
-8-
den, hätte der Kläger bei komplikationslosem Verlauf einer langfristigen
konservativen Gipsbehandlung nach etwa vier bis fünf Monaten in seinem Beruf wieder arbeiten können. Schon deshalb ist dem Kläger der
Nachweis bedingungsgemäßer Berufsunfähigkeit für den Zeitraum zwischen seinem Unfall und dem gescheiterten Arbeitsversuch misslungen.
Der Rückgriff des Berufungsgerichts auf die Beurteilung des betreffenden Zeitpunktes durch einen gut informierten, sorgfältigen, wohl ausgebildeten Arzt kann in Fällen der vorliegenden Art neben den oben näher
dargelegten Gesichtspunkten keine eigenständige Bedeutung erlangen.
Ebenso unerheblich sind die Einschätzung sowie die Erkenntnisse der
zum damaligen Zeitpunkt behandelnden Ärzte, die durchgeführten Therapien oder der Befund zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung
(vgl. Senatsurteil vom 22. Februar 1984 aaO). Den Eintritt des Versicherungsfalles bestimmt - auch unabhängig vom jeweiligen Kenntnisstand
des Versicherungsnehmers - allein der oben näher dargelegte Zeitpunkt.
Dass die Ausführungen des Sachverständigen dazu dem Stand der medizinischen Wissenschaft im vorliegenden Fall nicht entsprochen haben,
hat der Kläger hier nicht gerügt.
12
b) Der Auffassung des Klägers, bei der nach § 2 Abs. 1 BUZ zu
treffenden Prognoseentscheidung ("voraussichtlich dauernd") sei unter
Berücksichtigung der in § 2 Abs. 3 BUZ enthaltenen Fiktion lediglich darauf abzustellen, ob mit einer Wiedereingliederung in das Arbeitsleben zu
mehr als der Hälfte der Arbeitskraft binnen sechs Monaten zu rechnen
sei, ist das Berufungsgericht zu Recht nicht gefolgt. In den erwähnten
Entscheidungen hat der Senat ausgesprochen, die Voraussetzung "voraussichtlich dauernd" sei jedenfalls dann erfüllt, wenn eine günstige
Prognose für die Wiederherstellung der verloren gegangenen Fähigkei-
-9-
ten in einem überschaubaren Zeitraum bzw. in absehbarer Zeit nicht gestellt werden könne. Eine genaue Eingrenzung dieses Zeitraums kann im
vorliegenden Fall dahinstehen (vgl. dazu OLG Hamm VersR 1995, 84
sowie 1995, 1039). Wie das Berufungsgericht zutreffend ausgeführt hat,
lässt sich der Standpunkt des Klägers weder im Wege der Auslegung
des § 2 Abs. 1 BUZ begründen noch aus Absatz 3 der Klausel herleiten,
der den Versicherungsnehmer auf Dauer vor Nachteilen schützen soll,
die daraus entstehen, dass sich die für § 2 Abs. 1 BUZ erforderliche
Prognose gerade nicht stellen lässt (vgl. dazu Voit/Knappmann, aaO
Rdn. 63 m.w.N.).
- 10 -
13
2. Die Verfahrensrüge hat der Senat geprüft, aber nicht für durchgreifend erachtet.
Seiffert
Dr. Schlichting
Dr. Kessal-Wulf
Wendt
Dr. Franke
Vorinstanzen:
LG Saarbrücken, Entscheidung vom 19.05.2004 - 12 O 133/03 OLG Saarbrücken, Entscheidung vom 26.01.2005 - 5 U 356/04-42- -