Cyberlaywer/build/tfgpu-cyberlaywer/EndDokumente/iv_zr_239-10.pdf.txt
2023-03-06 15:36:57 +01:00

459 lines
No EOL
24 KiB
Text
Raw Blame History

This file contains invisible Unicode characters

This file contains invisible Unicode characters that are indistinguishable to humans but may be processed differently by a computer. If you think that this is intentional, you can safely ignore this warning. Use the Escape button to reveal them.

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
IV ZR 239/10
Verkündet am:
27. Juni 2012
Heinekamp
Justizhauptsekretär
als Urkundsbeamter
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk: ja
BGHZ:
ja
BGHR:
ja
BGB § 2309 Alt. 2
Als "hinterlassen" i.S. des § 2309 Alt. 2 BGB gelten nicht letztwillige oder lebzeitige
Zuwendungen des Erblassers an den näheren, trotz Erb- und Pflichtteilsverzichts
zum gewillkürten Alleinerben bestimmten Abkömmling, wenn dieser und der entferntere Abkömmling demselben, allein bedachten Stamm gesetzlicher Erben angehören.
BGH, Urteil vom 27. Juni 2012 - IV ZR 239/10 - OLG München
LG Augsburg
-2-
Der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat durch die Vorsitzende
Richterin
Mayen,
die
Richter
Wendt,
Felsch,
die
Richterin
Harsdorf-Gebhardt und den Richter Dr. Karczewski auf die mündliche
Verhandlung vom 27. Juni 2012
für Recht erkannt:
Auf die Rechtsmittel der Klägerin wird das Urteil des
27. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München - Zivilsenate in Augsburg - vom 13. Oktober 2010 aufgehoben
und das Endurteil des Landgerichts Augsburg vom
15. Juni 2007 geändert.
Das Teil-Versäumnisurteil des Landgerichts Augsburg
vom 15. März 2006 wird aufrechterhalten, soweit die Beklagte verurteilt worden ist, Auskunft über den Bestand
des Nachlasses des am 20. Februar 2005 verstorbenen
S.
Sch.
zu erteilen durch Vorlage eines
durch einen Notar erstellten Nachlassverzeichnisses, das
auch
ausgleichungspflichtige
Zuwendungen
nach
§§ 2050 ff. BGB enthält, insbesondere ergänzungspflichtige Zuwendungen nach §§ 2325 ff. BGB.
Im Übrigen wird die Sache zur neuen Verhandlung und
Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
-3-
Tatbestand:
1
Die Klägerin macht gegen die Beklagte, ihre Mutter, Pflichtteilsansprüche nach deren am 20. Februar 2005 verstorbenem Vater (Erblasser) in Höhe der Hälfte des Nachlasswertes geltend.
2
Der Erblasser und die Mutter der Beklagten errichteten am
23. November 1987 ein gemeinschaftliches Testament in notarieller
Form, mit dem sie sich gegenseitig zum alleinigen und ausschließlichen
Erben einsetzten und in Ziff. III. ihre Enkelkinder zu Schlusserben bestimmten. Dem Überlebenden des Erstversterbenden wurde das Recht
vorbehalten,
"…, über seine Beerbung neue von Ziffer III. dieser Urkunde abweichende Bestimmungen zu treffen; er darf dabei aber letztwillig immer nur solche Personen bedenken,
die zum Kreis unserer gemeinschaftlichen Abkömmlinge
oder deren Abkömmlinge gehören."
3
Am selben Tag verzichtete die Beklagte gegenüber ihren Eltern allein für ihre Person, nicht aber für ihre Abkömmlinge auf das ihr zustehende gesetzliche Erb- und Pflichtteilsrecht.
4
Nach dem Tod seiner Ehefrau setzte der Erblasser mit notariellem
Testament vom 17. Oktober 2000 die Beklagte zu seiner alleinigen und
ausschließlichen Erbin ein und bestimmte die Klägerin zur Ersatzerbin.
Die Parteien sind die einzigen Abkömmlinge des Erblassers und seiner
vorverstorbenen Ehefrau.
5
Mit der Klage verlangt die Klägerin von der Beklagten Zahlung in
Höhe von 85.000 € nebst Zinsen sowie Auskunft über den Bestand des
-4-
Nachlasses und Einholung eines Wertermittlungsgutachtens bezüglich
dem Nachlass zugehörigen Grundvermögens. Die Parteien streiten darüber, ob § 2309 BGB einer Pflichtteilsberechtigung der Klägerin entgegensteht.
6
Die Klage hatte in den Vorinstanzen keinen Erfolg. Mit der Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter.
Entscheidungsgründe:
7
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des Ber ufungsurteils und zur teilweisen Aufrechterhaltung des Teil-Versäumnisurteils des Landgerichts Augsburg vom 15. März 2006, im Übrigen zur
Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
8
I. Dieses hat im Wesentlichen ausgeführt:
9
Die Klägerin sei infolge des Erb- und Pflichtteilsrechtsverzichts der
Beklagten an deren Stelle zur gesetzlichen Erbin berufen gewesen und
von dem Erblasser wirksam enterbt worden. Den deswegen ihr an sich
gemäß § 2303 BGB zustehenden Pflichtteilsanspruch habe sie nach
§ 2309 Alt. 2 BGB verloren. Der darin geregelte Ausschluss des entfernteren Abkömmlings "im Falle der gesetzlichen Erbfolge" beziehe sich
nicht auf die konkrete Situation, sondern auf die abstrakte Erbenstellung
des näheren Abkömmlings, hier der Beklagten, die gemäß § 1924 Abs. 2
BGB die Klägerin grundsätzlich von der gesetzlichen Erbfolge verdränge.
-5-
Infolge der Annahme der Erbschaft durch die Beklagte sei die "Vorversterbensfiktion" des § 2346 Abs. 1 BGB gegenstandslos geworden.
10
II. Das hält der rechtlichen Nachprüfung im wesentlichen Punkt
nicht stand. Das Berufungsgericht hat versäumt, den Anwendungsbereich des § 2309 Alt. 2 BGB nach einer an Sinn und Zweck der Regelung
gemessenen Auslegung zu bestimmen. Dadurch hat es zu Unrecht in der
Annahme des testamentarisch zugewendeten Erbes eine auf den Pflichtteilsanspruch anzurechnende Entgegennahme des der Beklagten "Hinterlassenen" im Sinne dieser Vorschrift gesehen.
11
1. Nach dem auf das Pflichtteilsrecht zu übertragenden Prinzip der
Erbfolge nach Klassen und Stämmen i.S. der §§ 1924 ff. BGB ist die
Klägerin pflichtteilsberechtigt gemäß § 2303 Abs. 1 Satz 1 BGB. Zwar ist
die Beklagte der nähere und als solcher nach § 1924 Abs. 2 BGB grundsätzlich vorrangige Abkömmling des Erblassers. Jedoch gilt sie infolge
ihres Erb- und Pflichtteilsverzichts gemäß § 2346 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 BGB als vorverstorben, so dass ihre Tochter, die Klägerin, an ihrer Stelle in die gesetzliche Erb- und Pflichtteilsfolge eingerückt ist (vgl.
Erman/Schlüter, BGB 13. Aufl. § 2309 Rn. 1; Heisel in HK-PflichtteilsR
§ 2309 Rn. 1; Planck/Greiff, BGB Bd. V. 4. Aufl. § 2309 Anm. I 1, II 1;
Kipp/Coing, Erbrecht 14. Bearb. § 9 Ziff. I 1 d; Muscheler, Erbrecht Bd. I
Rn. 2386, Bd. II Rn. 4101, 4103; Kroppenberg, JZ 2011, 1177, 1178).
Diese Position als gesetzliche Erbin ihres Großvaters wurde der Klägerin
durch dessen Testament vom 17. Oktober 2000 entzogen. Der Erblasser
war durch den Erbverzicht nicht daran gehindert, die Beklagte als Erbin
einzusetzen (vgl. Senatsurteil vom 13. April 2011 - IV ZR 204/09, BGHZ
189, 171 Rn. 13-15; BGH, Beschluss vom 13. Juli 1959 - V ZB 4/59,
-6-
BGHZ 30, 261, 267; Heisel in HK-PflichtteilsR aaO Rn. 23; MünchKommBGB/Frank, 3. Aufl. § 2309 Rn. 14; MünchKomm-BGB/Lange, 5. Aufl.
§ 2309 Rn. 16; Planck/Greiff aaO Anm. II 1; Staudinger/Haas, BGB
Stand 2006 § 2309 Rn. 26; Muscheler aaO Bd. I Rn. 2418). Dadurch ist
der Klägerin ein originäres Pflichtteilsrecht erwachsen.
12
2. Dieses Pflichtteilsrecht kann gemäß § 2309 BGB wieder ausgeschlossen sein. Danach sind entferntere Abkömmlinge und die Eltern des
Erblassers insoweit nicht pflichtteilsberechtigt, als ein Abkömmling, der
sie im Falle der gesetzlichen Erbfolge ausschließen würde, den Pflichtteil
verlangen kann oder das ihm Hinterlassene annimmt.
13
a) Zutreffend ist das Berufungsgericht allerdings davon ausgegangen, dass die Fiktion des § 2346 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 BGB dem Vorrang des näheren Abkömmlings im Rahmen der von § 2309 BGB geforderten fiktiven gesetzlichen Erbfolge nicht entgegensteht (vgl. RGZ 93,
193, 194 f.; Heisel in HK-PflichtteilsR aaO Rn. 1, 7; Muscheler aaO Bd. I
Rn. 2400 ff., Bd. II Rn. 4103; a.A. MünchKomm-BGB/Frank aaO; Planck/
Greiff aaO Anm. I 1, II 1; Strohal, Das deutsche Erbrecht Bd. 1 3. Aufl.
§ 50 III 1 Fn. 7). Mit dem Verweis auf die "gesetzliche Erbfolge" legt das
Gesetz den Kreis der Personen fest, deren Pflichtteilsrechte die Berechtigung des entfernteren Abkömmlings ausschließen oder einschränken
können (vgl. Kramm, Entstehung und Beseitigung der Rechtswirkungen
eines Erbverzichts S. 58). Die Rangfolge der hypothetischen gesetzlichen Erben bestimmt sich nicht nach den konkreten Umständen im jeweiligen
Erbfall,
sondern
- abstrakt -
nach
den
Regelungen
der
§§ 1924 ff. BGB (vgl. Senatsurteil aaO Rn. 36; RGZ aaO 195; Staudinger/Ferid/Cieslar, BGB 12. Aufl. § 2309 Rn. 10 f.). Dies folgt aus dem insoweit im Konjunktiv gefassten Wortlaut der Norm ("ausschließen wür-
-7-
de"). Zudem begründet allein § 2303 BGB das - selbständige, nicht von
dem vorrangigen Erben abgeleitete - Pflichtteilsrecht des entfernteren
Abkömmlings als Ausgleich für ein ihm "gewissermaßen [geschehenes]
Unrecht" (Motive V 388, 426; Protokolle V 606; RGZ aaO; Planck/Greiff
aaO Anm. I; Lange/Kuchinke, Erbrecht 5. Aufl. § 37 IV 2. b); Ebbecke,
LZ 1919, 505/506, 508, 509, 510 f.; Kroppenberg aaO; vgl. Muscheler
aaO Bd. I Rn. 2390, Bd. II Rn. 4098). § 2309 BGB enthält hingegen einen Beschränkungstatbestand, dessen Anwendbarkeit das Ausscheiden
des näheren Berechtigten aus der gesetzlichen Erbfolge un d das Nachrücken des entfernteren mit der Folge des § 2303 Abs. 1 Satz 1 BGB voraussetzt (Senatsurteil aaO Rn. 35 m.w.N.; OLG Köln FamRZ 2000, 194,
195; Erman/Schlüter, BGB 13. Aufl. § 2309 Rn. 1; Heisel in HKPflichtteilsR aaO Rn. 1; MünchKomm-BGB/Lange, 5. Aufl. § 2309 Rn. 2;
Planck/Greiff aaO; Staudinger/Ferid/Cieslar aaO Rn. 3; Bestelmeyer,
FamRZ 1997, 1124, 1125; v. Jacubezky, Das Recht 1906, 281; Kroppenberg aaO; Mayer, ZEV 1998, 433 f.). Käme es für die "gesetzliche Erbfolge" i.S. des § 2309 BGB auf ihre Ausgestaltung im Einzelfall an, wäre
die Norm ihres Anwendungsbereichs im Wesentlichen beraubt.
14
b) Aus der Entstehungsgeschichte der Vorschriften zum Pflichtteil
und zum Erbverzicht folgt nichts Gegenteiliges. Die 2. Kommission hat
die im 1. Entwurf des Bürgerlichen Gesetzbuchs in § 2023 geregelten
Pflichten zur Ausgleichung und Anrechnung von für den Verzicht gewährten Gegenleistungen nach Stämmen gestrichen, ohne hierdurch im Rahmen des § 1983 BGB-E (§ 2309 BGB) jegliche Beeinflussung des Pflichtteils durch Zuwendungen aus Anlass eines Erbverzichts auszuschließen
(vgl. Motive V 402; Protokolle V 512, 608).
-8-
15
§ 1983 BGB-E lautete:
"Ist für einen Abkömmling des Erblassers der Pflichttheil sanspruch begründet oder in Folge einer Zuwendung ausgeschlossen, so steht den Abkömmlingen dieses Abkömmlinges sowie den Eltern des Erblassers ein Pflichttheilsrecht nicht zu."
16
Anlass für diese Regelung waren die Vorversterbensfiktion des
§ 1972 BGB-E, der zufolge der gesetzliche Erbe hinsichtlich der gesetzlichen Erbfolge unter anderem bei Ausschluss von der Erbschaft durch
Erbverzicht als vor dem Erblasser gestorben anzusehen sein sollte (für
den Erbverzicht § 2346 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 BGB), sowie die Vererb- und Übertragbarkeit des Pflichtteilsanspruchs nach § 1992 Abs. 2
BGB-E (§ 2317 Abs. 2 BGB). Im Hinblick auf letztere sollte verhindert
werden, dass "demselben Stamme … zweimal ein Pflichttheil gewährt"
und "die auf dem Nachlasse ruhende Last, entgegen dem Zwecke des
Pflichttheilsinstitutes, vervielfacht" wird (Motive V 401, 402; vgl. Senatsurteil aaO m.w.N.; RGZ aaO 196; MünchKomm-BGB/Lange aaO Rn. 1;
Staudinger/Ferid/Cieslar aaO Rn. 4; Kipp/Coing, Erbrecht 14. Bearb. § 9
Ziff. I 1 d; Bestelmeyer aaO 1124 f.; Kramm aaO S. 56 f., 58 f.; Kroppenberg aaO; Maenner, Das Recht 1920, 134, 135; Mayer aaO). § 1983
BGB-E verneinte übereinstimmend für alle in § 1972 BGB-E genannten
Gründe eines Ausscheidens des näheren Berechtigten ein Pflichtteilsrecht des nachrückenden Abkömmlings, falls der ausgeschiedene gesetzliche Erbe "wegen seines gesetzlichen Erbrechtes befriedigt ist, sei
es durch den ihm erworbenen Pflichttheilsanspruch, sei es durch die ihm
zum Zwecke seiner Befriedigung wegen des Pflichttheiles gemachten
Zuwendungen" (Motive V 402; Protokolle V 512). Im weiteren Beratungsverlauf wurde § 2023 BGB-E unter bewusster Durchbrechung des
Grundsatzes der Eigenständigkeit der Pflichtteilsrechte der Abkömmlinge
-9-
durch § 2214 BGB-E (§ 2349 BGB) ersetzt; die die gesetzliche Erbfolge
unmittelbar betreffenden Auswirkungen eines Erbverzichts wurden, unabhängig von etwaigen Zuwendungen des Erblassers und vorbehaltlich
anderweitiger Regelungen im Verzichtsvertrag, wegen der "Bedürfnisse
des Lebens" auf die Abkömmlinge des Verzichtenden erstreckt (Protokolle V 607). Ihnen sprach § 1983 BGB-E ungeachtet des Grundes ihres
Einrückens in die gesetzliche Erbenstellung ein Pflichtteilsrecht unverändert ab, falls der ausgeschiedene nähere Erbe "wegen seines Pflichttheilsrechts in dem Pflichttheilsanspruch oder in den ihm gemachten Zuwendungen seine Befriedigung erhalten hat" (Protokolle V 512; vgl. Protokolle V 606).
17
Mit dem überarbeiteten Wortlaut des § 2309 BGB ist der Gesetzgeber auch für den Fall des verzichtsbedingten Aufrückens eines entfernteren Abkömmlings in die gesetzliche Erb- und Pflichtteilsfolge nicht
von dem Prinzip abgekehrt, Doppelbegünstigungen des Stammes des
ausgeschiedenen, nach §§ 1924 Abs. 2, 1930 BGB grundsätzlich vorrangigen Berechtigten sowie Vervielfältigungen der auf dem Nachlass liegenden Pflichtteilslast auszuschließen. Für die Abkömmlinge des Erblassers bedeutet dies, dass "demselben Stamm nicht zwei Pflichtteile, aber
auch nicht [ein] Pflichtteil neben einer Zuwendung" gewährt werden dürfen bzw. darf (Erman/Schlüter, BGB 13. Aufl. § 2309 Rn. 1; Kipp/Coing,
Erbrecht 14. Bearb. § 9 Ziff. I. 1. d); vgl. Heisel in HK-PflichtteilsR § 2309
Rn. 1; Planck/Greiff, BGB Bd. V 4. Aufl. § 2309 Anm. I. 4.; Kramm, Entstehung und Beseitigung der Rechtswirkungen eines Erbverzichts ; Kroppenberg, JZ 2011, 1177, 1178; Muscheler, Erbrecht Bd. II Rn. 4102).
18
3. Vor diesem Hintergrund hat das Berufungsgericht zu Unrecht
einen Ausschluss der Pflichtteilsberechtigung der Klägerin angenommen.
- 10 -
Aufgrund des verzichtsbedingten Wegfalls des Pflichtteilsrechts der Beklagten ist § 2309 Alt. 1 BGB nicht einschlägig (vgl. Heisel in HKPflichtteilsR aaO Rn. 17; Staudinger/Ferid/Cieslar, BGB 12. Aufl. § 2309
Rn. 51; Muscheler aaO Bd. II Rn. 4103; a.A. Staudinger/Haas, BGB
Stand 2006 § 2309 Rn. 20 f.). Die Voraussetzungen des § 2309 Alt. 2
BGB sind ebenfalls nicht erfüllt. Unzutreffend hat das Berufungsgericht
die der Beklagten durch Verfügung von Todes wegen zugewandte Erbschaft als "Hinterlassenes" angesehen.
19
a) Der Begriff des "Hinterlassenen" i.S. des § 2309 Alt. 2 BGB ist
in Rechtsprechung und Literatur noch nicht abschließend geklärt. Nach
allgemeiner Ansicht können letztwillige Zuwendungen des Erblassers an
den näheren Abkömmling als "hinterlassen" gelten. Dies wird überwiegend auch für den Fall bejaht, dass der nähere Abkömmling auf sein g esetzliches Erb- und Pflichtteilsrecht verzichtet (Staudinger/Ferid/Cieslar
aaO Rn. 20, 51; Heisel in HK-PflichtteilsR aaO Rn. 23; MünchKommBGB/Lange, 5. Aufl. § 2309 Rn. 15-17; MünchKomm-BGB/Frank, 3. Aufl.
§ 2309 Rn. 12 i.V.m. Rn. 14, wonach aber für den Erbverzicht des näheren Abkömmlings eine Ausnahme gelten soll; ebenso Planck/Greiff aaO
Anm. II 1, III 1 b-e und Staudinger/Haas aaO Rn. 22 a.E.; Muscheler aaO
Bd. II Rn. 4103; Ebbecke, LZ 1919, 505, 513; Mayer, ZEV 1998, 433,
434; einschränkend Muscheler aaO Bd. I Rn. 2404 f.; vgl. Soergel/Dieckmann, 13. Aufl. § 2309 Rn. 9, 23). Wegen des allgemeinen Gesetzeswortlauts sei eine einengende Auslegung auf das zur Befriedigung oder
Abwendung eines sonst bestehenden Pflichtteilsanspruches letztwillig
Zugewendete ebenso abzulehnen wie eine Differenzierung nach den
verschiedenen Gründen, aus denen der nähere Abkömmling weggefallen
ist. Eine einengende Auslegung könne zudem nicht mit dem § 2309 BGB
beherrschenden Grundsatz vereinbart werden, dass ein Stamm lediglich
- 11 -
einen Pflichtteil und diesen nicht neben einer Zuwendung erhalten solle
(Staudinger/Ferid/Cieslar aaO Rn. 20; differenzierend: Maenner, Das
Recht 1920, 134, 137 f.; ebenso wohl auch Soergel/Dieckmann aaO
Rn. 23). Die herrschende Meinung befürwortet darüber hinaus eine Ausdehnung dieses Verständnisses auf lebzeitige Zuwendungen - etwa in
Form von Abfindungen für den Verzicht (OLG Celle NJW 1999, 1874;
Heisel in HK-PflichtteilsR aaO Rn. 24 f.; Mayer aaO; Muscheler aaO Bd.
II Rn. 4103; Staudinger/Ferid/Cieslar aaO Rn. 21; Staudinger/Haas aaO
Rn. 23).
20
b) Dieser Meinungsstreit bedarf jedoch keiner abschließenden Kl ärung. Mit der hier in Rede stehenden besonderen Konstellation setzen
sich die vorstehend wiedergegebenen Auffassungen nicht auseinander.
Der Erblasser hat den gemäß § 2346 Abs. 1 Satz 2 BGB - beschränkt auf
seine Person - aus der gesetzlichen Erb- und Pflichtteilsfolge ausgeschiedenen näheren Abkömmling durch Verfügung von Todes wegen
zum gewillkürten Alleinerben bestimmt. Dieser gehört gemeinsam mit
dem in seine gesetzliche Erbenstellung nachgerückten, aufgrund der
Erbeinsetzung mit der Folge des § 2303 BGB enterbten entfernteren Abkömmling dem einzigen Stamm gesetzlicher Erben nach dem Erblasser
an. Für diesen Fall einer ausschließlich auf einen Stamm bezogenen
Erbfolge ist § 2309 Alt. 2 BGB einschränkend auszulegen. Danach können - letztwillige oder lebzeitige - Zuwendungen an den näheren Abkömmling nicht als anrechnungspflichtiges "Hinterlassenes" i.S. des
§ 2309 Alt. 2 BGB gelten, weil eine davon nur erfasste Doppelbelastung
des Nachlasses nicht ausgelöst wird.
21
aa) Maßgeblich für die Auslegung ist der in § 2309 Alt. 2 BGB zum
Ausdruck gekommene objektivierte Wille des Gesetzgebers, so wie er
- 12 -
sich aus dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung und dem Sinnzusa mmenhang ergibt. Dem Ziel, dem im Gesetz objektivierten Willen des Gesetzgebers Rechnung zu tragen, dienen die nebeneinander zulässigen,
sich gegenseitig ergänzenden Methoden der Auslegung aus dem Wortlaut der Norm, ihrem Sinnzusammenhang, ihrem Zweck sowie aus den
Gesetzgebungsmaterialien und der Entstehungsgeschichte (Senatsurteile vom 7. Dezember 2011 - IV ZR 50/11, VersR 2012, 219 und IV ZR
105/11, VersR 2012, 304, jeweils Rn. 14 m.w.N.).
22
bb) Der Wortlaut des § 2309 Alt. 2 BGB ist nicht eindeutig. Aufschluss geben aber Sinn und Zweck der Norm sowie die Dokumentation
des Gesetzgebungsverfahrens (siehe vorstehend Ziff. II. 2.). Danach soll
§ 2309 BGB den eigenständigen und vererbbaren Anspruch der Abkömmlinge, Eltern und Ehegatten des Erblassers auf den Pflichtteil, der
gemäß § 2303 BGB an die Stelle ihres mit Verfügung von Todes wegen
entzogenen gesetzlichen Erbrechts tritt, beschränken, um zu vermeiden,
dass demselben Stamm zweimal ein Pflichtteilsrecht gewährt und die auf
dem Nachlass ruhende Pflichtteilslast erhöht wird.
23
(1) Die Erbfolge nach dem Vater bzw. Großvater der Parteien wird
von diesem Normzweck nicht erfasst. Gehören der trotz Erb- und Pflichtteilsverzichts zum gewillkürten Alleinerben bestimmte nähere Abkömmling und der entferntere Pflichtteilsberechtigte dem einzigen Stamm gesetzlicher Erben an, berühren die Zuwendungen des Erblassers an den
näheren Berechtigten einschließlich der Erbeinsetzung lediglich ihr auf
diesen Stamm beschränktes Innenverhältnis. Bleiben solche Zuwendungen bei der Geltendmachung von Pflichtteilsansprüchen unberücksichtigt, droht dem Nachlass keine unbillige Vervielfältigung der Pflichtteils-
- 13 -
last. Es besteht keine Gefahr, dass der Stamm zum Nachteil weiterer Beteiligter einen höheren Pflichtteil erhalten könnte.
24
(2) Schuldner der Pflichtteilsansprüche des entfernteren Berechtigten ist der nähere Abkömmling als gewillkürter Erbe. Er profitiert von der
Entlastung des Nachlasses durch § 2309 BGB. Darüber hinaus ist er
Empfänger derjenigen den Nachlass mindernden Leistungen des Erblassers, deren Zuordnung zu § 2309 Alt. 2 BGB in Frage steht. Wäre eine
solche Zuordnung zu bejahen und könnte der gewillkürte Erbe dem seinem Stamm angehörenden entfernteren Abkömmling dies mit pflichtteilsreduzierender Wirkung entgegenhalten, verringerte sich die auf dem
Nachlass ruhende Pflichtteilslast allein zu seinen Gunsten; er wäre insoweit, ohne dass der Normzweck dies erforderte, mehrfach begünstigt.
25
(3) Die Testierfreiheit des Erblassers gebietet keine abweichende
Beurteilung. Sie ist ein wesentliches Element der von Art. 14 Abs. 1
Satz 1 GG als Individualgrundrecht und als Rechtsinstitut verfassungsrechtlich geschützten Erbrechtsgarantie (BVerfGE 67, 329, 340 f.; 91,
346, 358). Ihr Inhalt und ihre Schranken werden gesetzlich bestimmt.
Durch das Pflichtteilsrecht, das dem aufgrund Verfügung von Todes wegen von der Erbfolge ausgeschlossenen Abkömmling, Elternteil oder
Ehegatten des Erblassers eine Mindestbeteiligung am Nachlass gewähren soll, wird sie in verfassungskonformer Weise beschränkt (vgl.
BVerfGE aaO 341 bzw. 359 f.; Muscheler, Erbrecht Bd. II Rn. 3022; ähnlich Schlitt in Schlitt/Müller, Handbuch Pflichtteilsrecht § 1 Rn. 2, 5).
Auch wenn der auf die Person des näheren Abkömmlings bezogene Erbund Pflichtteilsverzicht den Erblasser in die Lage versetzen soll, über
seinen Nachlass frei und durch das Pflichtteilsrecht des Verzichtenden
ungehindert zu verfügen (vgl. Ebbecke, LZ 1919, 505, 510), ist diese
- 14 -
Freiheit unter den vorstehend genannten Voraussetzungen durch den
originär dem entfernteren Abkömmling entstandenen Pflichtteilsanspruch
wiederum eingeschränkt.
26
Dies entspricht der in §§ 2349 Halbsatz 2, 2351 BGB zum Ausdruck gebrachten gesetzgeberischen Wertung. Resultiert die Pflichtteilsberechtigung des entfernteren Abkömmlings aus einem Erb- und Pflichtteilsverzicht des näheren, steht sie allenfalls über einen - zweiseitigen Aufhebungsvertrag i.S. der §§ 2351, 2348 BGB zur Disposition des Erblassers und des Verzichtenden. Dabei braucht die Frage nicht entschieden zu werden, ob ein solcher Vertrag der Zustimmung des Berechtigten
bedarf, falls durch den Verzicht zu seinen Gunsten ein Anwartschaftsrecht auf den Pflichtteil entstanden sein sollte (vgl. MünchKomm-BGB/
Frank, 3. Aufl. § 2309 Rn. 14; Planck/Greiff, BGB Bd. V 4. Aufl. § 2309
Anm. II 1; Staudinger/Ferid/Cieslar, BGB 12. Aufl. § 2309 Rn. 51; Muscheler aaO Bd. I Rn. 2405, 2418). Die einseitige testamentarische Verfügung des Erblassers vom 17. Oktober 2000 kann einen Aufhebungsvertrag nicht ersetzen. Ohnehin hat der Erblasser ausdrücklich erklärt, er
wolle "weitere Bestimmungen" - als die Einsetzungen der Beklagten zur
Erbin und der Klägerin zur Ersatzerbin - "nicht treffen". Dies legt nahe,
dass er den Erbverzichtsvertrag vom 23. November 1987 fortbestehen
lassen wollte (vgl. BGH, Beschluss vom 13. Juli 1959 - V ZB 4/59, BGHZ
30, 261, 267).
27
III. Auf die Revision der Klägerin ist das Berufungsurteil somit au fzuheben und die Beklagte in Änderung des landgerichtlichen Endurteils
zur Erteilung von Auskunft zu verurteilen (§§ 562 Abs. 1, 563 Abs. 3
ZPO).
- 15 -
28
IV. Darüber hinaus ist der Rechtsstreit nicht i.S. des § 563 Abs. 3
ZPO zur Endentscheidung reif. Insoweit weist der Senat auf Folgendes
hin:
29
In der Klageschrift hat die Klägerin mit dem Antrag zu Ziff. II. 2. eine Verurteilung der Beklagten zur Ermittlung des Wertes des zum Nachlass gehörenden Grundbesitzes durch Sachverständigengutachten begehrt. Mit dem Teil-Versäumnisurteil vom 15. März 2006 ist die Beklagte
insoweit antragsgemäß verurteilt worden. Gegen das die Klage a bweisende Endurteil des Landgerichts hat die Klägerin Berufung eingelegt,
den Antrag auf Verurteilung der Beklagten zur Einholung eines Wertgu tachtens jedoch weder in der Berufungsbegründung angekündigt noch in
der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht gestellt. Eine auf
den rechtshängigen Wertermittlungsanspruch bezogene prozessuale E rklärung der Klägerin ist nicht entbehrlich. Dieser auf § 2314 Abs. 1
Satz 2 BGB gestützte Anspruch ist von dem Anspruch des Pflichtteilsb erechtigten auf Auskunftserteilung gemäß § 2314 Abs. 1 Satz 1 BGB zu
unterscheiden. Beide Ansprüche haben unterschiedliche Gegenstände.
Die Wertermittlung durch Gutachten stellt kein unselbständiges Mittel zur
- 16 -
Erfüllung des Auskunftsanspruchs dar (Senatsurteil vom 9. November
1983 - IVa ZR 151/82, BGHZ 89, 24, 28). Das Berufungsgericht wird der
Klägerin Gelegenheit geben müssen, eine den Wertermittlungsanspruch
betreffende prozessuale Erklärung abzugeben.
Mayen
Wendt
Harsdorf-Gebhardt
Felsch
Dr. Karczewski
Vorinstanzen:
LG Augsburg, Entscheidung vom 15.06.2007 - 9 O 477/06 OLG München in Augsburg, Entscheidung vom 13.10.2010 - 27 U 419/07 -