Cyberlaywer/build/tfgpu-cyberlaywer/EndDokumente/iii_zr__93-16.pdf.txt
2023-03-06 15:36:57 +01:00

262 lines
No EOL
13 KiB
Text
Raw Blame History

This file contains invisible Unicode characters

This file contains invisible Unicode characters that are indistinguishable to humans but may be processed differently by a computer. If you think that this is intentional, you can safely ignore this warning. Use the Escape button to reveal them.

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
VERSÄUMNISURTEIL
III ZR 93/16
Verkündet am:
23. März 2017
Anker
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
BGB § 675 Abs. 1, § 199 Abs. 1 Nr. 2
Allein der Umstand, dass ein Anleger, dem nach Abschluss der Beratung zum
(formalen) Vollzug der bereits getroffenen Anlageentscheidung kurz der Zeichnungsschein zur Unterschrift vorgelegt wird, den Text des Scheins vor der Unterzeichnung nicht durchliest und deshalb nicht den Widerspruch zwischen der erfolgten Beratung und im Schein enthaltenen Angaben zur Anlage bemerkt, rechtfertigt für sich nicht den Vorwurf grob fahrlässiger Unkenntnis im Sinne des § 199
Abs. 1 Nr. 2 BGB.
BGH, Versäumnisurteil vom 23. März 2017 - III ZR 93/16 - OLG Frankfurt a.M.
LG Darmstadt
ECLI:DE:BGH:2017:230317UIIIZR93.16.0
- 2 -
Der III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
vom 23. März 2017 durch die Richter Seiters und Reiter sowie die Richterinnen
Dr. Liebert, Pohl und Dr. Arend
für Recht erkannt:
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 24. Zivilsenats
des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main mit Sitz in Darmstadt
vom 22. Januar 2016 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben,
als die Klage im Hinblick auf den Vorwurf nicht anlegergerechter
Beratung abgewiesen worden ist.
In diesem Umfang wird die Sache zur neuen Verhandlung und
Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsrechtszugs, an
das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
1
Die Klägerin macht gegen die Beklagte Schadensersatzansprüche wegen Beratungspflichtverletzungen im Zusammenhang mit der Zeichnung von
Genussrechtsbeteiligungen an der inzwischen insolventen I.
mbH
(zuletzt
H.
GmbH) vom 19. August, 17. September und 6. Dezember 2007
geltend.
- 3 -
2
Das Landgericht hat der Klage nach Durchführung einer Beweisaufnahme im Wesentlichen stattgegeben. Hierbei ist der Einzelrichter, soweit für das
Revisionsverfahren von Bedeutung, davon ausgegangen, dass die Beratung
der Klägerin nicht anlegergerecht gewesen sei. Denn diese habe eine sichere
Anlage für ihre Altersvorsorge gewollt. Die für die Beklagte tätige Beraterin K.
habe die Beteiligungen als sicher und risikolos empfohlen, obwohl es sich
um ein spekulatives Anlageprodukt mit bestehendem und sich vorliegend auch
realisiertem Totalverlustrisiko gehandelt habe. Der Anspruch auf Schadensersatz sei nicht verjährt. Soweit sich im kleingedruckten Text der Zeichnungsscheine auch Risikohinweise befänden, stehe fest, dass die Klägerin den Text
bei der Unterzeichnung nicht gelesen und deshalb die Diskrepanz zur erfolgten
Beratung nicht erkannt habe. Das Verhalten der Klägerin sei insoweit allenfalls
als normal fahrlässig einzustufen, sodass die Voraussetzungen des § 199
Abs. 1 Nr. 2 BGB nicht vorlägen.
3
Auf die Berufung der Beklagten hat das Oberlandesgericht die Klage mit
der Begründung abgewiesen, das Unterschreiben der Zeichnungsscheine ohne
vorherige Lektüre des Inhalts sei grob fahrlässig. Hiergegen richtet sich die vom
Senat beschränkt auf den Vorwurf der nicht anlegergerechten Beratung zugelassene Revision der Klägerin.
Entscheidungsgründe
4
Die Revision führt zur teilweisen Aufhebung des angefochtenen Urteils
und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht. Hierbei war
über das Rechtsmittel antragsgemäß durch Versäumnisurteil zu entscheiden.
Das Urteil beruht aber inhaltlich nicht auf der Säumnis der Beklagten, sondern
- 4 -
auf der Berücksichtigung des gesamten Sach- und Streitstands (vgl. nur Senat,
Versäumnisurteil vom 10. November 2016 - III ZR 235/15, WM 2017, 280
Rn. 18 mwN).
I.
5
Das Berufungsgericht hat, soweit für das Revisionsverfahren von Bedeutung, im Wesentlichen ausgeführt:
6
Die erstinstanzlichen Feststellungen zu Grund und Höhe des Anspruchs
könnten dahinstehen, da die Klageforderung jedenfalls verjährt sei. Das Landgericht habe eine grob fahrlässige Unkenntnis der Klägerin von den anspruchsbegründenden Tatsachen im Jahre 2007 verneint, da keine Veranlassung oder
Verpflichtung bestanden habe, die Zeichnungsscheine zu lesen. Diese Auffassung teile das Berufungsgericht nicht. In den Scheinen fänden sich Hinweise
auf die Risiken der Anlage als Unternehmensbeteiligung. Es sei mit Rechtssicherheitsgesichtspunkten unvereinbar, wiederholt Verträge zu unterzeichnen
und später dann deren Verbindlichkeit mit dem Hinweis zu leugnen, die Erklärungen nicht gelesen und mithin bewusst gegen eigene Interessen die Augen
vor deren Inhalt verschlossen zu haben. Die Klägerin hätte die Scheine als Minimalanforderung der Sorgfalt in eigenen Angelegenheiten lesen müssen. Dann
wäre sofort der Widerspruch zum Inhalt der Beratung aufgefallen. Der Klägerin
sei bewusst gewesen, dass sie sich zur Hingabe von Geld gegen Empfang eines Anlageprodukts verpflichtet habe. Die Scheine enthielten insoweit eine
rechtsgeschäftliche Erklärung. Es gebe keinen Grund, die Unterschrift als unverbindlich und rechtsfolgenlos anzusehen. Ihre Willenserklärung müsse sich
die Klägerin vielmehr ähnlich wie bei einer Blankounterschrift zurechnen lassen.
- 5 -
II.
7
Das angefochtene Urteil hält im Umfang der beschränkten Revisionszulassung der rechtlichen Nachprüfung nicht stand.
8
1.
Grobe Fahrlässigkeit setzt einen objektiv schwerwiegenden und subjektiv
nicht entschuldbaren Verstoß gegen die Anforderungen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt voraus. Grob fahrlässige Unkenntnis im Sinne von § 199
Abs. 1 Nr. 2 BGB liegt vor, wenn dem Gläubiger die Kenntnis deshalb fehlt, weil
er ganz naheliegende Überlegungen nicht angestellt oder das nicht beachtet
hat, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen, wie etwa dann,
wenn sich dem Gläubiger die den Anspruch begründenden Umstände förmlich
aufgedrängt haben. Dem Gläubiger muss persönlich ein schwerer Obliegenheitsverstoß in seiner eigenen Angelegenheit der Anspruchsverfolgung, eine
schwere Form von "Verschulden gegen sich selbst" vorgeworfen werden können. Sein Verhalten muss schlechthin "unverständlich" beziehungsweise "unentschuldbar" sein. Hierbei unterliegt die Feststellung, ob die Unkenntnis des
Gläubigers von verjährungsauslösenden Umständen auf grober Fahrlässigkeit
beruht, als Ergebnis tatrichterlicher Würdigung einer Überprüfung durch das
Revisionsgericht dahingehend, ob der Streitstoff umfassend, widerspruchsfrei
und ohne Verstoß gegen Denkgesetze, allgemeine Erfahrungssätze oder Verfahrensvorschriften gewürdigt worden ist, und ob der Tatrichter den Begriff der
groben Fahrlässigkeit verkannt oder bei der Beurteilung des Grads des Verschuldens wesentliche Umstände außer Betracht gelassen hat (vgl. nur Senatsurteile vom 8. Juli 2010 - III ZR 249/09, BGHZ 186, 152 Rn. 27 f und vom
17. März 2016 - III ZR 47/15, WM 2016, 732 Rn. 10 f; jeweils mwN).
- 6 -
9
2.
Die Würdigung des Oberlandesgerichts ist insoweit nicht frei von Rechts-
fehlern.
10
Zwar handelt es sich bei der Zeichnung der Beteiligungen um rechtsverbindliche Willenserklärungen. Dies reicht aber für sich allein nicht aus, um zum
Nachteil des Anlegers automatisch den Vorwurf grober Fahrlässigkeit bei unterlassener Lektüre des kleingedruckten Inhalts der Zeichnungsscheine zu rechtfertigen. Vielmehr darf insoweit der Kontext, in dem es zu den Zeichnungen gekommen ist, nicht ausgeblendet werden.
11
Im Rahmen der von einem Anlageberater geschuldeten anlegergerechten Beratung müssen die persönlichen wirtschaftlichen Verhältnisse des Kunden berücksichtigt und insbesondere das Anlageziel, die Risikobereitschaft und
der Wissensstand des Anlageinteressenten abgeklärt werden. Die empfohlene
Anlage muss unter Berücksichtigung des Anlageziels auf die persönlichen Verhältnisse des Kunden zugeschnitten sein (vgl. nur Senat, Urteil vom 11. Dezember 2014 - III ZR 365/13, WM 2015, 128 Rn. 13 mwN). In Bezug auf das
Anlageobjekt ist der Berater verpflichtet, den Kunden rechtzeitig, richtig und
sorgfältig sowie verständlich und vollständig zu beraten. Insbesondere muss er
den Interessenten über die Eigenschaften und Risiken unterrichten, die für die
Anlageentscheidung wesentliche Bedeutung haben oder haben können (vgl.
nur Senat, Urteil vom 18. Februar 2016 - III ZR 14/15, WM 2016, 504 Rn. 15
mwN). Insoweit besteht bei einem Anleger, der die besonderen Erfahrungen
und Kenntnisse eines Beraters in Anspruch nimmt, die berechtigte Erwartung,
dass er die für seine Entscheidung notwendigen Informationen in dem Gespräch mit dem Berater erhält. Der Anleger darf grundsätzlich auf die Ratschläge, Auskünfte und Mitteilungen, die der Berater ihm in der persönlichen Besprechung unterbreitet, vertrauen. Er muss regelmäßig nicht damit rechnen,
- 7 -
dass er aus dem Text eines Zeichnungsscheins, der ihm nach Abschluss der
Beratung zum (formalen) Vollzug der bereits getroffenen Anlageentscheidung
vorgelegt wird, substantielle Hinweise auf Eigenschaften und Risiken der Kapitalanlage erhält. Erst recht muss er nicht davon ausgehen, dass von ihm zur
Vermeidung des Vorwurfs grober Fahrlässigkeit erwartet wird, den Text durchzulesen, um die erfolgte Beratung auf ihre Richtigkeit zu überprüfen. Die unterlassene Lektüre ist daher in einer solchen Situation für sich allein genommen
nicht schlechthin "unverständlich" oder "unentschuldbar" und begründet deshalb im Allgemeinen kein in subjektiver und objektiver Hinsicht "grobes Verschulden gegen sich selbst". Eine andere Beurteilung kann etwa dann in Betracht kommen, wenn der Berater den Anleger ausdrücklich darauf hinweist, er
solle den Text vor Unterzeichnung durchlesen, und er dem Kunden die hierzu
erforderliche Zeit lässt oder wenn in deutlich hervorgehobenen, ins Auge springenden Warnhinweisen auf etwaige Anlagerisiken hingewiesen wird oder wenn
der Anleger auf dem Zeichnungsschein gesonderte Warnhinweise zusätzlich
unterschreiben muss.
12
Der vom Landgericht aufgrund der Beweisaufnahme festgestellte konkrete Ablauf der Beratung der Klägerin bietet insoweit keine ausreichenden Anhaltspunkte für die Annahme grober Fahrlässigkeit. Hierbei war das Oberlandesgericht im Rahmen des § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO an die von der 1. Instanz
festgestellten Tatsachen gebunden, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründeten und eine erneute Feststellung geboten. Soweit einzelne
Formulierungen im angefochtenen Urteil nahelegen, dass der Einzelrichter die
Beweiswürdigung für zweifelhaft erachtet hat, hätte er die Beweisaufnahme
wiederholen müssen (vgl. nur Senat, Beschluss vom 30. November 2011
- III ZR 165/11 Rn. 5 f, auch zu hier nicht einschlägigen Ausnahmen). Da dies
- 8 -
nicht geschehen ist, musste er von dem Beweisergebnis ausgehen. Insoweit
hat das Landgericht unter anderem festgestellt, dass die Zeugin K.
im An-
schluss an das Beratungsgespräch und die bereits getroffene Anlageentscheidung jeweils den Zeichnungsschein ausgefüllt und ihn der Klägerin dann nur
noch zur Unterschrift vorgelegt hat, wobei keine Hinweise mehr erfolgten und
keine Erörterung inhaltlicher Art mehr stattfand. Ein solcher Ablauf leuchtet
auch unmittelbar ein. Denn da die Zeugin selbst eingeräumt hat, die Klägerin
unzutreffend beraten zu haben, hatte sie keinerlei Interesse daran, dass die
Klägerin zeitlich ausreichend Gelegenheit erhielt, den kleingedruckten Text im
Einzelnen zu lesen. Wird in einer solchen Situation der Schein nur kurz zur Unterschrift und nicht länger zur eingehenden Lektüre vorgelegt, kann im Kontext
der Zeichnungen nicht von grober Fahrlässigkeit gesprochen werden.
13
3.
Da die verjährungsrechtliche Begründung des Berufungsgerichts das
angefochtene Urteil nicht trägt, ist die Entscheidung aufzuheben (§ 562 Abs. 1
ZPO) und die Sache an das Oberlandesgericht zurückzuverweisen (§ 563
Abs. 1 Satz 1 ZPO).
Rechtsbehelfsbelehrung
Gegen dieses Versäumnisurteil steht der säumigen Partei der Einspruch zu. Dieser ist beim
Bundesgerichtshof in Karlsruhe von einem an diesem Gericht zugelassenen Rechtsanwalt binnen einer Notfrist von zwei Wochen ab der Zustellung des Versäumnisurteils durch Einreichung
einer Einspruchsschrift einzulegen.
Die Einspruchsschrift muss das Urteil, gegen das der Einspruch gerichtet wird, bezeichnen und
die Erklärung enthalten, dass und, wenn der Rechtsbehelf nur teilweise eingelegt werden soll,
in welchem Umfang gegen dieses Urteil Einspruch eingelegt werde.
In der Einspruchsschrift sind die Angriffs- und Verteidigungsmittel sowie Rügen, die die Zulässigkeit der Klage betreffen, vorzubringen. Auf Antrag kann der Vorsitzende des erkennenden
Senats die Frist für die Begründung verlängern. Bei Versäumung der Frist für die Begründung
ist damit zu rechnen, dass das nachträgliche Vorbringen nicht mehr zugelassen wird.
- 9 -
Im Einzelnen wird auf die Verfahrensvorschriften in § 78, § 296 Abs. 1, 3, 4, § 338, § 339 und
§ 340 ZPO verwiesen.
Seiters
Reiter
Pohl
Liebert
Arend
Vorinstanzen:
LG Darmstadt, Entscheidung vom 03.06.2014 - 13 O 324/13 OLG Frankfurt in Darmstadt, Entscheidung vom 22.01.2016 - 24 U 156/14 -