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BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
AnwZ (B) 80/09
AnwZ (B) 112/09
vom 8. Februar 2010
in dem Verfahren
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
BRAO § 68 Abs. 2
BRAO § 90 Abs. 1 a.F. (heute: § 112f BRAO n.F.)
a) Nach § 68 Abs. 2 Satz 1 BRAO sind Teilneuwahlen des Vorstands einer Rechtsanwaltskammer nur alle zwei Jahre durchzuführen. Ein anderer Turnus ist unzulässig.
b) Eine Wahl ist nur bei einem Wahlfehler für ungültig zu erklären, der auf das Wahlergebnis
von Einfluss ist oder konkret und nicht nur theoretisch von Einfluss sein kann. Das ist bei
einem Verstoß gegen § 68 Abs. 2 Satz 1 BRAO der Fall.
c) Das Gericht darf trotz eines solchen Fehlers davon absehen, die angefochtene Wahl für
ungültig zu erklären, wenn das dem wahlprüfungsrechtlichen Grundsatz des geringstmöglichen Eingriffs entspricht oder wenn das Interesse am Bestandsschutz des im
Vertrauen auf die Gesetzmäßigkeit der Wahl gewählten Vorstands den festzustellenden
Wahlfehler überwiegt.
BGH, Beschluss vom 8. Februar 2010 - AnwZ (B) 80/09
- AnwZ (B) 112/09 - AGH Hamburg
wegen Anfechtung der Vorstandswahl 2007 der Antragsgegnerin
-2-
Der Senat für Anwaltssachen des Bundesgerichtshofs hat durch den Präsidenten des Bundesgerichtshofs Prof. Dr. Tolksdorf, den Richter Dr. SchmidtRäntsch, die Richterin Lohmann und die Rechtsanwälte Dr. Wüllrich und
Dr. Braeuer nach mündlicher Verhandlung
am 8. Februar 2010
beschlossen:
Der Senat beabsichtigt, die sofortigen Beschwerden der Antragsgegnerin und des Beigeladenen zu 8 gegen die Beschlüsse des
II. Senats des Anwaltsgerichtshofs in der Freien und Hansestadt
Hamburg vom 24. Juni 2009 und vom 3. August 2009 zurückzuweisen.
Termin zur Fortsetzung der mündlichen Verhandlung wird von
Amts wegen bestimmt werden (voraussichtlich Juli 2010).
Gründe:
I.
1
Die Antragsteller sind im Bezirk der Antragsgegnerin als Rechtsanwälte
zugelassen. Sie fechten im Wege der Wahlanfechtung die Neuwahl von neun
Mitgliedern des aus 23 Mitgliedern bestehenden Vorstands der Antragsgegnerin
in der Kammerversammlung am 22. Mai 2007 (fortan Vorstandswahl 2007) an.
An dieser Versammlung nahmen 311 Kammermitglieder der insgesamt etwa
9.000 Rechtsanwälte teil, die der Antragsgegnerin angehören. Vor der Wahl
-3-
lehnte die Mehrheit der anwesenden stimmberechtigten Kammermitglieder den
Antrag eines Kammermitglieds auf Absetzung der Wahl wegen Verstoßes gegen § 68 BRAO ab. Bei der daran anschließenden Wahl wurden neun Vorstandssitze wegen Ablaufs der Wahlperiode neu besetzt. Dafür standen
13 Kandidaten zur Wahl, wobei im Wege der Blockwahl durch Abgabe von
höchstens neun Stimmen auf einem Stimmzettel verfahren wurde. Gewählt
wurden die Beigeladenen. Die Neuwahl von nur neun Vorstandsmitgliedern
geht auf ein von der Antragsgegnerin seit 1953 praktiziertes Verfahren zurück,
wonach nicht alle zwei Jahre zwölf bzw. elf Mitglieder ihres Vorstands neu gewählt werden, sondern jeweils im ersten Jahr zwei, in zweiten Jahr neun, im
dritten Jahr sechs und im vierten Jahr sechs Mitglieder. Dieses Verfahren steht
nach Ansicht der Antragsteller im Widerspruch zu § 68 Abs. 2 BRAO. Die Antragsgegnerin hält ihr Verfahren für zulässig und meint, sie habe jedenfalls keine Möglichkeit, auf einen zweijährigen Turnus umzustellen.
2
Mit den angegriffenen Beschlüssen hat der Anwaltsgerichtshof, soweit
hier von Interesse, die Vorstandswahl 2007 der Antragsgegnerin für ungültig
erklärt (BRAK-Mitt. 2009, 185). Dagegen wenden sich die Antragsgegnerin und
der Beigeladene zu 8 mit ihren von dem Anwaltsgerichtshof zugelassenen sofortigen Beschwerden.
II.
3
Die gemäß § 215 Abs. 3 BRAO i.V.m. §§ 91 Abs. 6, 42 Abs. 4 BRAO
a.F. (vgl. Feuerich/Weyland, BRAO, 7. Aufl., § 91 Rdn. 11 a.E.) und entsprechend § 66 VwGO zulässigen Rechtsmittel der Antragsgegnerin und des Beigeladenen können keinen Erfolg haben, soweit sie geltend machen, das praktizierte Wahlverfahren stehe mit § 68 Abs. 2 BRAO in Einklang. Der Antragsgeg-
-4-
nerin ist aber im Interesse eines geringstmöglichen Eingriffs in das Wahlgeschehen Gelegenheit zu geben, die fehlerhaften jährlichen Teilneuwahlen ihres
Vorstands im Wege der Selbstkorrektur auf den gesetzlich vorgesehenen Turnus von zwei Jahren umzustellen.
4
1. Das von der Antragsgegnerin praktizierte Wahlverfahren ist mit § 68
Abs. 2 Satz 1 BRAO nicht zu vereinbaren und unzulässig.
5
a) Die Mitglieder des Vorstands einer Rechtsanwaltskammer werden
nach § 68 Abs. 1 Satz 1 BRAO auf vier Jahre gewählt. Nach § 68 Abs. 2 Satz 1
BRAO scheidet alle zwei Jahre die Hälfte der Mitglieder aus, bei ungerader
Zahl, wie im Fall der Antragsgegnerin, beim ersten Mal die größere Zahl. Diese
gesetzliche Vorgabe lässt das von der Antragsgegnerin praktizierte Verfahren
schon dem Wortlaut nach nicht zu. Nach diesem Verfahren sind zwar nach Ablauf von zwei Jahren im rechnerischen Ergebnis elf bzw. zwölf Mitglieder des
Vorstands neu gewählt worden. Einen solchen, wie es die Antragsgegnerin
nennt, behutsamen Wechsel sieht das Gesetz aber gerade nicht vor. Es lässt
mit der Formulierung "alle zwei Jahre" keinen gewissermaßen laufenden Austausch zu, sondern verlangt einen Zwei-Jahres-Turnus. Das wird schon bei einer reinen Wortlautauslegung im zweiten Halbsatz der Vorschrift deutlich, der
sich mit dem Fall einer ungeraden Zahl von Vorstandsmitgliedern befasst und
bestimmt, dass "beim ersten Mal" die größere Zahl neu zu wählen ist. Diese
Regelung setzt - entgegen der von der Antragsgegnerin und von Professor
Henssler in einem dem Senat vorgelegten Gutachten (ebenso unter Hinweis auf
dieses Verfahren jetzt auch Hartung in Henssler/Prütting, BRAO, 3. Aufl., § 68
Rdn. 13 ff.) vertretenen Auffassung - zwingend ein Ausscheiden der Hälfte der
Mitglieder in einem Zuge voraus (so [noch] Hartung in Henssler/Prütting, BRAO,
2. Aufl., § 68 Rdn. 4; Feuerich/Weyland, aaO, § 68 Rdn. 4; Lauda in Gaier/Wolf/Göcken, Anwaltliches Berufsrecht, § 68 BRAO Rdn. 5).
-5-
6
b) Das Ergebnis der Wortlautauslegung wird durch eine an Entstehungsgeschichte (unten aa), Zweck (unten bb) und Systematik (unten cc) der Vorschrift ausgerichtete Auslegung bestätigt.
7
aa) § 68 Abs. 2 Satz 1 BRAO geht auf § 44 Abs. 1 Satz 1 der Rechtsanwaltordnung vom 1. Juli 1878 (RGBl. S. 177) zurück (Begründung des Regierungsentwurfs einer BRAO in BT-Drucks. III/120 S. 85 zu § 81). Diese Vorschrift
lautete:
"Die Wahl des Vorstands erfolgt auf vier Jahre, jedoch mit der
Maßgabe, daß alle zwei Jahre die Hälfte der Mitglieder, bei ungerader Zahl zum ersten Male die größere Zahl ausscheidet."
8
Eine in der Struktur ähnliche Regelung hatte schon § 13 Abs. 1 des ersten Entwurfs einer Deutschen Rechtsanwaltsordnung von 1872 (abgedruckt bei
Schubert, Entstehung und Quellen der Rechtsanwaltsordnung von 1878 [1985],
S. 77 ff.) vorgesehen. Nach ihr sollten allerdings jährlich wechselnd vier oder
fünf von neun Vorstandsmitgliedern ausscheiden. Der Vorschlag setzte sich
nicht durch. Der von dem Reichsjustizamt vorgelegte Entwurf einer Rechtsanwaltsordnung vom 24. Oktober 1877 (Drucksache des Bundesrats Nr. 100, abgedruckt bei Schubert, aaO, S. 161) sah in § 40 Abs. 1 eine feste Amtszeit der
Vorstandsmitglieder von zwei Jahren vor. In den Beratungen im Bundesrat haben sich die Länder mit der Reichsregierung - in Anlehnung an § 13 des Entwurfs von 1872 - auf eine Amtszeit von vier Jahren mit einem Ausscheiden der
Hälfte des Vorstands alle zwei Jahre verständigt. Ziel dieser Änderung war
nach einem Bericht des hanseatischen Gesandten Krüger vom 4./5. Dezember
1877 über die Beratungen im Bundesrat, "ein zu oftmaliges Wählen und das
damit verbundene Parteitreiben zu vermeiden" (abgedruckt bei Schubert, aaO,
S. 182). Der historische Gesetzgeber hat sich damit bewusst gegen ein jährliches Ausscheiden von Teilen des Vorstands und für einen zweijährigen Turnus
-6-
entschieden. Daran knüpft der Bundesgesetzgeber an. "Ein Wechsel nach einer
allzu kurzen Amtszeit", so heißt es in der Entwurfsbegründung der Bundesregierung (BT-Drucks. III/120 S. 85 zu § 81), "soll vermieden werden, weil darunter die Führung der Geschäfte leiden könnte. Ebenso könnte die Arbeit des
Vorstands erheblich gestört oder gar unterbrochen werden, wenn am Ende der
Wahlperiode alle Mitglieder des Vorstands gleichzeitig ausscheiden würden."
Der Bundesgesetzgeber versprach sich allerdings von einer Teilneuwahl des
Vorstands alle zwei Jahre neben der nicht zu häufig unterbrochenen Kontinuität
der Vorstandsarbeit auch eine bessere Legitimierung der Vorstandsmitglieder.
Das ändert aber an seiner Entscheidung für einen Turnus von zwei Jahren
nichts.
9
bb) Gegen die Auffassung der Antragsgegnerin spricht auch der Zweck
der Vorschrift. Sie soll mehreren, in gewissem Umfang auch divergierenden
Zielen gerecht werden. Einerseits soll die Vorstandsarbeit nicht durch allzu häufige Neuwahlen gestört werden. Andererseits soll die Amtszeit des gesamten
Vorstands nicht vier Jahre betragen, um dem Anliegen einer besseren Legitimierung durch die Mitglieder der Kammer Rechnung zu tragen. Auch soll ein
abrupter Wechsel nach Ablauf der Amtszeit vermieden werden. Diese Ziele lassen sich nach der Einschätzung des Bundesgesetzgebers sämtlich durch die
Neuwahl der Hälfte des Vorstands, bei ungerader Zahl von Vorstandsmitgliedern zuerst der größeren und dann der kleineren Zahl, in einem zweijährigen
Turnus verwirklichen. Dieses Ergebnis würde zu einem entscheidenden Teil
verfehlt, wenn entgegen der Entscheidung des Gesetzgebers jedes Jahr unterschiedlich große Teile des Vorstands neu gewählt werden. Es mag dahingestellt
bleiben, ob die demokratische Legitimierung dadurch intensiver würde. Verfehlt
würde jedenfalls das dem Gesetzgeber ebenso wichtige, für die Bemessung der
Amtszeit und die Festlegung auf einen Zwei-Jahres-Turnus zudem ausschlaggebende Ziel, eine Störung der Vorstandsarbeit durch allzu häufige Neuwahlen
-7-
des Vorstands zu vermeiden. Der Vorstand soll nach der Entscheidung des Gesetzgebers eben nicht jedes Jahr in kleinen Teilen, sondern nur alle zwei Jahre,
dann aber je zur Hälfte neu gewählt werden. Diese Entscheidung ist entgegen
dem Gutachten Henssler eindeutig.
10
cc) Sie hat ihren Ausdruck auch nicht nur in der Beschreibung des Turnus in § 68 Abs. 2 Satz 1 BRAO ("alle zwei Jahre"), sondern auch in den mit ihr
in systematischem Zusammenhang stehenden Regelungen in § 68 Abs. 2
Satz 2 BRAO einerseits und § 69 Abs. 3 Satz 1 BRAO andererseits gefunden.
Nach der ersten Norm werden die zum ersten Male ausscheidenden Mitglieder
des Vorstands durch das Los bestimmt. Mit diesem Losverfahren werden bei
der Erstbestellung des Vorstands diejenigen Mitglieder ermittelt, deren Amtszeit
nicht vier, sondern nur zwei Jahre betragen soll, um in den in Satz 1 der Vorschrift festgelegten Zwei-Jahres-Turnus zu gelangen. Nach der zweiten Norm
wird bei vorzeitigem Ausscheiden eines Vorstandsmitglieds zwar ein Ersatzmitglied gewählt, aber nur für den Rest seiner Amtszeit, um den Zwei-JahresTurnus nicht zu verlassen.
11
c) Für dieses Verständnis des § 68 Abs. 2 BRAO spricht schließlich
auch, dass eine entsprechende Auslegung des § 21b Abs. 4 GVG, der für die
Mitglieder des Gerichtspräsidiums eine nahezu wortgleiche Regelung trifft, allgemeiner Meinung entspricht. Nach § 21b Abs. 4 Satz 1 GVG werden die Mitglieder des Präsidiums auf vier Jahre gewählt. Nach § 21b Abs. 4 Satz 2 GVG
scheidet alle zwei Jahre die Hälfte davon aus. Wie in § 68 Abs. 2 Satz 2 BRAO
vorgesehen, werden die zum ersten Mal ausscheidenden Mitglieder durch das
Los bestimmt, § 21b Abs. 4 Satz 3 GVG. Mit der Regelung verfolgt der Gesetzgeber das gleiche Ziel wie mit § 68 Abs. 2 BRAO. Es soll einerseits die Kontinuität der Arbeit des Präsidiums, anderseits aber auch eine hinreichende demokratische Legitimierung seiner Mitglieder sichergestellt werden (Kis-
-8-
sel/Mayer, GVG, 5. Aufl., § 21b Rdn. 13). Niemand hat bisher in Zweifel gezogen, dass die Regelung einen Zwei-Jahres-Turnus vorgibt und deshalb (nur)
alle zwei Jahre Wahlen zum Präsidium stattzufinden haben (BGHZ 112, 330,
336; OLG Frankfurt am Main DRiZ 2008, 184, 185; Kissel/Mayer, aaO). Ein
Grund, das bei § 68 Abs. 2 BRAO anders zu sehen, ist nicht ersichtlich.
12
d) Die Handhabung der Antragsgegnerin lässt sich nicht mit der in der
Ursprungsfassung der Bundesrechtsanwaltsordnung (vom 1. August 1959,
BGBl. I S. 565) in § 214 BRAO a.F. vorgesehenen Übergangsvorschrift für die
bei Inkrafttreten der Bundesrechtsanwaltsordnung am 1. Oktober 1959 (§ 237
Abs. 1 BRAO in der Fassung von 1959) amtierenden Vorstandsmitglieder rechtfertigen (anders aber jetzt Hartung in Henssler/Prütting, BRAO, 3. Aufl., § 68
Rdn. 14 ohne nähere Begründung). Danach blieben die seinerzeit amtierenden
Vorstandsmitglieder bis zum Ende ihrer Amtszeit im Amt. An der Geltung des
Zwei-Jahres-Turnus änderte diese Regelung nichts. Sie hinderte die Rechtsanwaltskammern auch nicht daran, diesen Turnus so einzuhalten, wie es das Gesetz verlangt. Die Altvorstände blieben zwar ohne Neuwahl Mitglieder des
Kammervorstands. Für sie war aber ebenso wie für die neu gewählten Mitglieder des Kammervorstands nach § 68 Abs. 2 Satz 2 BRAO durch Los zu
bestimmen, wer nach zwei Jahren auszuscheiden hatte. War die Amtszeit eines
Altvorstands kürzer als die so bestimmte Amtszeit, musste für ihn ein Ersatzmitglied gewählt werden, das aber gemäß § 69 Abs. 3 Satz 1 BRAO nach dem
Rest der Amtszeit des Altvorstands ausschied.
13
e) Das von der Antragsgegnerin praktizierte Verständnis von § 68 Abs. 2
BRAO lässt sich auch nicht, wie das von der Antragsgegnerin vorgelegte
Rechtsgutachten Henssler meint, mit regionalem Gewohnheitsrecht begründen.
Es kann offen bleiben, ob sich das fehlerhafte Verständnis einer Norm zu Gewohnheitsrecht verfestigen kann (vgl. BVerfG NJW 2009, 1469, 1473; BGHZ
-9-
37, 219, 222) und ob die dafür jedenfalls erforderliche Überzeugung der beteiligten Kreise, dass die langjährig praktizierte Anwendung der Norm dem Willen
des Gesetzgebers entspricht, hier erfüllt ist. Eine Norm des Bundesrechts wie
§ 68 Abs. 2 BRAO kann nämlich durch regionales Gewohnheitsrecht nur verdrängt oder ergänzt werden, wenn der Landesgesetzgeber zu Abweichungen
oder Ergänzungen von Bundesrecht befugt wäre. Das ist er nur auf den hier
nicht einschlägigen Gesetzgebungsfeldern des Art. 72 Abs. 3 Satz 1 GG oder
bei einem entsprechenden Vorbehalt im Bundesrecht, an dem es hier ebenfalls
fehlt. Etwa in Hamburg entstandenes regionales Gewohnheitsrecht wäre deshalb nach Art. 31 GG nichtig.
14
2. Der Verstoß gegen § 68 Abs. 2 Satz 1 BRAO dürfte nach dem bisherigen Sachstand dazu führen, dass die Wahl zum Vorstand der Antragsgegnerin
vom 22. Mai 2007 für ungültig zu erklären ist.
15
a) Gemäß § 90 Abs. 1 BRAO a.F. (und § 112f Abs. 1 BRAO) kann die
Wahl von Organen der Rechtsanwaltskammer für ungültig erklärt werden, wenn
sie unter Verletzung des Gesetzes (oder der Satzung) zustande gekommen ist.
Die Missachtung der Vorschriften über den richtigen Turnus der Vorstandswahlen nach § 68 Abs. 2 BRAO ist eine solche Gesetzesverletzung im Sinne von
§ 90 Abs. 1 BRAO a.F., § 112f Abs. 1 BRAO (Deckenbrock in Henssler/
Prütting, 3. Aufl., § 112f Rdn. 26).
16
b) Rechtsfolge dieser Gesetzesverletzung ist nach dem in den Gesetzesmaterialen (vgl. BT-Drucks. III/120 S. 92 zu § 103) nicht näher erläuterten
Wortlaut des § 90 Abs. 1 BRAO a.F. (und § 112f Abs. 1 BRAO), dass die angefochtene Wahl nicht etwa für ungültig erklärt werden "muss", sondern für ungültig erklärt werden "kann".
- 10 -
17
aa) Mit dieser Regelung wird die Erklärung einer Wahl für ungültig nicht
in das Belieben des Gerichts gestellt. Ein solches Verständnis wäre mit dem
Zweck der Wahlanfechtung, die Einhaltung der gesetzlichen und satzungsmäßigen Vorgaben für die Wahl, aber auch die diesen Vorgaben entsprechende
Teilhabe der Kammermitglieder an dem Wahlvorgang sicherzustellen, unvereinbar. Vielmehr kann eine Wahl, die gegen Gesetz oder Satzung verstößt,
vorbehaltlich der zu 3. anzustellenden Prüfung in Anlehnung an die Rechtslage
bei der Anfechtung von Beschlüssen der Rechtsanwaltskammer (Senat, Beschl.
v. 18. April 2005, AnwZ (B) 27/04, NJW 2005, 1710; ebenso für das Vereinsrecht: BGHZ 49, 209, 211; 59, 369, 375 f.) und an das Wahlprüfungsrecht
(BVerfGE 4, 370, 373; 89, 243, 254; 89, 266, 273; 89, 291, 304; 103, 111, 134;
121, 266, 310; Dreier/Morlok, GG, 2. Aufl., Art. 41 Rdn. 19; Umbach/Clemens/Roth, GG, Art. 41 Rdn. 25; weitergehend: VGH München NVwZRR 1996, 680, 681: auch theoretische Möglichkeit) und an gesetzliche Einschränkungen in § 90 Abs. 1 BRAO a.F. funktionell entsprechende Vorschriften
wie § 101 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 HandwO oder § 25 BPersVG nur bei solchen
Fehlern Bestand haben, die sich auf das Wahlergebnis weder tatsächlich ausgewirkt haben noch konkret und nicht nur theoretisch haben auswirken können
(Deckenbrock in Henssler/Prütting, BRAO, 3. Aufl., § 112f Rdn. 31; SchmidtRäntsch in Gaier/Wolf/Göcken, aaO, § 112f BRAO Rdn. 10).
18
bb) Der Verstoß gegen § 68 Abs. 2 BRAO hat sich tatsächlich auf das
Ergebnis der Vorstandswahlen der Antragsgegnerin ausgewirkt.
19
(1) Dies ergibt sich schon daraus, dass die im Mai 2007 vorgenommene
Teilneuwahl des Vorstands der Antragsgegnerin nicht im gesetzlich vorgegebenen Umfang erfolgte, weil entgegen § 68 Abs. 2 BRAO weniger als die Hälfte
der Mitglieder des Vorstands neu gewählt wurde. Die Antragsgegnerin war seit
dem Inkrafttreten der Bundesrechtsanwaltsordnung am 1. August 1959 und
- 11 -
damit auch bei den Vorstandswahlen 2007 verpflichtet, ihren Turnus der Vorstandswahlen in ein gesetzmäßiges Verfahren überzuleiten. Eine gesetzeskonforme Wahl hätte deshalb bereits nach der Anzahl der gewählten Vorstandsmitglieder ein anderes Ergebnis zeitigen müssen.
20
(2) Auch in der Sache hat sich die Zahl der neu zu wählenden Vorstandsmitglieder auf die Wahlentscheidung auswirken können. Denn die Kammermitglieder entscheiden mit ihrer Wahl nicht nur darüber, welche einzelnen
Mitglieder in den Vorstand gewählt werden. Vielmehr sollen sie durch die Neuwahl jeweils der Hälfte des Kammervorstands auch auf die Besetzung des Gesamtvorstands Einfluss nehmen können (Entwurfsbegründung in BT-Drucks.
III/120 S. 85 zu § 81). Die aus der Wahl resultierende Gesamtbesetzung des
Kammervorstands ist aus der Sicht der wahlberechtigten Kammermitglieder
eine wesentliche Grundlage ihrer jeweiligen Wahlentscheidung. Es ist deshalb
nicht ohne weiteres davon auszugehen, dass dieselben Kandidaten auch dann
gewählt worden wären, wenn eine Neuwahl nicht nur für neun, sondern, wie
geboten, für zwölf Vorstandsmitglieder angesetzt worden wäre.
21
3. Trotz eines ergebnisrelevanten Fehlers könnte das Gericht im Rahmen seines begrenzten Ermessens indessen davon absehen, die angefochtene
Wahl nach § 90 Abs. 1 BRAO a.F. (oder nach § 112f Abs. 1 BRAO) für ungültig
zu erklären, wenn dies ausnahmsweise auf Grund des wahlprüfungsrechtlichen
Grundsatzes des geringstmöglichen Eingriffs geboten erschiene.
22
a) Die Ungültigerklärung einer gesamten Wahl setzt regelmäßig einen
erheblichen Wahlfehler von solchem Gewicht voraus, dass ein Fortbestand der
in dieser Weise gewählten Vertretung unerträglich erschiene (BVerfGE 103,
111, 134; 121, 266, 311 f.). Zudem könnte das Gericht in Anlehnung an die
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Wahlprüfung nach Art. 41
- 12 -
GG auch dann davon absehen, eine Wahl für ungültig zu erklären, wenn das
Interesse am Bestandsschutz des im Vertrauen auf die Gesetzmäßigkeit der
Wahl
gewählten
Vorstands
den
festzustellenden
Wahlfehler
überwiegt
(BVerfGE 103, 111, 135; 121, 266, 312 f.; ablehnend etwa Umbach/
Clemens/Roth, aaO, Art. 41 Rdn. 27).
23
b) In welche Richtung der Senat sein begrenztes Ermessen auszuüben
hat, dürfte maßgeblich davon abhängen, ob es der Antragsgegnerin gelingt,
den Turnus ihrer Vorstandswahlen auch ohne gerichtliches Eingreifen an die
gesetzlichen Vorgaben des § 68 Abs. 2 BRAO anzupassen.
24
aa) Im Rahmen seiner Abwägung wird der Senat einerseits zu berücksichtigen haben, dass allein durch die Ungültigerklärung einzelner Teilwahlen
ein gesetzmäßiger Zustand nicht erreicht werden könnte. Andererseits beruht
die Vorstandswahl 2007 nicht auf einem singulären Fehler. Eine Fortsetzung
des seit 1953 praktizierten und auch nach dem Inkrafttreten der Bundesrechtsanwaltsordnung am 1. Oktober 1959 nicht an deren Vorgaben angepassten
Wahlturnus erschiene nicht hinnehmbar.
25
bb) Eine Änderung des fehlerhaften jährlichen Turnus ist auch rechtlich
möglich und erfordert entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin keine Gesetzesänderung. Freilich ist es nicht Sache des Senats, der Antragsgegnerin einen
konkreten von mehreren möglichen Wegen für die Umstellung auf den gesetzmäßigen Zwei-Jahres-Rhythmus vorzuschreiben. Falls hierfür - etwa im Rahmen einer einmaligen Neukonstituierung des Kammervorstands oder aber einer
schrittweisen Zusammenführung der bisher jährlichen Teilneuwahlen - der gesamte Vorstand oder einzelne seiner Mitglieder vorzeitig vom Amt zurücktreten
sollten, fände § 69 Abs. 3 Satz 1 BRAO auf einen solchen Fall keine Anwendung. Diese Vorschrift gilt nach ihrem Zweck, die Einhaltung des Zwei-Jahres-
- 13 -
Turnus zu gewährleisten (vgl. oben II. 1. b) cc)), nicht für Rücktritte, die den
Übergang zu einem überhaupt erstmals gesetzeskonform gewählten Vorstand
ermöglichen sollen und eine solche besondere Zweckbindung, etwa durch einen entsprechenden Hinweis in der Rücktrittserklärung oder eine Bezugnahme
auf einen entsprechenden Beschluss der Kammerversammlung, nach außen
hin erkennen lassen.
26
cc) Sollte die Antragsgegnerin bis zur Fortsetzung der mündlichen Verhandlung verbindlich geklärt haben, wie der Übergang zum Zwei-Jahres-Turnus
gestaltet wird, wäre das sachliche Ziel der Wahlanfechtung, den bisherigen gesetzeswidrigen Turnus aufzugeben, erreicht. Eine Erklärung der Vorstandswahl
2007 für ungültig würde dann den selbstverantwortlich gefundenen Übergang
zum gesetzlichen Neuwahlturnus nur erschweren. Sie entspräche deshalb nicht
mehr dem Prinzip des geringstmöglichen Eingriffs. Von ihr wäre abzusehen.
27
dd) Anders läge es dagegen, wenn es der Antragsgegnerin bis zur Fortsetzung der mündlichen Verhandlung nicht gelingt, zu dem Zwei-Jahres-Turnus
überzugehen oder das Verfahren für diesen Übergang festzulegen. Das könnte
befürchten lassen, dass die Rückkehr zu dem vorgeschriebenen Turnus letztlich scheitert und der fehlerhafte Turnus auf Dauer fortgeführt wird. In einem
Wahlanfechtungsverfahren, mit dem gerade dieser grundlegende Fehler abgestellt werden soll, könnte es dann auch unter Berücksichtigung der schützens-
- 14 -
werten Interessen der Beigeladenen nicht nur möglich, sondern im Gegenteil
geboten sein, die Vorstandswahl 2007 der Antragsgegnerin für ungültig zu erklären.
Tolksdorf
Schmidt-Räntsch
Wüllrich
Lohmann
Braeuer
Vorinstanzen:
AGH Hamburg, Entscheidung vom 24.06.2009 - II ZU 8/07 Entscheidung vom 03.08.2009 - II ZU 6/07 -