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BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
Xa ZR 68/06
vom
29. Juli 2010
in der Patentnichtigkeitssache
-2-
Der Xa-Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 29. Juli 2010 durch die
Richter Prof. Dr. Meier-Beck und Keukenschrijver, die Richterin Mühlens und
die Richter Gröning und Dr. Bacher
beschlossen:
Die Anhörungsrüge gegen das Urteil des Senats vom 15. April 2010
wird auf Kosten der Beklagten zurückgewiesen.
Gründe:
1
Die Anhörungsrüge ist teilweise unzulässig und im Übrigen unbegründet.
2
1.
Dass der Senat die Frage der erfinderischen Tätigkeit anders beur-
teilt hat als der gerichtliche Sachverständige, stellt entgegen der Auffassung der
Beklagten keine Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG dar. Ob sich der Gegenstand einer Erfindung für den Fachmann in naheliegender Weise aus dem
Stand der Technik ergibt, ist eine Rechtsfrage (BGH, Urteil vom 7. März 2006 X ZR 213/01, BGHZ 166, 305, 311 - Vorausbezahlte Telefongespräche mwN).
3
2.
Soweit die Beklagte geltend macht, der Senat habe eine Überra-
schungsentscheidung getroffen und sei abrupt von der etablierten Entscheidungspraxis abgewichen, ist ihre Rüge bereits unzulässig. Die Beklagte zeigt
nicht auf, was sie ergänzend vorgetragen hätte, wenn sie auf die von ihr geltend
gemachte Abweichung von früheren Entscheidungen aufmerksam gemacht
worden wäre. Unabhängig davon ist der Senat in seinem Urteil von denselben
Grundsätzen zur Beurteilung der Patentfähigkeit ausgegangen, die auch den
von der Beklagten angeführten Entscheidungen zu Grunde liegen.
-3-
4
3.
Entgegen der Auffassung der Beklagten hat der Senat bei der Ermitt-
lung der tatsächlichen Grundlagen kein entscheidungserhebliches Vorbringen
der Beklagten übergangen.
5
a)
Der Senat hat berücksichtigt, dass es bei der Internet-Telefonie als
nicht akzeptabel angesehen wird, wenn die Verzögerungszeit bei der Übertragung von Datenpaketen mehr als eine halbe Sekunde beträgt (Rn. 18, 95 f.).
Seine Beurteilung, dass nach der Lehre des Streitpatents auch Störungen hinnehmbar sein können, die einige Sekunden dauern (Rn. 42), steht dazu nicht in
Widerspruch. Diese Erwägungen beruhen auf der - ausdrücklich wiederholten Annahme, dass bei Telefongesprächen schon geringfügige Zeitverzögerungen
zu hörbaren Qualitätseinbußen führen können. Sie befassen sich mit der davon
zu unterscheidenden Frage, wie lange eine solche Störung - beispielsweise die
Übertragung von Datenpaketen mit einer Verzögerungszeit von 600 Millisekunden - andauert, bevor auf eine zuverlässigere, aber teurere Verbindung gewechselt wird.
6
b)
Der Senat hat in diesem Zusammenhang auch berücksichtigt, dass
die anderen von ihm angeführten Methoden zur Ermittlung der Qualität der Datenübertragung weniger genau sind und nur grobe Anhaltspunkte liefern
(Rn. 42). Dass er auf dieser Grundlage Patentanspruch 1 des Streitpatents abweichend von der Auffassung der Beklagten und des gerichtlichen Sachverständigen ausgelegt hat, stellt keine Verletzung des rechtlichen Gehörs dar.
7
c)
Der Senat hat den Vortrag der Beklagten, was als individuelle Kom-
munikationsverbindung im Sinne des Streitpatents zu verstehen ist, berücksichtigt (Rn. 35). Entgegen der Auffassung der Beklagten hat er festgestellt, dass im
Stand der Technik Lösungen bekannt waren, bei denen während einer solchen
Verbindung zwischen paket- und leitungsorientierter Übertragung gewechselt
wird (Rn. 47).
-4-
8
d)
Der Senat hat berücksichtigt, dass die Datenübertragung nach der
Lehre des Streitpatents zwischen zwei bestimmten Telekommunikationseinrichtungen erfolgt. Er hat ausdrücklich dargelegt, wie der Ausdruck " Telekommunikationseinrichtung" im Sinne des Streitpatents zu verstehen ist (Rn. 26), und ist
auf dieser Grundlage zu dem Ergebnis gelangt, dass eine solche Einrichtung
auch bei der in NK18 offenbarten Lösung eingesetzt wird (Rn. 74). Dass dies
von der Bewertung durch die Beklagte und den gerichtlichen Sachverständigen
abweicht, stellt keinen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG dar. Die Auslegung
eines Patentanspruchs ist eine Rechtsfrage (BGH, Urteil vom 13. Februar 2007
- X ZR 74/05, BGHZ 171, 120 Rn. 18 - Kettenradanordnung mwN).
9
e)
Der Senat hat berücksichtigt, dass es zwischen Praktikern aus dem
Bereich der öffentlichen Fernmeldenetze einerseits und dem Bereich der Internet- und LAN-Technologie andererseits traditionell eine Kluft gab, die am Prioritätstag noch nicht überwunden war (Rn. 84, 91). Seine Beurteilung, dass am
Prioritätstag dennoch Anlass bestand, sich mit vorhandenen Lösungen aus dem
jeweils anderen Bereich zu befassen (Rn. 85), ist entgegen der Auffassung der
Beklagten keine Tatsachenfeststellung, sondern die rechtliche Bewertung des
maßgeblichen Sachverhalts. Der Senat hat dabei nicht übersehen, dass die
Internet-Telefonie ausschließlich im IP-Bereich erfolgte.
10
f)
Der Senat hat das Vorbringen der Beklagten berücksichtigt, dass bei
der in NK18 offenbarten Lösung nur das Verkehrsaufkommen des paketvermittelten Netzes insgesamt, nicht aber die Qualität einer individuellen Kommunikationsverbindung betrachtet wird (Rn. 87). Er hat diesem Umstand bei der Beurteilung der Patentfähigkeit keine ausschlaggebende Bedeutung beigemessen
und damit eine von der Auffassung der Beklagten abweichende rechtliche Bewertung vorgenommen.
-5-
11
g)
Der Senat hat das Vorbringen der Beklagten berücksichtigt, dass die
X.25-Übertragung über den D-Kanal nicht die für Internet-Telefonie erforderliche Bandbreite bietet (Rn. 92). Er hat aus diesem Umstand abweichende rechtliche Schlussfolgerungen gezogen, weil in NK10 und NK20 auch für die paketvermittelte Übertragung ein ISDN-B-Kanal eingesetzt wird (Rn. 55) und weil das
entscheidende Kriterium für das Wechseln zur leitungsvermittelten Übertragung
nach der Lehre des Streitpatents nicht die zur Verfügung stehende Bandbreite,
sondern eine Änderung hinsichtlich Zeitverzögerung oder Rauschanteil darstellt
(Rn. 92).
12
h)
Entgegen der Auffassung der Beklagten hat der Senat nicht unter-
stellt, dass der maßgebliche Fachmann keine umfangreiche Berufserfahrung
hat. Dieser Aspekt bedurfte im Urteil keiner ausdrücklichen Erwähnung, weil er
zwischen den Parteien nicht in Streit stand und auch aus Sicht des Senats
selbstverständlich war.
13
i)
Die im Beweisbeschluss und im Gutachten des gerichtlichen Sach-
verständigen aufgeführten Hilfskriterien zur Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit bedurften im Streitfall keiner ausdrücklichen Erwähnung. Diese Hilfskriterien können eine erfinderische Tätigkeit für sich genommen weder begründen
noch ersetzen. Sie können lediglich im Einzelfall Anlass geben, die im Stand
der Technik bekannten Lösungen besonders kritisch darauf zu überprüfen, ob
sie vor dem Hintergrund des allgemeinen Fachwissens hinreichende Anhaltspunkte für ein Naheliegen des Gegenstands der Erfindung bieten und nicht erst
aus Ex-post-Sicht eine zur Erfindung führende Anregung zu enthalten scheinen
(BGH, Urteil vom 30. Juli 2009 - Xa ZR 22/06, GRUR 2010, 44 Rn. 29 - Dreinahtschlauchfolienbeutel mwN). Im Streitfall bestand ein solcher Anlass nicht.
14
j)
Der Senat hat nicht übersehen, dass in Patentanspruch 13 unter an-
derem auch eine Einrichtung zur Komprimierung und Dekomprimierung von
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Daten vorgesehen ist. Er hat diesem Merkmal keine ausschlaggebende Bedeutung für die Beurteilung der Patentfähigkeit beigemessen. Einer besonderen
Erwähnung dieses Merkmals in den Entscheidungsgründen bedurfte es nicht.
Auch die Anhörungsrüge zeigt keinen Tatsachenvortrag auf, der Anlass zu einer eingehenderen Erörterung hätte geben können.
Meier-Beck
Keukenschrijver
Gröning
Mühlens
Bacher
Vorinstanz:
Bundespatentgericht, Entscheidung vom 05.04.2006 - 4 Ni 60/04 -