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BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
2 StR 320/15
vom
20. April 2016
in der Strafsache
gegen
wegen gefährlicher Körperverletzung u.a.
Nachschlagewerk:
BGHSt:
BGHR:
Veröffentlichung:
ja
ja
ja
ja
StGB § 24; JGG § 17 Abs. 2
Bei freiwilligem Rücktritt vom Versuch ist die schulderhöhende Berücksichtigung des zunächst gegebenen Vollendungsvorsatzes im Rahmen der Prüfung der "Schwere der Schuld" im Sinne von § 17 JGG jedenfalls dann
rechtsfehlerhaft, wenn nicht der Umstand der freiwilligen Abkehr von diesem
Vorsatz gleichermaßen berücksichtigt wird. Erst beide Gesichtspunkte gemeinsam ergeben das Tatbild, welches in der spezifisch jugendstrafrechtlichen Beurteilung der Schuldschwere zu bewerten ist.
BGH, Urteil vom 20. April 2016 - 2 StR 320/15 - LG Neubrandenburg
ECLI:DE:BGH:2016:200416U2STR320.15.0
-2-
Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 20. April
2016, an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
Prof. Dr. Fischer,
die Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Appl,
Dr. Eschelbach,
die Richterinnen am Bundesgerichtshof
Dr. Ott,
Dr. Bartel,
Staatsanwalt beim Bundesgerichtshof
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Pflichtverteidiger,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
-3-
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Neubrandenburg vom 10. März 2015 im Strafausspruch
mit den Feststellungen aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels und die dem Nebenkläger entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Von Rechts wegen
Gründe:
1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Sachbeschädigung zu einer Jugendstrafe von drei Jahren
und sechs Monaten verurteilt. Die auf die Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat zum Strafausspruch Erfolg. Im Übrigen ist
sie unbegründet.
2
1. Nach den Urteilsfeststellungen geriet der zur Tatzeit 20 Jahre und
sechs Monate alte Angeklagte am 28. Dezember 2013 gegen 2.00 Uhr in einer
Diskothek aus nicht näher feststellbarem Grund mit dem Geschädigten
K.
in Streit, in dessen Verlauf es zu wechselseitigen Beleidigungen und
-4-
Handgreiflichkeiten kam. Etwa zwei Stunden später folgte der Angeklagte dem
die Diskothek verlassenden Geschädigten und seiner Begleiterin zu deren
Fahrzeug und trat „aus Wut“ gegen Scheibe und Fensterrahmen der Beifahrertür des Fahrzeugs, wodurch dieses beschädigt wurde.
3
Nachdem der Geschädigte aus dem Fahrzeug ausgestiegen war und es
erneut zu einer verbalen Auseinandersetzung gekommen war, stach der Angeklagte auf dem Parkplatz einer Diskothek mit einem so genannten „Neckknife“,
einem Messer mit einer fünf Zentimeter langen, feststehenden Klinge wuchtig in
Richtung des Brustkorbs des Geschädigten
K.
, um ihn zu töten.
Dem Geschädigten gelang es, den Angriff abzuwehren, wodurch er eine
Schnittverletzung am linken Unterarm erlitt. Entweder aufgrund einer weiteren
Stichbewegung oder "im Ausklang der abgelenkten Ursprungsbewegung" fügte
der Angeklagte dem Geschädigten zwei tiefe Schnittverletzungen am Rücken
zu und führte weitere ungezielte Bewegungen mit dem Messer in Richtung des
Geschädigten aus. Dieser erlitt weitere Schnittverletzungen unter anderem an
Kopf und Hals und sank – heftig blutend – zu Boden.
4
Der Angeklagte erkannte, dass er den Geschädigten noch nicht tödlich
verletzt hatte, und gab die weitere Tatausführung in dem Bewusstsein auf, dass
er den tödlichen Erfolg noch hätte herbeiführen können. Der Geschädigte erlitt
infolge des Blutverlusts einen Schock und wurde in ein Krankenhaus eingeliefert. Er befand sich drei Wochen in stationärer Behandlung und leidet physisch
und psychisch noch immer unter den Tatfolgen.
5
Die Jugendkammer ist zugunsten des Angeklagten davon ausgegangen,
dass der zur Tatzeit alkoholisierte Geschädigte, der aus dem Fahrzeug ausgestiegen war, um den Angeklagten zur Rede zu stellen, ihn im Rahmen der ent-
-5-
standenen – erneuten – Auseinandersetzung beleidigt hatte und der Angeklagte
darüber „sehr erbost“ war.
6
Das Landgericht hat einen freiwilligen Rücktritt vom Totschlagsversuch
angenommen und hat die Tat als tateinheitliche Vergehen der Sachbeschädigung (§ 303 StGB) und der gefährlichen Körperverletzung im Sinne des § 224
Abs. 1 Nr. 2 und 5 StGB gewürdigt; soweit im Rahmen der rechtlichen Würdigung und der Liste der angewendeten Vorschriften § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB
angeführt ist, handelt es sich um ein offensichtliches Schreibversehen.
7
Die Jugendkammer hat gemäß § 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG auf den Heranwachsenden Jugendstrafrecht angewendet und eine Jugendstrafe wegen
Schwere der Schuld verhängt, weil der Angeklagte dem Tatopfer „aus jedenfalls
im Verhältnis zum Ausmaß der Tat nichtigem Anlass mit bedingtem Tötungsvorsatz erhebliche, potentiell lebensgefährliche Verletzungen beigebracht“ habe.
8
2. Der Strafausspruch hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.
9
Es begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken, dass die Jugendkammer die Schwere der Schuld auch damit begründet hat, dass der Angeklagte mit bedingtem Tötungsvorsatz gehandelt habe, ohne zugleich zu berücksichtigen, dass der Angeklagte vom Versuch des Tötungsdelikts freiwillig zurückgetreten ist.
10
a) Ist der erwachsene Täter vom Versuch einer Straftat strafbefreiend zurückgetreten, gleichwohl aber wegen eines zugleich verwirklichten vollendeten
anderen Delikts zu bestrafen, so darf der auf die versuchte Straftat gerichtete
Vorsatz nicht strafschärfend berücksichtigt werden (Senat, Beschluss vom
4. April 2012 – 2 StR 70/12, NStZ 2013, 158; Beschluss vom 7. April 2010
-6-
– 2 StR 51/10, NStZ-RR 2010, 202; Beschluss vom 14. Mai 2003 – 2 StR
98/03, NStZ 2003, 533; Beschluss vom 13. Mai 1998 – 2 StR 172/98, BGHR
StGB § 46 Abs. 2 Wertungsfehler 30; BGH, Beschluss vom 8. Januar 2014
– 3 StR 372/13, StV 2014, 482; Beschluss vom 20. August 2002 – 5 StR
338/02, StV 2003, 218; Urteil vom 14. Februar 1996 – 3 StR 445/95, BGHSt 42,
43, 44 ff.; Beschluss vom 14. November 1995 – 4 StR 639/95, StV 1996, 263;
Beschluss vom 16. April 1980 – 3 StR 115/80, MDR 1980, 813; st. Rspr.). Dies
trägt dem Grundgedanken des § 24 StGB Rechnung, der im Interesse des Opferschutzes einen persönlichen Strafaufhebungsgrund für Fälle vorsieht, in denen ein Täter freiwillig die weitere Tatausführung aufgibt oder ihre Vollendung
aktiv verhindert. Dieser Gesetzeszweck würde unterlaufen, wenn der auf die
Verwirklichung des weitergehenden Delikts gerichtete Vorsatz strafschärfend
berücksichtigt würde.
11
b) Zwar ist der Schuldgehalt der Tat bei der Deliktsbegehung durch jugendliche
und
heranwachsende
Täter
jugendspezifisch
zu
bestimmen
(MüKo/Radtke, 2. Aufl., § 17 JGG, Rn. 58, 70). Die „Schwere der Schuld“ im
Sinne des § 17 Abs. 2 JGG wird daher nicht vorrangig anhand des äußeren
Unrechtsgehalts der Tat und ihrer Einordnung nach dem allgemeinen Strafrecht
bestimmt. In erster Linie ist vielmehr auf die innere Tatseite abzustellen (Senat,
Urteil vom 19. Februar 2014 – 2 StR 413/13, NStZ 2014, 407, 408). Der äußere
Unrechtsgehalt der Tat und das Tatbild sind jedoch insofern von Belang, als
hieraus Schlüsse auf die charakterliche Haltung, die Persönlichkeit und die
Tatmotivation des Jugendlichen oder Heranwachsenden gezogen werden können (BGH, Beschluss vom 17. Dezember 2014 – 3 StR 521/14, NStZ-RR 2015,
155, 156; Beschluss vom 6. Mai 2013 – 1 StR 178/13, NStZ 2013, 658, 659;
Beschluss vom 14. August 2012 – 5 StR 318/12, StraFo 2012, 469, 470). Entscheidend ist, ob und in welchem Umfang sich die charakterliche Haltung, die
Persönlichkeit sowie die Tatmotivation des Täters vorwerfbar in der Tat mani-
-7-
festiert haben (BGH, Urteil vom 11. November 1960 – 4 StR 387/60, BGHSt 15,
224, 226).
12
Auch unter Berücksichtigung dieser Besonderheiten kann aber der Umstand, dass der jugendliche oder heranwachsende Täter zunächst mit bedingtem Tötungsvorsatz handelte, im Falle eines freiwilligen Rücktritts vom Versuch
des Tötungsdelikts nicht ohne Weiteres zur Begründung der Schwere der
Schuld im Sinne des § 17 Abs. 2 JGG herangezogen werden.
13
aa) Die Schuld des jugendlichen oder heranwachsenden Täters wird
nach der in § 24 StGB zum Ausdruck kommenden, nicht auf das Erwachsenenstrafrecht beschränkten, sondern auch im Jugendstrafrecht zu beachtenden
gesetzgeberischen Wertung nicht durch den Umstand erhöht, dass er zunächst
mit Tötungsvorsatz handelte, wenn er vor Erreichen dieses tatbestandlichen
Zieles die weitere Tatausführung aus autonomen Gründen freiwillig aufgegeben
oder die Tatvollendung aktiv verhindert hat. Mit dem freiwilligen Rücktritt vom
Versuch hat er vielmehr dokumentiert, dass sein „verbrecherischer Wille“ nicht
ausgeprägt genug gewesen ist, um sein deliktisches Ziel zu verwirklichen (vgl.
BGH, Urteil vom 28. Februar 1956 – 5 StR 352/55, BGHSt 9, 48, 52). Die in
dem Versuch zunächst zum Ausdruck gekommene Gefährlichkeit des jugendlichen oder heranwachsenden Täters erweist sich nachträglich als „wesentlich
geringer“ (BGH, aaO; Roxin, 2003, Strafrecht, Allgemeiner Teil Band II, S. 478).
14
bb) Die auf der Tatbestandsebene auch im Jugendstrafrecht uneingeschränkt geltende Regelung des § 24 Abs. 1 StGB zwingt daher dazu, den Umstand des strafbefreienden Rücktritts vom Versuch in die unter jugendstrafrechtlichem Blickwinkel erfolgende Berücksichtigung des Tatbilds einzustellen, wenn
der auf den weitergehenden Erfolg gerichtete Tatvorsatz schulderhöhend berücksichtigt werden soll. Erst beide Gesichtspunkte gemeinsam ergeben das
-8-
Tatbild, welches in der spezifisch jugendstrafrechtlichen Beurteilung der
Schuldschwere zu bewerten ist. Die einseitig schulderhöhende Berücksichtigung allein des zunächst vorliegenden Vollendungsvorsatzes bei der Beurteilung der Schwere der Schuld erweist sich demgegenüber als rechtsfehlerhaft.
15
cc) Die Frage, ob die Annahme erheblicher Anlage- und Erziehungsmängel (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Januar 2015 – 3 StR 581/14, NStZ-RR
2015, 154) im Sinne des § 17 Abs. 2 JGG auch auf den Umstand gestützt werden könnte, dass ein jugendlicher oder heranwachsender Täter zunächst zu
einem Angriff auf das Leben eines anderen bereit gewesen ist, bedarf vorliegend keiner Entscheidung, weil die Jugendkammer das Vorliegen schädlicher
Neigungen verneint und Jugendstrafe allein wegen Schwere der Schuld verhängt hat. Der Senat neigt jedoch der Ansicht zu, dass die Bewertung insoweit
keinen anderen Grundsätzen folgen kann.
16
3. Der Senat kann ein Beruhen des Strafausspruchs auf dem festgestellten Rechtsfehler nicht ausschließen, zumal die Jugendkammer auch im Rahmen der Strafzumessung im engeren Sinne „strafschärfend“ auf den bei Tatbeginn bestehenden bedingten Tötungsvorsatz abgestellt hat.
-9-
17
Die Sache bedarf daher im Strafausspruch neuer Verhandlung und Entscheidung.
Fischer
Appl
Ott
Eschelbach
Bartel