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BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
3 StR 12/11
vom
5. April 2011
in der Strafsache
gegen
wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern u.a.
-2-
Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Beschwerdeführers und des Generalbundesanwalts - zu 1. c) und 2. auf dessen Antrag - am
5. April 2011 gemäß § 349 Abs. 2 und 4 StPO einstimmig beschlossen:
1.
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des
Landgerichts Stade vom 22. Juli 2010
a) im Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte
des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen
in 16 Fällen und des sexuellen Missbrauchs von Kindern
in vier Fällen schuldig ist;
b) im Ausspruch über die Einzelstrafen in den drei Fällen
des sexuellen Missbrauchs zum Nachteil der Nebenklägerin
W.
(jeweils Einführen einer Kerze in den
Randbereich des Anus u.a.) und über die Gesamtstrafe
aufgehoben; jedoch bleiben die jeweils zugehörigen
Feststellungen aufrecht erhalten;
c) im Ausspruch über die Anordnung der Sicherungsverwahrung mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des
Rechtsmittels und die der Nebenklägerin W.
dadurch ent-
-3-
standenen notwendigen Auslagen, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2.
Die weitergehende Revision wird verworfen.
Der Angeklagte hat die der Nebenklägerin K.
durch
sein Rechtsmittel entstandenen notwendigen Auslagen zu
tragen.
Gründe:
1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in 16 Fällen sowie sexuellen Missbrauchs von Kindern in vier Fällen, davon in drei Fällen in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt und gegen ihn
die Sicherungsverwahrung angeordnet; von weiteren Tatvorwürfen hat es ihn
freigesprochen. Die Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts beanstandet, hat mit der Sachrüge den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist sie unbegründet im
Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
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1. Der Schuldspruch hält sachlichrechtlicher Nachprüfung nicht stand,
soweit das Landgericht den Angeklagten in den drei Fällen des sexuellen Miss-
-4-
brauchs zum Nachteil der Nebenklägerin
W.
(jeweils Einführen einer
Kerze in den Randbereich des Anus u.a.) jeweils auch wegen tateinheitlich begangenen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen (§ 174 Abs. 1 Nr. 1
StGB) verurteilt hat; denn die Feststellungen belegen nicht, dass die Nebenklägerin dem Angeklagten bereits zum Zeitpunkt dieser Taten zur Erziehung, zur
Ausbildung oder zur Betreuung in der Lebensführung anvertraut war.
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a) Ein die Anforderungen des § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB erfüllendes Anvertrautsein setzt ein den persönlichen, allgemein menschlichen Bereich erfassendes Abhängigkeitsverhältnis des Jugendlichen zu dem Betreuer im Sinne
einer Unter- und Überordnung voraus (BGH, Beschluss vom 21. April 1995
- 3 StR 526/94, BGHSt 41, 137, 139); entscheidend ist, ob nach den konkreten
Umständen ein Verantwortungsverhältnis besteht, kraft dessen dem Täter das
Recht und die Pflicht obliegen, die Lebensführung des Jugendlichen und damit
dessen geistig-sittliche Entwicklung zu überwachen und zu leiten (BGH, Beschluss vom 26. Juni 2003 - 4 StR 159/03, NStZ 2003, 661).
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b) Ein derartiges Obhutsverhältnis ist den Urteilsgründen für die Tatzeit
im März 2008 nicht zu entnehmen. Danach war die Nebenklägerin zwar sehr oft
bei der Zeugin K.
und dem Angeklagten zu Besuch; dieser kümmerte sich
um sie, machte die Wäsche und half ihr bei den Hausarbeiten. Allein diese Umstände genügen jedoch auch bei Berücksichtigung des Alters der Nebenklägerin nicht zur Begründung eines dem Schutzzweck des § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB
entsprechenden Abhängigkeitsverhältnisses. Ein solches entstand vielmehr erst
nach Pfingsten 2008, als die Nebenklägerin ganz bei der Zeugin K.
und
dem Angeklagten lebte und dieser sich nunmehr auch um ihre Erziehung kümmerte, mithin den der Norm unterfallenden Pflichtenkreis tatsächlich übernahm
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(vgl. BGH, Beschluss vom 31. Januar 1967 - 1 StR 595/65, BGHSt 21, 196, 201
f.; Urteil vom 5. November 1985 - 1 StR 491/85, BGHSt 33, 340, 344 f.).
5
c) Der Senat schließt aus, dass in einer neuen Hauptverhandlung Feststellungen getroffen werden könnten, die bereits für März 2008 ein Obhutsverhältnis in dem dargelegten Sinne belegen; er ändert deshalb in entsprechender Anwendung von § 354 Abs. 1 StPO den Schuldspruch selbst ab. § 265
StPO steht nicht entgegen; denn der Angeklagte hätte sich gegen den alleinigen Vorwurf des sexuellen Missbrauchs von Kindern nicht wirksamer als geschehen verteidigen können.
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2. Der Wegfall des vom Landgericht angenommenen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in den genannten Fällen führt zur Aufhebung
der jeweiligen Einzelfreiheitsstrafen; denn das Landgericht hat ausdrücklich die
tateinheitliche Verwirklichung dieses Delikts strafschärfend berücksichtigt. Aufgrund des Wegfalls der drei Einzelfreiheitsstrafen kann auch die Gesamtfreiheitsstrafe keinen Bestand haben. Die zugehörigen Strafzumessungstatsachen
werden allerdings durch den aufgezeigten Rechtsfehler nicht berührt; sie können deshalb bestehen bleiben. Ergänzende Feststellungen durch das neue
Tatgericht, die den bisherigen nicht widersprechen, sind zulässig.
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3. Die auf § 66 Abs. 2 und Abs. 3 Satz 2 StGB aF gestützte Anordnung
der Sicherungsverwahrung begegnet ebenfalls durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Der Generalbundesanwalt hat in seiner Antragsschrift hierzu u.a. ausgeführt:
"Zur Begründung des Hangs hat die Kammer eine Gesamtwürdigung
der Persönlichkeit des Angeklagten und der Taten vorgenommen (UA
S. 52 ff.). Die starke Neigung zu pädosexuellen Handlungen begründet die Strafkammer dabei auch mit dem Einlassungsverhalten des
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Angeklagten: Die Betonung der eigenen Anteile des Opfers und des
Guten, das er auch getan habe, sowie die Uneinsichtigkeit des Angeklagten seien Merkmale, die das eingeschliffene Verhaltensmuster
kennzeichnen (UA S. 55 f.). Bei der Begründung der Gefährlichkeit
lastet das Tatgericht - dem Sachverständigen folgend - dem Angeklagten seine fehlende Verantwortungsübernahme und dessen verformte
Realitätswahrnehmung an, weil er stets die Nebenklägerin
W.
als die eigentliche Täterin dargestellt und sämtliche
Schuld bei ihr gesehen habe (UA S. 56). Bei der Annahme, dass sich
der Angeklagte in Zukunft weiterer erheblicher Taten nicht enthalten
kann, hat die Strafkammer zur Begründung auf das unbelehrbare Verhalten des Angeklagten, seine Projektion seiner Schuld auf andere
sowie den Mangel an Einsicht abgestellt (UA S. 58).
Diese Ausführungen lassen besorgen, dass das Tatgericht die Grenzen zulässigen Verteidigungsverhaltens des - hier jedenfalls nicht voll
geständigen - Angeklagten verkannt hat (vgl. dazu BGHR StGB § 66
Abs. 1 Gefährlichkeit 4). Zulässiges Verteidigungsverhalten darf nicht
hangbegründend verwertet werden (BGH NStZ 2001, 595, 596; 2010,
270, 271; …). Wenn der Angeklagte die Taten leugnet, bagatellisiert
oder einem anderen die Schuld an der Tat zuschiebt, ist dies grundsätzlich zulässiges Verteidigungsverhalten (vgl. BGHR StGB § 46 Abs.
2 Verteidigungsverhalten 8, 9, 10). Die Grenze ist erst erreicht, wenn
das Leugnen, Verharmlosen oder die Belastung des Opfers sich als
Ausdruck besonders verwerflicher Einstellung des Täters darstellt, etwa weil die Falschbelastung mit einer Verleumdung oder Herabwürdigung oder der Verdächtigung einer besonders verwerflichen Handlung
einhergeht (vgl. BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verteidigungsverhalten 10).
Diese Grenze zu einer verbotenen oder auch nur die Belange der Geschädigten grob missachtenden Verteidigungsstrategie ist hier jedoch
noch nicht überschritten."
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Dem stimmt der Senat zu.
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4. Sollte das neue Tatgericht die formellen und materiellen Voraussetzungen für die Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 2, Abs. 3
Satz 2 StGB aF gegen den 68 Jahre alten Angeklagten auch ohne Berücksichtigung von dessen zulässigem Verteidigungsverhalten erneut bejahen, weist der
Senat zur pflichtgemäßen Ausübung des Ermessens auf Folgendes hin:
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Nach der Vorstellung des Gesetzgebers soll das Tatgericht die Möglichkeit haben, sich ungeachtet der festgestellten Gefährlichkeit des Täters zum
Zeitpunkt der Urteilsfällung auf die Verhängung einer Freiheitsstrafe zu beschränken, sofern erwartet werden kann, dass sich dieser die Strafe hinreichend zur Warnung dienen lässt. Damit wird dem Ausnahmecharakter der Vorschrift Rechnung getragen, der sich daraus ergibt, dass § 66 Abs. 2 StGB - im
Gegensatz zu Abs. 1 - eine frühere Verurteilung und eine frühere Strafverbüßung des Täters nicht voraussetzt. Die Wirkungen eines langjährigen Strafvollzugs sowie die mit dem Fortschreiten des Lebensalters erfahrungsgemäß
eintretenden Haltungsänderungen sind deshalb wichtige Kriterien, die nach der
Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs im Rahmen dieser Ermessensentscheidung grundsätzlich zu berücksichtigen sind (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Beschluss vom 4. August 2009 - 1 StR 300/09, NStZ 2010, 270, 271 f. mwN). Dies
gilt entsprechend auch für § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB.
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