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BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
Xa ZR 156/04
Verkündet am:
30. April 2009
Anderer
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
in der Patentnichtigkeitssache
Nachschlagewerk: ja
BGHZ:
nein
Sicherheitssystem
PatG § 22 Abs. 1, § 21 Abs. 1 Nr. 2; IntPatÜbkG Art. II § 6 Abs. 1 Nr. 2;
EPÜ Art. 138 Abs. 1 Buchst. b
Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Notwendigkeit einer eindeutigen Identifizierbarkeit der Erfindung (BGHZ 57, 1, 3 - Trioxan; fortgeführt in
BGHZ 92, 129, 134 - Acrylfasern und in dem Beschluss vom 11.10.1983
- X ZB 16/82, BlPMZ 1984, 211, 213 - optische Wellenleiter) ist auf den Nichtigkeitsgrund des Fehlens einer ausführbaren Offenbarung nach geltendem
Recht nicht ohne Weiteres anwendbar.
BGH, Urt. v. 30. April 2009 - Xa ZR 156/04 - Bundespatentgericht
-2-
Der Xa. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 17. März 2009 durch die Richter Prof. Dr. Meier-Beck,
Keukenschrijver, die Richterin Mühlens und die Richter Dr. Lemke und
Asendorf
für Recht erkannt:
Auf die Berufung der Beklagten wird das am 11. August 2004 verkündete Urteil des 4. Senats (Nichtigkeitssenats) des Bundespatentgerichts abgeändert und wie folgt neu gefasst:
Das europäische Patent 482 015 wird mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland insoweit für nichtig erklärt, als sein Patentanspruch 1 über die nachfolgende Fassung hinausgeht, auf die sich
die Patentansprüche 2 bis 15 beziehen:
"Insassen-Sicherheitssystem für Fahrzeuge, insbesondere Rückhaltesystem, wie Airbag, Gurtstraffer usw., mit mindestens einem
eine Ansprechzeit aufweisenden Auslösesensor (1), einer Recheneinheit (2) und einer Zündendstufe (5) zur Aktivierung des Sicherheitssystems, gekennzeichnet durch eine von der Recheneinheit
(2) steuerbare Sperrschaltung (21), die erst nach Ablauf einer Verriegelungs-Freigabezeit (tv) die Zündendstufe entriegelt, wobei die
Verriegelungs-Freigabezeit (tv) kleiner als die Ansprechzeit (ta) des
Auslösesensors (1) ist und wobei sich die VerriegelungsFreigabezeit an die Ansprechzeit anschließt."
Die weitergehende Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits werden gegeneinander aufgehoben.
Von Rechts wegen
-3-
Tatbestand:
1
Die Beklagte ist Inhaberin des am 20. Juni 1990 unter Inanspruchnahme
der Priorität einer deutschen Patentanmeldung vom 8. Juli 1989 angemeldeten,
auch mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland erteilten europäischen
Patents 482 015 (Streitpatents), das ein "Insassen-Sicherheitssystem für Fahrzeuge" betrifft und 15 Patentansprüche umfasst. Patentanspruch 1 des Streitpatents hat folgenden Wortlaut:
"1. Insassen-Sicherheitssystem für Fahrzeuge, insbesondere Rückhaltesystem,
wie Airbag, Gurtstraffer usw., mit mindestens einem eine Ansprechzeit aufweisenden Auslösesensor (1), einer Recheneinheit (2) und einer Zündendstufe (5)
zur Aktivierung des Sicherheitssystems, gekennzeichnet durch eine von der Recheneinheit (2) steuerbare Sperrschaltung (21), die erst nach Ablauf einer Verriegelungs-Freigabezeit (tv) die Zündendstufe entriegelt, wobei die VerriegelungsFreigabezeit (tv) kleiner als die Ansprechzeit (ta) des Auslösesensors (1) ist."
2
Wegen der abhängigen Patentansprüche 2 bis 15 des Streitpatents wird
auf die Patentschrift verwiesen.
3
Die Klägerin hat geltend gemacht, die Erfindung sei in dem Streitpatent
nicht so deutlich und vollständig offenbart, dass ein Fachmann sie ausführen
könne. Außerdem sei der Gegenstand des Streitpatents gegenüber dem Stand
der Technik, wie ihn insbesondere die deutschen Offenlegungsschriften
22 22 038 (D5), 22 25 709 (D4), 24 54 424 (D7), 26 12 215 (D6), 28 08 872
(D3), 30 01 780 (D8), die nachveröffentlichte, aber zeitrangältere deutsche Patentschrift 39 19 376 (D2), die Veröffentlichung der europäischen Patentanmeldung 11 680 (D1), die US-Patentschrift 4 586 179 (D11), die Veröffentlichung
der britischen Patentanmeldung 2 187 909 (D10) sowie die Literaturstellen U.
Tietze/Ch. Schenk, Halbleiter-Schaltungstechnik, 5. Aufl. S. 526 f. (D9), und
-4-
8. Aufl. S. 630 ff. (D12), und Arnolds (Hrsg.), Elektronische Messtechnik, 1976,
S. 36 f. und S. 54 ff., bildeten, nicht patentfähig.
4
Die Klägerin hat beantragt, das Streitpatent mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland für nichtig zu erklären.
5
Das Bundespatentgericht hat das Streitpatent wegen Fehlens einer ausführbaren Offenbarung in vollem Umfang für nichtig erklärt; ob die Erfindung
patentfähig ist, hat es nicht geprüft.
6
Hiergegen wendet sich die Beklagte mit ihrer Berufung. Sie beantragt,
unter Abänderung des angefochtenen Urteils die Klage mit der Maßgabe abzuweisen, dass Patentanspruch 1 des Streitpatents die im Tenor wiedergegebene Fassung erhält und sich die nachgeordneten Patentansprüche auf den so
gefassten Patentanspruch 1 beziehen. Die Klägerin tritt dem Rechtsmittel entgegen. Sie stützt sich im Berufungsverfahren weiter auf die deutsche Offenlegungsschrift 36 39 065 (BB13).
7
Im Auftrag des Senats hat Professor Dr.-Ing. W.
M.
,
, ein schriftliches Gutachten erstattet, das er in der mündlichen Verhandlung erläutert und
ergänzt hat.
-5-
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung der Beklagten führt unter Abänderung des ange-
8
fochtenen Urteils zur Abweisung der Nichtigkeitsklage, soweit sich diese gegen
das Streitpatent in seinem zuletzt noch verteidigten Umfang richtet.
9
I.
Das Streitpatent betrifft ein Insassensicherheitssystem für Fahrzeu-
ge, und zwar insbesondere ein Rückhaltesystem wie Prallkissen (Airbag) oder
Gurtstraffer.
10
1. Bei solchen Systemen sind gefahrträchtige und mit Kosten für eine
Wiederherstellung des Systems verbundene Fehlauslösungen unerwünscht.
Solche Fehlauslösungen können durch nicht definierte Hardware-Zustände
während des Ein- und Ausschaltens oder durch Störungen in der Recheneinheit verursacht werden, die eine Zündendstufe des Sicherheitssystems ansteuert.
11
2. Durch die im Streitpatent unter Schutz gestellte Lehre sollen derartige Fehlauslösungen vermieden werden.
12
3. Hierzu stellt Patentanspruch 1 des Streitpatents in seiner verteidigten Fassung ein Insassen-Sicherheitssystem für Fahrzeuge mit folgenden
Merkmalen unter Schutz:
(1) Das System weist mindestens auf
(1.1) einen Auslösesensor mit einer Ansprechzeit,
(1.2) eine Recheneinheit,
(1.3) eine Zündendstufe und
-6-
(1.4) eine Sperrschaltung.
(2) Die Recheneinheit steuert die Sperrschaltung.
(3) Es ist eine Verriegelungs-Freigabezeit vorgesehen,
(3.1) die sich an die Ansprechzeit anschließt,
(3.2) kleiner als die Ansprechzeit des Auslösesensors ist und
(3.3) nach deren Ablauf die Sperrschaltung die Zündendstufe
entriegelt.
(4) Die Zündendstufe aktiviert das Sicherheitssystem.
13
4. Der Streit der Parteien und die Auffassung des Patentgerichts, die
Erfindung sei nicht ausführbar offenbart, erfordern eine nähere Untersuchung
des Sinngehalts dieser Merkmalskombination.
14
Nach der Beschreibung des Streitpatents soll der Auslösesensor bestimmte Fahrzeugzustandsgrößen erfassen und bei Erfüllung vorgebbarer Kriterien zu einer Auslösung des Sicherheitssystems führen. Insbesondere kann
der Auslösesensor die Fahrzeugbeschleunigung erfassen und diese in einer
oder mehreren digitalen oder analogen Rechenschaltungen verarbeiten, insbesondere eine Aufintegrierung vornehmen (Beschr. Sp. 2 Z. 17-25). Daraus ergibt sich, wie auch der gerichtliche Sachverständige ausgeführt hat, dass der
Auslösesensor im Sinn des Merkmals (1.1) nicht nur aus dem elektromechanischen Beschleunigungswandler besteht, sondern auch das Beschleunigungssignal verarbeitet, insbesondere integriert. Nach der Beschreibung ist hieraus
ersichtlich, dass auf Grund des Integrationsvorgangs keine sofortige Auslösung
des Systems erfolgt, sondern diese erst "nach der genannten Ansprechzeit erfolgt" (Sp. 2 Z. 26-30). Jedenfalls eine patentgemäß in Betracht kommende
Ansprechzeit ist somit die Zeitdifferenz zwischen dem Beginn der Integration
(vgl. Beschr. Sp. 10 Z. 25/26) nach der Erfassung bestimmter, d.h. möglicherweise kritisch werdender Fahrzustandsgrößen (vgl. Sp. 2 Z. 16-20) - und nicht
-7-
schon ab dem Einschalten des Motors - und dem Erreichen des Schwellwerts,
der "die Auslösung" zur Folge haben soll. Dabei ist dem Fachmann, einem mit
der Entwicklung von Insassensicherheitssystemen befassten und vertrauten
Diplomingenieur der Fachrichtung Elektrotechnik, geläufig, dass die Integration
typischerweise erst dann beginnt, wenn eine "Rauschschwelle" überschritten
ist, die etwa einer Verzögerung von 4g, d.h. dem Vierfachen der Erdbeschleunigung von 9,81 m/s2, entspricht; der gerichtliche Sachverständige hat dieses
Verständnis bestätigt (Gutachten S. 9).
15
Nach dem Streitpatent soll die "Auslösung des Systems" aber noch keine Aktivierung des Sicherheitssystems zur Folge haben. Das Sicherheitssystem wird vielmehr von der Zündendstufe erst dann aktiviert (Merkmal 4), wenn
die Zündendstufe von der (ganz allgemein zu verstehenden und in Patentanspruch 1 auch durch die Zufügung eines Bezugszeichens nicht näher definierten) Sperrschaltung entriegelt worden ist (Merkmal 3.3). Dies wiederum geschieht, gesteuert von der Recheneinheit (Merkmal 2), wenn die - nicht im Sinn
eines Fachbegriffs zu verstehende - Verriegelungs-Freigabezeit (tv) abgelaufen
ist (Merkmale 3; 3.3). Dies ermöglicht es, während der VerriegelungsFreigabezeit das Sicherheitssystem auf seinen korrekten Betriebszustand zu
überprüfen (Sp. 2 Z. 41-44); tritt ein Störfall ein, der zu einer unzulässigen Ansteuerung der Zündendstufe führen müsste, ist durch die zeitverzögerte Freigabe noch für eine gewisse Zeitspanne ein "rettendes Eingreifen" möglich, etwa durch das Eingreifen einer weiteren, nicht gestörten Recheneinheit (Sp. 2
Z. 56 - Sp. 3 Z. 11). Die Freigabe ist damit (ohne dass dies in Patentanspruch 1
explizit zum Ausdruck kommt, im Sinn einer logischen UND-Verknüpfung und
damit einer zweifachen Aktivierungsbedingung) für ein "rettendes Eingreifen"
zeitverzögert (vgl. Sp. 3 Z. 1-3), bis sowohl das Auslösesignal nach Überschreiten des Schwellwerts und Ablauf der Ansprechzeit als auch die VerriegelungsFreigabezeit verstrichen sind.
-8-
16
Für eine sichere Schutzfunktion darf die Verriegelungs-Freigabezeit eine
"bestimmte Zeitspanne nicht überschreiten" (Sp. 2 Z. 30-35); nach Merkmal
(3.2) hat sie kleiner als die Ansprechzeit (ta) des Auslösesensors (Merkmal 1.1)
zu sein. Da die Dauer der Ansprechzeit nicht definiert ist, sondern diese einerseits insbesondere zu laufen beginnen kann, sobald mit der Integration begonnen wird, sie andererseits mit dem Erreichen des Schwellwerts für die Auslösung endet, die wiederum crash- und fahrzeugspezifisch zu bestimmen ist, ist
dem gerichtlichen Sachverständigen zwar darin beizutreten, dass eine eindeutige und vollständige Charakterisierung der zeitlichen Abläufe im Rückhaltesystem fehlt; dies steht der Ausführbarkeit jedoch nicht entgegen. Das Merkmal
(3.2) ist nämlich dahin zu verstehen, dass die Verriegelungs-Freigabezeit kleiner als alle in Betracht kommenden Ansprechzeiten zu sein hat (vgl. die Formulierung in Sp. 2 Z. 13-17 und Sp. 10 Z. 10-14, wonach die VerriegelungsFreigabezeit kleiner als "eine" Ansprechzeit des Auslösesensors ist). Der
Fachmann wird die Verriegelungs-Freigabezeit jedenfalls möglichst klein und
gerade so groß wählen, dass sie ihre Funktion erfüllen kann, mithin ein "rettendes Eingreifen" erlaubt.
17
II. Das Streitpatent offenbart die Erfindung so eindeutig und vollständig,
dass ein Fachmann sie ausführen kann.
18
1. Das Patentgericht hat seine abweichende Auffassung damit begründet, dass die Parteien zentrale Beschreibungsstellen der Streitpatentschrift jeweils gegensätzlich auslegten. Nach der Beschreibung (Sp. 2 Z. 35-41) sei es
erforderlich, dass der vom Auslösesensor kommende Auslöseimpuls der entriegelten Zündendstufe zugeleitet werde, damit eine Systemaktivierung erfolgen könne; es müsse mithin bis zu diesem Zeitpunkt die erfindungsgemäße
Verriegelungsfreigabezeit abgelaufen sein. Dieser Angabe könne, wie die Klä-
-9-
gerin meine, ohne weiteres entnommen werden, dass die Ansprechzeit und die
Verriegelungsfreigabezeit parallel abliefen, wobei durch die Zeitbedingung im
Patentanspruch 1 die Verriegelungs-Freigabezeit vor der Ansprechzeit ende,
um den Auslöseimpuls auf eine zuvor entriegelte Zündendstufe zu leiten. Die
Angabe könne aber auch mit der Beklagten in dem Sinn interpretiert werden,
dass die durch einen Crash eingeleitete Ansprechzeit mit einem Auslöseimpuls
ende und erst zu diesem Zeitpunkt die Verriegelungsfreigabezeit zu laufen beginne, nach deren Ende der Auslöseimpuls auf eine entriegelte Zündendstufe
treffe und das Sicherheitssystem auslöse. Auch zwei weitere Beschreibungsstellen (Sp. 12 Z. 5-8: "Nach Ablauf der Ansprechzeit des Auslösesensors
muss die Freigabe der Endstufen für die Zündung erfolgt sein."; Sp. 2 Z. 48-56:
"Im Normalbetrieb ist somit aufgrund der Sperrschaltung eine dauernde Verriegelung der Zündendstufe gegeben, die erst dann, wenn zu einem bestimmten
Zeitpunkt eine gewollte Auslösung des Insassen-Sicherheitssystems erfolgen
soll, so frühzeitig aufgehoben wird, dass bis zum eigentlichen Zündzeitpunkt
die Zeitverzögerung (Verriegelungs-Freigabezeit) abgelaufen ist.") interpretierten die Parteien unterschiedlich. Im Ergebnis habe die mündliche Verhandlung
ergeben, dass beide sich widersprechenden Interpretationen der zur Entscheidung vorliegenden Erfindung technisch nachvollziehbar und in ihrer jeweiligen
Lesart auch Gegenstand der Offenbarung der Erfindung seien. Die weitere Offenbarung des Streitpatents enthalte keine Hinweise, dass eine der beiden Interpretationen ausgeschlossen sei. Da sich beide Interpretationen auf dieselben Offenbarungsstellen beriefen, könne es sich nicht um zwei alternative Ausführungsbeispiele derselben Erfindung handeln. Mithin gebe das Streitpatent in
seiner Gesamtheit dem Durchschnittsfachmann keine so deutliche und vollständige Offenbarung, dass er sie eindeutig identifizieren (ausführen) könne.
19
2. Das hält der Nachprüfung nicht stand.
- 10 -
20
Zunächst hat das Patentgericht der in ständiger Rechtsprechung des
Bundesgerichtshofs (BGHZ 171, 120 Tz. 18 - Kettenradanordnung; BGHZ 172,
108 Tz. 13 - Informationsübermittlungsverfahren I; BGHZ 172, 298 Tz. 22 - Zerfallszeitmessgerät; BGH, Urt. v. 31.3.2009 - X ZR 95/05 - Straßenbaumaschine, zur Veröffentlichung in BGHZ vorgesehen) formulierten Anforderung nicht
genügt, dass das Gericht ein Patent selbstständig ohne Bindung an die Auffassung der Parteien oder eines Sachverständigen auszulegen hat. Insbesondere
genügt das Urteil, beide Lesarten seien "technisch nachvollziehbar", nicht der
Forderung, unter Berücksichtigung der Funktion der einzelnen Merkmale und
ihrer Stellung im Zusammenhang des Patentanspruchs zu ermitteln, welche
technische Lehre das Streitpatent zur Lösung des ihm zugrunde liegenden
technischen Problems gibt, und hierbei den gesamten Inhalt der Beschreibung
auszuschöpfen.
21
Aus dem Streitpatent in seiner erteilten Fassung ergab sich allerdings,
wie das Patentgericht insoweit zutreffend angenommen hat, keine Festlegung
darauf, dass die Verriegelungs-Freigabezeit im Anschluss an die Ansprechzeit
laufen musste. Vielmehr erfasste das Streitpatent in seiner erteilten Fassung
auch den Fall, dass Ansprechzeit und Verriegelungs-Freigabezeit teilweise
oder in vollem Umfang parallel liefen. Darin lag aber entgegen der Auffassung
des Patentgerichts kein Mangel der ausführbaren Offenbarung.
22
Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Notwendigkeit einer
eindeutigen Identifizierbarkeit der Erfindung, auf die sich das Patentgericht in
der Sache gestützt hat (BGHZ 57, 1, 3 - Trioxan; fortgeführt in BGHZ 92, 129,
134 - Acrylfasern und in dem Beschluss vom 11.10.1983 - X ZB 16/82, BlPMZ
1984, 211, 213 - optische Wellenleiter), ist durchwegs zum nationalen Patentrecht vor 1978 und zudem nicht zur Prüfung im Patentnichtigkeitsverfahren,
sondern in dem nicht vollständig übereinstimmenden Grundsätzen unterliegen-
- 11 -
den Erteilungsverfahren ergangen und zu dem seither geltenden nationalen
Recht vom Bundesgerichtshof nicht übernommen worden. Dies gilt erst recht
für das hier maßgebliche Europäische Patentübereinkommen und für dessen
nationale Umsetzung (Art. 138 Abs. 1 Buchst. b EPÜ; Art. II § 6 Abs. 1 Nr. 2
IntPatÜG). Sie ist im Hinblick auf die Neuregelung der Nichtigkeitsgründe im
Rahmen der europäischen Harmonisierung auch nicht unbesehen auf das geltende Recht übertragbar (vgl. Melullis in Benkard, EPÜ, 2002, Rdn. 97 zu
Art. 52 EPÜ; Keukenschrijver in Busse, PatG, 6. Aufl. 2003, Rdn. 14 zu § 1
PatG; Bacher/Melullis in Benkard, PatG GebrMG, 10. Aufl. 2006, Rdn. 74b zu
§ 1 PatG). Die Identifizierbarkeit kann im Patentnichtigkeitsverfahren dann von
Bedeutung sein, wenn ihr Fehlen der ausführbaren Offenbarung der Erfindung
entgegensteht. Dies ist aber nicht bereits dann der Fall, wenn für den Aussagegehalt der geschützten Lehre verschiedene Interpretationsmöglichkeiten
bleiben. In einem solchen Fall muss zunächst geklärt werden, welche Auslegung die zutreffende ist (vgl. BGHZ 156, 179, 186 - blasenfreie Gummibahn I).
In dieser Auslegung ist der Patentanspruch sodann der Beurteilung auf Patentfähigkeit zugrunde zu legen. Ob das Patent in dieser Auslegung die Erfindung
ausführbar offenbart, bedarf sodann der Prüfung im Einzelfall. Soweit die Unklarheit lediglich einen Verstoß gegen Art. 84 Satz 2 EPÜ begründet, ohne dadurch zugleich der Ausführbarkeit entgegenzustehen, füllt dies für sich keinen
der gesetzlich vorgesehenen Nichtigkeitsgründe aus.
23
3. Mit der im Berufungsverfahren vorgenommenen Einfügung in Patentanspruch 1 beschränkt die Beklagte das Patent nunmehr auf die Alternative, nach der sich die Verriegelungs-Freigabezeit an die Ansprechzeit anschließt. Hiergegen bestehen keine Bedenken, denn diese Alternative ist im
Streitpatent mit hinreichender Deutlichkeit offenbart (Sp. 4 Z. 10-21; Sp. 6
Z. 25-50; Sp. 11 Z. 36-46). Diese Offenbarung findet sich übereinstimmend
auch bereits in den ursprünglichen Unterlagen (Beschr. S. 5; S. 9/10).
- 12 -
24
4. Dass das Streitpatent die Bemessung der Ansprechzeit nicht festlegt, steht der Ausführbarkeit im Sinn des angezogenen Nichtigkeitsgrunds des
Art. II § 6 Abs. 1 Nr. 2 IntPatÜG ebenfalls nicht entgegen. Eine Möglichkeit zur
Bestimmung der Ansprechzeit besteht, wie bereits ausgeführt, darin, diese vom
Beginn der Integration bis zum Erreichen des Schwellwerts zu bemessen. Geht
man hiervon aus, so konnte der Fachmann auch die maximale Länge der Verriegelungs-Freigabezeit in Abhängigkeit von der so definierten Ansprechzeit
bestimmen. Das reicht für die Ausführbarkeit der unter Schutz gestellten Erfindung jedenfalls aus, denn insoweit kann lediglich verlangt werden, dass ein
nacharbeitbarer Weg offenbart ist, mit dem das der Erfindung zugrunde liegende Problem tatsächlich gelöst wird (BGHZ 147, 306, 317 - Taxol; vgl. MeierBeck, Der zu breite Patentanspruch, Festschrift für Eike Ullmann (2006), 495,
502). Dass eine allgemeingültige Definition der Ansprechzeit zur Verfügung
gestellt wird, kann für die ausführbare Offenbarung dagegen nicht verlangt
werden. Das Streitpatent offenbart zudem einen Weg, die VerriegelungsFreigabezeit darzustellen, nämlich durch die für die Wiederaufladung eines
Kondensators C bis zu einem Punkt, an dem ein Komparator K umschaltet,
benötigte Zeit (Beschr. Sp. 10 Z. 5-10; vgl. Beschr. Sp. 5 Z. 45-47).
25
III. Im Berufungsverfahren haben sich keine Erkenntnisse ergeben, die
das Ergebnis tragen können, dass der Gegenstand des Patentanspruchs 1 des
Streitpatents nicht neu sei (Art. 54 EPÜ) oder die Wertung zuließen, dass er
sich in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik ergebe (Art. 56 EPÜ).
26
1. Der Gegenstand des Patentanspruchs 1 des Streitpatents ist neu.
27
a) Die Veröffentlichung der europäischen Patentanmeldung 11 680
(Robert Bosch GmbH; D1) beschreibt eine Prüfschaltung für die Auslösevor-
- 13 -
richtung einer dem Schutz der Insassen während eines Unfalls dienenden Sicherheitseinrichtung, bei der ein Auslösesignal durch das Prüfprogramm simuliert wird.
28
Bei Einschalten der Versorgungsspannung (U15) für die Auslösevorrichtung (10) läuft ein zweistufiges Prüfprogramm zur Überprüfung der Auswerteelektronik (13) und des Endstufentransistors (14) ab. Damit es während des
Ablaufs des Prüfprogramms nicht zu einer Aktivierung der Sicherheitseinrichtung kommen kann, ist in Reihe zum Endstufentransistor und zur Sicherheitseinrichtung ein zusätzlicher Transistor (16) geschaltet, der gesperrt bleibt, bis
das Prüfprogramm abgelaufen ist. In einem ersten Schritt des Prüfprogramms
wird mit Einschalten der Versorgungsspannung zum Zeitpunkt t0 bis zum Zeitpunkt t1 überprüft, ob der Endstufentransistor und der weitere Transistor 16
gesperrt sind. In einem zweiten Schritt wird sodann die Funktionsfähigkeit der
Auswerteelektronik und des Endstufentransistors überprüft. Dazu wird der
Auswerteelektronik zum Zeitpunkt t1 (Überschreiten der Schwellwertstufe 35)
ein simuliertes Auslösesignal zugeführt. Wenn Auswerteelektronik und Endstufentransistor fehlerfrei arbeiten, wird der bisher gesperrte Endstufentransistor
nach einer gewissen Verzögerungszeit in den leitenden Zustand überführt.
Nachdem zum Zeitpunkt t2 das simulierte Auslösesignal zurückgenommen
worden ist, wird der Endstufentransistor wieder gesperrt (S. 7 a.E.). Erst zum
Zeitpunkt t3 wird der Transistor 16 in einen leitenden Zustand versetzt. Wenn
bei einem Crashvorgang die Auswerteelektronik anspricht und den Endstufentransistor leitend schaltet, fließt bei leitendem Transistor 16 ein Zündstrom
durch die Sicherheitseinrichtung, der in der Lage ist, diese auszulösen.
29
Diese Ausgestaltung entspricht nicht dem Merkmal (3.3) des Patentanspruchs 1 des Streitpatents, nach dem die Sperrschaltung nach Ablauf der Verriegelungs-Freigabezeit die Zündendstufe (d.h. hier den Endstufentransistor 14)
- 14 -
entriegelt. Denn nach Ablauf des Zeitraums t1-t3, den die Klägerin als Verriegelungs-Freigabezeit ansehen will, entriegelt die Prüfschaltung den Endstufentransistor, der zuvor kurze Zeit nach dem Ende des Simulationssignals (t2) wieder gesperrt worden ist, nicht. Auch Merkmal (3.2) ist nicht verwirklicht, denn
ein zeitlicher Zusammenhang zwischen dem Zeitraum t1-t3 und einer Ansprechzeit des Auslösesensors, die, wie bereits ausgeführt, beim Streitpatent
mit dem Beginn des Integrationsvorgangs beginnt und nicht mit dem Einschalten der Versorgungsspannung, wird in der Entgegenhaltung nicht hergestellt.
30
b) Die deutsche Offenlegungsschrift 28 08 872 (Messerschmitt-BölkowBlohm GmbH; D3) betrifft eine Auslöseschaltung für eine Sicherheitseinrichtung
mit einer Prüfschaltung. Dabei wird das Ausgangssignal eines Beschleunigungsaufnehmers in einer Auswerteschaltung mit einem Integrator ausgewertet, die Sicherheitseinrichtung wird bei Überschreiten eines Auslösewerts
(Schwellwert) ausgelöst, und von einer Prüfschaltung werden Referenzimpulse
ausgegeben und mit Prüfimpulsen verglichen, die in bestimmten Zeitintervallen
(getaktet) abgegeben werden können. Auch hier ist das Prinzip des Entriegelns
nicht verwirklicht (Merkmal 3.3), und auch die Zeitbedingung ta > tv (Merkmal
3.2) wird nicht gelehrt.
31
c)
Die deutsche Offenlegungsschrift 22 25 709 (Nissan Motor Co. Ltd.;
D4) beschreibt ein elektronisches Kollisionsdetektorsystem für Kraftfahrzeuge,
bei dem durch einen Kollisionsdetektor ein Kollisionssignal und durch einen
Verzögerungsdetektor ein tiefpassgefiltertes Realverzögerungssignal erzeugt
werden, und weiter in einem Vergleicher ein Treibersignal erzeugt wird, wenn
das Realverzögerungssignal ein in einem Funktionsgenerator erzeugtes Bezugsverzögerungssignal übersteigt, und das Treibersignal die Sicherheitsvorrichtung betätigt. Während des Testbetriebs, bei dem das Sicherheitssystem
auf seine ordnungsgemäße Funktion getestet wird, kommt es dabei zu einer
- 15 -
Sperrung der Rückhaltemittel (S. 6 letzter Abs.). Auch hier wird ein Zusammenhang zwischen der Ansprechzeit und der Verriegelungs-Freigabezeit nicht
hergestellt, insbesondere nicht in dem Sinn, dass die VerriegelungsFreigabezeit kleiner als die Ansprechzeit sein soll (Merkmal 3.2).
d) Die wie die zugehörige Veröffentlichung der europäischen Patent-
32
anmeldung 402 622 (B3), die nicht für die Bundesrepublik Deutschland erfolgt
und damit nach Art. 54 Abs. 3, 4 EPÜ in der bis zum 13. Dezember 2007 geltenden und auf das Streitpatent noch anzuwendenden Fassung (vgl. Moufang
in Schulte, PatG, 8. Aufl. 2008, Rdn. 88 zu § 3) insgesamt nicht zu berücksichtigen ist, nachveröffentlichte, aber zeitrangältere deutsche Patentschrift
39 19 376 (Daimler-Benz AG; D2), die nur für die Neuheitsprüfung relevant ist
(Art. 56 Satz 2 EPÜ), beschreibt eine Zündvorrichtung für eine Insassenschutzvorrichtung in einem Fahrzeug. Dabei ist der Schalter des elektronischen
Schlosses erst dann ansteuerbar, wenn spätestens bei Beaufschlagung mit
einem zur Aktivierung vorgesehenen Zündsignal auch ein Entriegelungssignal
übertragen worden ist. Auch hierbei ist jedenfalls eine VerriegelungsFreigabezeit nicht offenbart und damit auch nicht die Zeitbedingung (Merkmal
3.2).
33
e) Die deutsche Offenlegungsschrift 36 39 065 (Robert Bosch GmbH;
BB13) betrifft ein Verfahren und eine Vorrichtung zur Überwachung rechnergesteuerter Stellglieder. Die Steuersignale werden am Ausgang eines Prozessrechners (10) einer Auswerteschaltung (18) zugeführt und während der Prüfzeit
wird die Weitergabe des Steuersignals an den Eingang (28) des Stellglieds (12)
zeitlich verzögert. Wird mittels der Auswerteschaltung festgestellt, dass das
Steuersignal korrekt ist, wird der Zeitverzögerungsschaltung (30) über ein Freigabesignal am Eingang (36) signalisiert, dass das Steuersignal über den Ausgang (46) dem Eingang (28) des Stellglieds zuzuführen ist.
- 16 -
34
Damit fehlt es, worauf die Beklagte zutreffend hingewiesen hat, an einer
Entriegelung der bis zum Ablauf der Verriegelungs-Freigabezeit verriegelten
Zündendstufe im Sinn des Merkmals (3.3). Dem Stellglied (12) wird zwar - ordnungsgemäße Funktion der Zeitverzögerungsschaltung vorausgesetzt - nur
dann ein die Zündendstufe durchschaltendes Steuersignal zugeführt, wenn das
Freigabesignal am Eingang (36) anliegt. Darin ist jedoch mit dem gerichtlichen
Sachverständigen keine die Zündendstufe (ver- und) entriegelnde Sperrschaltung zu sehen. Verriegelt ist die Zündendstufe vielmehr nur dann, wenn die
Zündung trotz anliegenden Steuersignals nicht erfolgen kann. Vorkehrungen
hierfür sieht die Veröffentlichung nicht vor. Zudem wird nur gelehrt, dass die
Ansprechverzögerung durch die Prüfung gering gehalten werden muss und so
zu bemessen ist, "dass die Funktionsweise einer mit einem Rechner gesteuerten Stellglied ausgerüsteten Anlage nicht beeinträchtigt wird" (Sp. 4 Z. 25-32);
die Verzögerungsdauer kann "auf die jeweils kürzest mögliche Zeitdauer" beschränkt werden (Sp. 4 Z. 67 - Sp. 5 Z. 1). Damit ist die Beziehung ta > tv im
Sinn des Merkmals (3.2) nicht offenbart.
35
2. Die Ergebnisse der Verhandlung und Beweisaufnahme erlauben
nicht die Würdigung, dass der Gegenstand des verteidigten Patentanspruchs 1
des Streitpatents dem Fachmann aus dem Stand der Technik nahegelegt war.
36
Die von der Klägerin zur Begründung des Naheliegens herangezogene
deutsche Offenlegungsschrift 30 01 780 (Becker Autoradiowerk GmbH; D8)
beschreibt, wie die Beklagte zutreffend darlegt, keine Sperrschaltung und somit
weder eine Ver- noch eine Entriegelung der Zündendstufe. Der Senat vermag
nicht zu erkennen und es wird auch von der Klägerin nicht dargelegt, inwiefern
durch sie oder die bei der Neuheit erörterten Entgegenhaltungen eine nicht nur
bei der Einschaltung des Systems, sondern auch während des normalen Fahr-
- 17 -
zeugbetriebs wirksame Sperrschaltung für die Zündendstufe mit einer an die
Ansprechzeit des Auslösesensors anschließenden und zu dieser in zeitliche
Beziehung gesetzten Verriegelungsfreigabezeit angeregt sein sollte. Erst recht
ergeben hierfür die weiteren entgegengehaltenen Schriften nichts, auf die auch
die Klägerin bei der Diskussion der erfinderischen Tätigkeit nicht zurückgekommen ist.
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IV. Die nachgeordneten Patentansprüche 2 bis 15 erweisen sich in ihrer
Rückbeziehung auf den verteidigten Patentanspruch 1 als schutzfähig.
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V. Die Kostenentscheidung beruht auf § 121 Abs. 2 Satz 2 PatG i.V.m.
§§ 91, 92 ZPO.
Meier-Beck
Keukenschrijver
Lemke
Mühlens
Asendorf
Vorinstanz:
Bundespatentgericht, Entscheidung vom 11.08.2004 - 4 Ni 36/03 -