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2023-03-06 15:36:57 +01:00
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
4 StR 473/13
vom
4. September 2014
BGHSt:
ja
BGHR:
ja
Nachschlagewerk: ja
Veröffentlichung:
ja
StGB § 13 Abs. 1, § 222, § 239 Abs. 1 und Abs. 4
1. Hat es der hierfür verantwortliche Polizeibeamte unterlassen, nach einer ohne
richterliche Entscheidung erfolgten Ingewahrsamnahme oder Festnahme, an der
er selbst nicht beteiligt war, die für die Fortdauer der Freiheitsentziehung erforderliche unverzügliche Vorführung beim Richter vorzunehmen bzw. die für sie
gebotene richterliche Entscheidung unverzüglich herbeizuführen, ist dies geeignet, den Vorwurf der Freiheitsberaubung durch Unterlassen zu begründen.
2. Jedoch entfällt die Kausalität eines solchen Unterlassens jedenfalls dann, wenn
mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen ist, dass der
zuständige Richter bei unverzüglicher Vorführung und rechtmäßiger Entscheidung - unter Ausschöpfung ihm zustehender Beurteilungsspielräume zugunsten
des Angeklagten - die Fortdauer der Freiheitsentziehung angeordnet hätte.
BGH, Urteil vom 4. September 2014 - 4 StR 473/13 - LG Magdeburg
in der Strafsache
gegen
wegen fahrlässiger Tötung
-2-
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Verhandlung vom
28. August 2014 und in der Sitzung am 4. September 2014, an der teilgenommen haben:
Vorsitzende Richterin am Bundesgerichtshof
Sost-Scheible,
Richterin am Bundesgerichtshof
Roggenbuck,
Richter am Bundesgerichtshof
Cierniak,
Dr. Mutzbauer,
Dr. Quentin
als beisitzende Richter,
Bundesanwalt beim Bundesgerichtshof
lung -,
Bundesanwältin beim Bundesgerichtshof
kündung als Vertreter des Generalbundesanwalts,
Rechtsanwalt
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
der Nebenkläger M.
kündung -,
- in der Verhand- bei der Ver-
und
D.
Rechtsanwalt
als Vertreter der Nebenkläger B.
D.
,
Rechtsanwältin
als Vertreterin des Nebenklägers M.
in Person - bei der Ver-
D.
und A.
D.
,
Herr
S. aus Frankfurt am Main
als allgemein vereidigter Dolmetscher für die Sprache Fulla,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
-3-
1. Die Revisionen des Angeklagten, der Staatsanwaltschaft
und der Nebenkläger gegen das Urteil des Landgerichts
Magdeburg vom 13. Dezember 2012 werden verworfen.
2. Die Rechtsmittelführer haben die Kosten ihrer Rechtsmittel zu tragen. Ferner werden der Staatskasse die durch
das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft verursachten notwendigen Auslagen des Angeklagten auferlegt.
Von Rechts wegen
Gründe:
1
Nachdem der Bundesgerichtshof das den Angeklagten nach 58-tägiger
Hauptverhandlung vom Vorwurf der Körperverletzung mit Todesfolge freisprechende Urteil des Landgerichts Dessau-Roßlau vom 8. Dezember 2008 mit
Urteil vom 7. Januar 2010 mit den Feststellungen wegen Rechtsfehlern in der
Beweiswürdigung aufgehoben hatte, verurteilte das Landgericht Magdeburg
nach 67-tägiger Hauptverhandlung den Angeklagten nunmehr wegen fahrlässiger Tötung zu einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen zu je 90 €. Ferner hat es
bestimmt, dass davon infolge einer dem Angeklagten nicht anzulastenden Verfahrensverzögerung 20 Tagessätze als vollstreckt gelten. Gegen das Urteil richten sich die Revisionen des Angeklagten, der Staatsanwaltschaft und dreier
Nebenkläger jeweils mit der Sachrüge. Der Angeklagte sowie die Nebenkläger
beanstanden zudem das Verfahren. Keines der Rechtsmittel hat Erfolg.
-4-
I.
2
Das Verfahren betrifft den Tod des damals knapp 22 Jahre alten, in
Sierra-Leone geborenen
reviers De.
J.
in einer Gewahrsamszelle des Polizei-
am 7. Januar 2005, in dem der damals 44jährige Angeklagte als
Dienstgruppenleiter tätig war.
3
1. Hierzu hat das Landgericht im Wesentlichen folgende Feststellungen
getroffen:
4
Am 7. Januar 2005 ab 8.03 Uhr teilte die Zeugin Be.
, die mit weite-
ren Frauen im Rahmen eines sogenannten 1-Euro-Jobs Pflegearbeiten in den
Verkehrs- und Grünflächen im Bereich der T.
der Polizeibeamtin H.
straße in De.
verrichtete,
telefonisch mehrfach mit, dass sie von einem "Aus-
länder belästigt" werden. Frau H.
war damals beim Polizeirevier De.
als stellvertretende Dienstgruppenleiterin und "Streifeneinsatzführerin" tätig. Die
daraufhin von ihr verständigten Polizeibeamten Mä.
und Sc.
trafen um
8.20 Uhr vor Ort ein. Ihnen war zum Grund des Einsatzes mitgeteilt worden,
dass vier weibliche Personen durch einen Ausländer massiv belästigt werden,
der hinter ihnen herrenne und versuche, sie "anzutatschen". Während der Zeuge Mä.
Sc.
sich zunächst den anwesenden Frauen zuwandte, fragte der Zeuge
den ihm nicht bekannten, in der Nähe stehenden und sich unauffällig
verhaltenden
J.
nach seinem "Passport". Nachdem
sen Herausgabe verweigert hatte, forderte der Zeuge Sc.
Polizeifahrzeug zu steigen; er wollte "
ins Revier bringen". Auch dies lehnte
Sc.
J.
J.
des-
ihn auf, in das
erst einmal vor Ort weg und
J.
ab. Als der Polizeibeamte
ihn daraufhin zu dem Polizeifahrzeug verbringen wollte, setzte sich
J.
dagegen durch Hin- und Herdrehen zu Wehr. Ihm wurden sodann
-5-
bei fortdauernder Gegenwehr Handfesseln angelegt und er wurde vom Zeugen
Mä. und dessen Kollegen in das Polizeifahrzeug und zum Polizeirevier De.
verbracht. Der Grund hierfür wurde
J.
weder zu diesem Zeitpunkt noch
später mitgeteilt; auch wurde er zu keinem Zeitpunkt belehrt oder befragt, ob
jemand von seiner Ingewahrsamnahme unterrichtet werden soll. Noch im Polizeifahrzeug versuchte
J.
nach dem Polizeibeamten Sc.
zu treten,
wobei entweder durch diesen oder durch einen weiteren Tritt die Plastikverkleidung an der Kurbel der hinteren Seitenscheibe des Polizeifahrzeugs beschädigt
wurde. Auch während der Fahrt zum Polizeirevier machte
J.
"weiterhin
sich wehrende Körperbewegungen", wobei er möglicherweise mit der Nase gegen die Fahrzeugscheibe stieß und sich hierbei leicht verletzte.
5
Auf dem Polizeirevier wurde
und Sc.
J.
von den Polizeibeamten Mä.
zunächst in das im Untergeschoss im Gewahrsamsbereich gele-
gene sogenannte "Arztzimmer" verbracht, wo er sich "erneut renitent" verhielt
und unter anderem mit seinem Kopf in Richtung Wand und Tisch schlug, woraufhin er vom Zeugen Mä. durch Wegrücken des Stuhles, auf dem er saß,
und Festhalten "von erheblichen Selbstverletzungen" abgehalten wurde. Bei
seiner Durchsuchung wurde eine seine Personalien ausweisende, hinsichtlich
einzelner Buchstaben oder Ziffern (des Geburtsjahres und der Straße seines
Wohnsitzes) allerdings nicht oder nur schlecht lesbare, mit einem Lichtbild versehene "Duldung" (Aussetzung der Abschiebung) des Landkreises An.
aufgefunden. Hiervon wurde der Angeklagte unterrichtet, der von der
Polizeibeamtin H.
auch über den Grund der Verbringung des
J.
in den Gewahrsam, nämlich dessen Belästigung von Passanten, seine Widerstandhandlung bei dem Versuch der Personalienfeststellung, seine unklaren
Personalien und seinen alkoholisierten Zustand unterrichtet worden war. Der
Angeklagte versuchte daraufhin um 8.44 Uhr vergeblich, Auskunft über
-6-
J.
beim Einwohnermeldeamt zu erhalten. Nachdem er auch vom Auslän-
deramt keine vollständigen Daten erhalten hatte, führte der Angeklagte eine
INPOL-Abfrage durch, die die Personalien aus der "Duldung" im Wesentlichen
bestätigte und ergab, dass
J.
bereits in den Jahren 2000, 2001 und
2002 unter anderem in De.
und in R.
jeweils durch Fertigung eines
Lichtbildes sowie von Finger- und Handflächenabdrücken erkennungsdienstlich
behandelt worden war. Eine erkennungsdienstliche Behandlung von
hatte zwischenzeitlich auch der Zeuge Mä.
J.
angeordnet. Ferner verständigte
der Angeklagte um 8.47 Uhr den Arzt Dr. Bl.
, der
J.
eine Blut-
probe entnehmen sollte und - trotz weiterer Gegenwehr - um 9.15 Uhr entnahm.
Deren spätere Untersuchung ergab eine Blutalkoholkonzentration von 2,98 Promille; ferner wurden im untersuchten Blut Cocain-Metaboliten nachgewiesen.
Dr. Bl.
6
bejahte auch die Gewahrsamsfähigkeit von
J.
.
Im Anschluss an die Blutentnahme wurde der etwa 170 cm große und
60 kg schwere
J.
von mehreren Polizeibeamten - da er auch hierzu
nicht freiwillig bereit war - in die Gewahrsamszelle Nr. 5 gebracht und - nach
Rücksprache mit Dr. Bl.
- auf dem Rücken liegend mit vier Hand- bzw. Fuß-
fesseln auf einer Matratze fixiert, indem an jedem Hand- bzw. Fußgelenk eine
entsprechende Fessel angebracht und mit jeweils einem in den Podest, auf
dem die Matratze lag, bzw. in der Wand eingelassenen Metallbügel verbunden
wurde. Trotz dieser Fixierung war es
J.
möglich, seinen Oberkörper in
eine sitzende Position aufzurichten und seine Hosentaschen mit den Händen zu
erreichen.
7
In der Zelle befand sich - an der Decke - ein Rauchmelder, der bei einem
Auslösen in dem im ersten Stock des Dienstgebäudes befindlichen Zimmer des
Dienstgruppenleiters einen Piepton und eine blinkende Diode am Bedienele-
-7-
ment der Alarmanlage einschaltete. Ferner war in der in der Wand der Zelle
befindlichen Belüftungsanlage ein ebenfalls auf Rauch reagierender Alarmmelder angebracht. Auch dieser löste - allerdings später als der an der Decke angebrachte Rauchmelder - im Zimmer des Dienstgruppenleiters ein akustisches
Signal aus. In der Zelle befand sich zudem eine mit dem Zimmer des Dienstgruppenleiters verbundene Wechselsprechanlage. Vor der Zelle war am Anfang
und am Ende des Flures jeweils eine Kamera angebracht, deren Bilder - ohne
Aufzeichnung - auf einen Monitor im Zimmer des Dienstgruppenleiters übertragen wurden. In der Zelle selbst war keine Kamera angebracht. Eine Überwachung durch einen im Zellentrakt ununterbrochen anwesenden Polizeibeamten fand nicht statt.
8
Nachdem die Zellentür und die Tür zum Flur der Zellenräume abgeschlossen worden waren, brachte der Polizeibeamte Mä. die hierfür benötigten
Schlüssel sowie die Schlüssel der Fußfesseln in das Zimmer des Dienstgruppenleiters. Er informierte den Angeklagten darüber, dass
J.
fortdau-
ernd renitent geblieben sei, sich selbst zu verletzen versucht habe und er deshalb in der Zelle Nr. 5 vierfach fixiert worden sei, nunmehr sei aber alles in Ordnung. Der Angeklagte trug daraufhin die Ingewahrsamnahme mit den entsprechenden Uhrzeiten sowie den Personalien von
J.
in das Buch über
Freiheitsentziehungen ein und gab als Grund "Identitätsfeststellung § 163
StPO" an; auch die "Fixierung zur Eigensicherung" vermerkte er und versah die
Eintragung mit dem Zusatz "i.O.". Er ging davon aus, dass
J.
zum
eigenen Schutz aufgrund seines alkoholisierten Zustands sowie zur genaueren
Identitätsfeststellung wegen des Vorwurfs der Sachbeschädigung (an dem Polizeifahrzeug) und des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte ordnungsgemäß festgenommen worden war und bis etwa 14.00 Uhr in der Zelle bleiben
muss. Davon, ob durch die Fixierung weitere selbstgefährdende Handlungen
-8-
von
J.
- etwa ein Schlagen des Kopfes gegen die Zellenwand - ausge-
schlossen waren, überzeugte er sich nicht. Auch einen Richter verständigte der
Angeklagte von der Ingewahrsamnahme des
J.
nicht, da ihm die ent-
sprechenden Vorschriften unbekannt waren und während seiner Zeit als
Dienstgruppenleiter seit 1993 noch nie ein Richter über eine freiheitsentziehende Maßnahme zur Identitätsfeststellung oder nach dem damals in SachsenAnhalt geltenden Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (SOG
LSA) informiert worden war. Vielmehr ging er davon aus, dass solche Ingewahrsamnahmen (ohne richterliche Anordnung) bis zu 12 Stunden andauern
dürfen. Auch nach dem Tod von Ma.
Bi.
im Oktober 2002, der "zum
Ausnüchtern" in die Gewahrsamszelle Nr. 5 des Polizeireviers De.
ver-
bracht und dort während der Dienstschicht des Angeklagten 16 Stunden später
an den Folgen eines Schädelbruchs verstorben war, und dem hierzu gegen den
Angeklagten eingeleiteten - schließlich gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellten - staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren wurde der Angeklagte auf
einen - im damaligen Verfahren "nicht thematisierten" - Richtervorbehalt bei
Ingewahrsamnahmen nicht hingewiesen, obwohl seinen Vorgesetzten die Praxis der Beamten des Polizeireviers De.
, keine richterlichen Entscheidungen
zu erholen, bekannt war. Auch der vom Angeklagten gegen 11.30 Uhr von der
Ingewahrsamnahme des
J.
unterrichtete Einsatzleiter K.
wies ihn
nicht darauf hin, dass er hiervon einen Richter informieren müsse. Dem Angeklagten hätte jedoch bewusst sein müssen, dass es einer ständigen optischen
Überwachung des stark alkoholisierten
J.
, der zuvor schon versucht
hatte, sich selbst zu verletzen, bedurft hätte, um diesen von weiteren Selbstgefährdungen abzuhalten, und allein die akustische Überwachung und die Überwachung zu bestimmten Kontrollzeiten nicht geeignet waren, eine Gesundheitsbeeinträchtigung oder -verschlechterung bei ihm zu verhindern. Einer
Überwachung der Zelle durch einen im Zellentrakt ständig anwesenden Beam-
-9-
ten stand indes zumindest aus Sicht des Angeklagten die geringe Personalstärke an jenem Tag entgegen; seinen Vorgesetzten teilte er das Problem oder
entsprechende Bedenken aber nicht mit. Vielmehr sollten - wie bei Ma.
Bi.
- neben den in Betrieb befindlichen Alarmmeldern lediglich regel-
mäßige, bei
J.
in halbstündlichem Abstand erfolgende Zellenkontrollen
sowie die akustische Überwachung über die Wechselsprechanlage stattfinden.
9
Um 10.03, 10.37 und 11.05 Uhr wurde
J.
in seiner Zelle von
einem bzw. mehreren Polizeibeamten auch kontrolliert; eine weitere, vom Angeklagten für 9.30 Uhr eingetragene Kontrolle war - wie er wusste - nicht erfolgt.
Ferner betrat möglicherweise gegen 11.30 Uhr der Polizeibeamte Mä. die Gewahrsamszelle, um nach seinem Feuerzeug zu suchen, das er dort jedoch nicht
auffand. Um 11.45 Uhr begab sich die Polizeibeamtin H.
gen zur Zelle des
J.
mit einem Kolle-
, da dieser schon einige Zeit lang durch lautes
Schimpfen und Rufen über die Wechselsprechanlage zu hören war und verlangt hatte, dass ihm die Fesseln gelöst werden.
J.
bat auch die Be-
amtin, seine Fesseln zu lösen, und fragte, warum er sich in der Zelle befinde,
was die Zeugin damit beantwortete, er wisse schon, warum er dort sei.
10
Nachdem
J.
auch bei dieser Kontrolle der Grund seines Ge-
wahrsams nicht genannt worden war und er den Eindruck hatte, dass er mit
einer alsbaldigen Lösung der Fixierung nicht rechnen konnte, kam er auf die
Idee, in der Zelle ein Feuer anzuzünden, wobei er davon ausging, dass Polizeibeamte alsbald auf das Feuer aufmerksam und ihn aus der Zelle herausholen
werden. Mit einem Feuerzeug, das er entweder bei sich hatte, weil es bei seiner
Durchsuchung übersehen worden war, oder das der Polizeibeamte Mä. in der
Zelle verloren hatte, gelang es
J.
, die schwer entflammbare Polyester-
ummantelung der etwa neun Zentimeter dicken Matratze durch Erhitzen mit
- 10 -
dem in der rechten Hand gehaltenen Feuerzeug aufzuweichen und aufzureißen
und die aus Polyurethan bestehende Füllung der Matratze auf einer Länge von
bis zu 50 cm und einer Breite von maximal 30 cm freizulegen. Anschließend
setzte er kurz vor 12.05 Uhr das Füllmaterial der Matratze in Brand, wobei bis
zu dessen selbständigem Brennen weder Rauch noch Ruß entstand, der ausreichte, um einen der Rauchmelder auszulösen. Entweder um dem sich ausbreitenden Feuer auszuweichen oder bei dem Versuch, das Feuer auszublasen, geriet
J.
bei leicht erhobenem Oberkörper mit der Nase über oder
in die heißen Gase der Flamme oder in die Flamme selbst und atmete Luft mit
einer Temperatur von 180ºC oder mehr ein. Hierbei erlitt er einen inhalativen
Hitzeschock, der zu seinem sofortigen Tod führte. Ob
J.
zuvor Hilfe-
oder Schmerzensschreie ausgestoßen hatte, vermochte das Schwurgericht
nicht festzustellen.
11
Am Arbeitsplatz des Angeklagten waren über die Wechselsprechanlage
zu Beginn des Brandgeschehens von dem Feuer verursachte Geräusche zu
hören, die dort wie Plätschern zu vernehmen waren. Auf diese Geräusche
machte die Zeugin H.
den Angeklagten aufmerksam, der sie aber eben-
falls nicht einordnen konnte. Kurz darauf wurde von dem in der Decke der Zelle
angebrachten Rauchmelder Alarm ausgelöst und im Zimmer des Dienstgruppenleiters mit einem lauten Piepen und einer blinkenden Diode angezeigt. Daraufhin schaltete der Angeklagte den Alarm ab, da er ihn für einen im Jahr 2004
schon mehrmals ausgelösten Fehlalarm hielt. Auch das etwa zehn Sekunden
später erneut einsetzende Alarmsignal wurde entweder vom Angeklagten oder
von der Zeugin H.
J.
abgeschaltet. Der Angeklagte - der bis dahin
nicht zu Gesicht bekommen hatte - verließ sodann das Zimmer in Rich-
tung Gewahrsamsbereich. Da er nicht alle Schlüssel mitgenommen hatte,
musste er jedoch umkehren und diese holen, wobei er entweder zuvor oder auf
- 11 -
dem Weg zum Zellentrakt den Einsatzleiter K.
von dem Alarm verständigte.
Nachdem der Angeklagte sodann mit einem auf dem Weg in den Gewahrsamsbereich hinzugebetenen Kollegen die Türen zum Zellentrakt und zur Zelle Nr. 5
geöffnet hatte und ihm dort "eine große Menge verrußter Luft" entgegengekommen war, lief der Angeklagte auf den Parkplatz des Polizeireviers, während
sein Kollege vergeblich versuchte, das Feuer in der Zelle zu löschen. Dies gelang letztlich erst der um 12.20 Uhr eingetroffenen Feuerwehr.
12
2. Das Landgericht ist nach umfangreicher Beweisaufnahme von einer
Brandlegung durch
J.
J.
selbst überzeugt. Misshandlungen von
durch den Angeklagten oder andere Polizeibeamte vermochte die
Kammer auch hinsichtlich eines bei der zweiten Obduktion entdeckten Nasenbeinbruchs des
J.
nicht festzustellen. Andere Brandursachen - ins-
besondere einen technischen Defekt oder eine Brandlegung durch Polizeibeamte oder Dritte - schloss das Schwurgericht aus. Zugunsten des Angeklagten
ging es davon aus, dass
J.
schon im Zeitpunkt des im Zimmer des
Dienstgruppenleiters über die Wechselsprechanlage zu hörenden Plätscherns
verstorben war und er deshalb auch bei einem sofortigen Hinuntereilen des Angeklagten nach dem Wahrnehmen dieses Plätscherns oder des ersten Alarmsignals nicht mehr hätte gerettet werden können.
13
Die Verurteilung des Angeklagten wegen fahrlässiger Tötung stützt das
Schwurgericht auf der Grundlage der diesem bekannten, damals geltenden Polizeigewahrsamsordnung darauf, dass er trotz des Wissens um die Selbstverletzungsversuche des
J.
und um die Einschränkung seiner Willensbe-
stimmung dessen Gewahrsam ohne ständige optische Überwachung und - falls
ihm dies wegen der knappen Personallage nicht möglich gewesen sei - ohne
Remonstration bei seinen Vorgesetzten zugelassen habe. Zwar habe der An-
- 12 -
geklagte - insbesondere aufgrund der Mitteilungen des Zeugen Mä. - davon
ausgehen dürfen, dass die Ingewahrsamnahme des
J.
rechtmäßig
gewesen sei, da gegen diesen der Verdacht einer Straftat bestanden habe, seine Personalien noch nicht abschließend geklärt gewesen seien und die Gefahr
einer Selbstschädigung bestanden habe. Auch sei die Fixierung des
J.
rechtmäßig gewesen. Nach der Überzeugung des Schwurgerichts hätte dem
Angeklagten aber zumindest aufgrund seiner Erfahrungen in Zusammenhang
mit dem Tod von Ma.
rung des
J.
Bi.
sowie der erkennbar starken Alkoholisie-
und seiner Versuche, sich zu verletzen, bewusst sein kön-
nen und müssen, dass eine Zellenkontrolle im halbstündlichen Abstand nicht
ausreichend gewesen sei, um bei Fortsetzung des selbstschädigenden Verhaltens oder einer Gesundheitsgefahr aus anderen Gründen rechtzeitig eingreifen
zu können. Der Tod von
J.
sei für den Angeklagten vorhersehbar ge-
wesen. Der Angeklagte hätte ihn auch vermeiden können, zumal Ziffer 5.2 der
damals geltenden Polizeigewahrsamsordnung geregelt habe, dass - sollte während der Unterbringungszeit ausreichend Personal für den Gewahrsamsdienst
nicht zur Verfügung stehen - die Unterbringung im Wege der Amtshilfe in einer
Justizvollzugsanstalt zu erfolgen habe. Für eine Verurteilung wegen eines vorsätzlichen Körperverletzungs- oder Tötungsdelikts fehle es dagegen am Vorsatz. Eine Verurteilung wegen Freiheitsberaubung mit Todesfolge, die nach Ansicht des Schwurgerichts wegen der Missachtung des Richtervorbehalts nach
der Ingewahrsamnahme des
J.
in Betracht gekommen wäre, scheide
aus, weil der Angeklagte insofern einem unvermeidbaren Verbotsirrtum erlegen
sei.
II.
14
Die vom Angeklagten erhobenen Verfahrensrügen haben keinen Erfolg.
- 13 -
15
1. Die Rüge, das Schwurgericht habe den Sachverhalt "nicht umfassend
genug aufgeklärt", weil es den Angeklagten hinsichtlich der - im Urteil bejahten Pflicht zur Remonstration nicht zum Inhalt seines Gesprächs mit dem Zeugen
K.
befragt habe, ist bereits unzulässig. Denn die Revision teilt das Beweis-
ergebnis, also die zu erwartenden Angaben des Angeklagten hierzu, nicht mit
(vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 57. Aufl., § 244 Rn. 81 mwN).
16
Eine Rüge, das Gericht hätte den Angeklagten darauf hinweisen müssen, dass es die Verletzung der Pflicht zur Remonstration zur Begründung des
Fahrlässigkeitsvorwurfs heranziehen könnte, ist nicht erhoben. Die Beanstandung wurde vom Verteidiger des Angeklagten in der Revisionsbegründungsschrift vielmehr (mehrfach) ausdrücklich als Aufklärungsrüge bezeichnet. Der
dortige Vortrag zu dem gerichtlichen Hinweis diente ersichtlich allein dazu,
deutlich zu machen, dass für den Angeklagten und seine Verteidiger in der
Hauptverhandlung kein Anlass bestand, sich zu diesem Punkt zu äußern bzw.
hierauf die Befragung des Angeklagten auszuweiten. Dem Senat ist es daher
verwehrt, sich in diesem Zusammenhang mit einer Verletzung des § 265 StPO
zu befassen. Denn Voraussetzung und Grundlage einer zulässigen Verfahrensrüge ist die präzise Bezeichnung der Handlung oder Unterlassung des Gerichts,
gegen die der Vorwurf der fehlerhaften Verfahrensweise erhoben wird (vgl.
BVerfG, Beschluss vom 8. Dezember 2005 - 2 BvR 449/05, StV 2006, 57, 58
mwN). Allein die sich hieraus ergebende Angriffsrichtung bestimmt den Prüfungsumfang seitens des Revisionsgerichts, da es einem Revisionsführer wegen seiner Dispositionsbefugnis freisteht, ein Prozessgeschehen nur unter
einem bestimmten Gesichtspunkt zu rügen, einen etwa zusätzlich begangenen
Verfahrensverstoß aber hinzunehmen (vgl. BGH, Urteil vom 3. September 2013
- 5 StR 318/13, BGHR StPO § 344 Abs. 2 Satz 2 Zulässigkeit 1 mwN).
- 14 -
17
2. Soweit der Angeklagte geltend macht, das Schwurgericht "hätte den
Fall Bi.
weiter ausermitteln müssen", ist die Verfahrensrüge unzulässig
(§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO), da schon nicht mitgeteilt wird, welcher Beweismittel
es sich hierbei hätte bedienen sollen (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, aaO).
18
3. Auch die zur Vorhersehbarkeit des Taterfolgs für den Angeklagten erhobene Aufklärungsrüge hat keinen Erfolg. Soweit die Revisionsbegründung
insofern konkrete Beweismittel benennt, wurden die Beweise vom Schwurgericht erhoben.
19
4. Die Rüge, das Schwurgericht habe gegen § 265 Abs. 1 StPO verstoßen, weil es den Angeklagten nicht darauf hingewiesen habe, "dass er wegen
seiner Erfahrungen aus dem Fall Bi.
und aus einer vermeintlichen all-
gemeinen Lebenserfahrung hätte erkennen müssen, dass eine stetige visuelle
Beobachtung geboten war und deshalb eine Verurteilung wegen Fahrlässigkeit
in Betracht gezogen werde", ist aus den vom Generalbundesanwalt in der Antragsschrift vom 12. Dezember 2013 aufgeführten Erwägungen jedenfalls unbegründet.
III.
20
Die Verfahrensrüge des Nebenklägers M.
D.
, mit der er
geltend macht, dass an den Hauptverhandlungstagen vom 14. Januar und
6. Dezember 2011 für ihn kein Dolmetscher zugezogen worden sei, greift nicht
durch. Auch die Verfahrensrügen der Nebenkläger B.
D.
haben keinen Erfolg.
und A.
- 15 -
21
1. a) Der Rüge des Nebenklägers M.
D.
liegt im We-
sentlichen folgender Verfahrensgang zugrunde:
22
Am 14. Januar 2011 war für den Nebenkläger M.
D.
bei
Sitzungsbeginn zwar eine Dolmetscherin für die französische Sprache anwesend; diese wurde aber nach kurzer Zeit entlassen, weil der Nebenkläger
M.
D.
nicht französisch, sondern nur Fulla spricht. Lediglich
am Nachmittag wurde für die Abgabe einer Erklärung des Nebenklägers ein
Dolmetscher für Fulla zugezogen. Die Hauptverhandlung im Übrigen, unter anderem die Vernehmung zweier Zeugen, wurde an diesem Tag ohne Dolmetscher für den Nebenkläger durchgeführt. Auch am 6. Dezember 2011 wurden
mehrere Zeugen vernommen, Urkunden verlesen und ein Augenschein eingenommen, ohne dass für den Nebenkläger ein Dolmetscher tätig war.
23
b) Die Rüge hat keinen Erfolg.
24
aa) Der Nebenkläger gehört nicht zu den Personen, deren Anwesenheit
in der Hauptverhandlung das Gesetz vorschreibt (BGH, Urteil vom 30. Juli 1996
- 5 StR 199/96, BGHR StPO § 400 Abs. 1 Prüfungsumfang 2; Meyer-Goßner/
Schmitt, aaO, § 338 Rn. 42). Seine Abwesenheit in der Hauptverhandlung führt
daher nicht zum Vorliegen des absoluten Revisionsgrundes des § 338 Nr. 5
StPO, vielmehr kann er sie lediglich nach § 337 StPO rügen (BGH aaO; Beschluss vom 13. Januar 1999 - 2 StR 586/98, NStZ 1999, 259; Meyer-Goßner/
Schmitt, aaO). Nichts anderes gilt in Fällen, in denen der Nebenkläger zwar
anwesend ist, ihm aber kein Dolmetscher zur Seite steht. Zwar ist nach § 185
GVG von Amts wegen ein Dolmetscher zuzuziehen, wenn in der Hauptverhandlung ein Beteiligter - ein solcher ist auch der Nebenkläger - der deutschen Sprache nicht mächtig ist (BGH, Beschluss vom 22. November 2002
- 16 -
- 1 StR 298/02, BGHR GVG § 185 Zuziehung 3). Da die Abwesenheit eines
notwendigen Dolmetschers aber für den Nebenkläger zur Folge hat, dass er der
Hauptverhandlung nicht folgen und er dort seine Rechte nicht wahrnehmen, sie
also nicht beeinflussen kann, kann er bei Vorliegen einer solchen Gesetzesverletzung - revisionsrechtlich - nicht besser gestellt sein, als wenn er gar nicht
anwesend war. Wie seine eigene Abwesenheit kann er deshalb auch die Abwesenheit des für ihn notwendigen Dolmetschers lediglich als relativen Revisionsgrund geltend machen.
25
bb) Die hierfür erforderliche Verfahrensrüge ist jedoch nicht zulässig erhoben.
26
(1) Zwar braucht sich die Revisionsbegründung mit der Frage des Beruhens grundsätzlich nicht zu befassen (vgl. dazu indes BGH, Urteil vom 26. Mai
1981 - 1 StR 48/81, BGHSt 30, 131, 135). Nach § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO ist es
aber erforderlich, dass die Revisionsbegründung den zur Beurteilung der Zulässigkeit erforderlichen Sachverhalt eigenständig und vollständig vorträgt. Hierfür
muss sie im Fall einer Nebenklägerrevision auch - soweit sich dies nicht schon
aus dem Antrag ergibt oder von selbst versteht - darlegen, dass sie mit der Verfahrensrüge ein nach § 400 StPO zulässiges Ziel verfolgt. Beanstandet der Nebenkläger daher, dass er an der Hauptverhandlung aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht oder nur eingeschränkt teilnehmen konnte, muss er
vortragen, dass er - läge die Gesetzesverletzung nicht vor - Tatsachen hätte
vorbringen oder Beweismittel hätte benennen können, die für den Schuldspruch
wegen eines Nebenklagedelikts wesentliche Bedeutung haben konnten (vgl.
BGH, Urteil vom 30. Juli 1996 - 5 StR 199/96, BGHR StPO § 400 Abs. 1 Prüfungsumfang 2; Beschluss vom 13. Januar 1999 - 2 StR 586/98, NStZ 1999,
259).
- 17 -
27
(2) Den sich hieraus ergebenden Anforderungen genügt der Vortrag der
Revision, die ohne weitere Konkretisierung lediglich behauptet, dass der Nebenkläger "Anträge oder Erklärungen abgegeben hätte, die das Urteil hätten
beeinflussen können", jedenfalls angesichts der Besonderheiten des vorliegenden Falles nicht. Denn es ist nichts dafür ersichtlich, dass der bei dem Tatgeschehen nicht anwesende Nebenkläger, dessen anwaltlicher Beistand auch an
den in Frage stehenden Hauptverhandlungstagen ununterbrochen anwesend
war, ohne die Abwesenheit des Dolmetschers zu beanstanden, an diesen beiden Tagen Tatsachen hätte vorbringen oder Beweismittel hätte benennen können, die für den Schuldspruch wegen eines Nebenklagedelikts wesentliche Bedeutung haben konnten, zumal an mehreren weiteren Hauptverhandlungstagen
für ihn Dolmetscher tätig waren und ihm auf Anregung seiner Rechtsanwältin
auch am Nachmittag des 14. Januar 2011 für die Abgabe einer Erklärung ein
Dolmetscher zur Seite gestellt wurde. Dass der Nebenkläger M.
D.
in seinen Rechten dadurch betroffen wurde, dass er bei anderer Gele-
genheit keine (sachdienlichen) Erklärungen abgeben, Tatsachen vorbringen
oder Beweisanträge stellen konnte, weil er der an den beiden Verhandlungstagen durchgeführten Beweisaufnahme bzw. Hauptverhandlung im Übrigen ohne
einen Dolmetscher nicht folgen konnte, hat die Revision nicht behauptet und
nicht geltend gemacht.
28
(3) Im Übrigen versäumt es die Revision vorzutragen, dass die Vertreterin des Nebenklägers M.
D.
selbst mit Schriftsatz vom 15. No-
vember 2011 mitgeteilt hat, dass ihr Mandant in der Hauptverhandlung einen
Dolmetscher für die französische Sprache benötige. Auch dies hat die Unzulässigkeit der Verfahrensrüge zur Folge (vgl. KK-Gericke, StPO, 7. Aufl., § 344
Rn. 38 mwN).
- 18 -
29
2. Die Verfahrensrügen der Nebenkläger B.
und A.
D.
haben bereits aus diesen Gründen keinen Erfolg, soweit sie ebenfalls beanstanden, dass für den Nebenkläger M.
D.
an den Hauptver-
handlungstagen vom 14. Januar und 6. Dezember 2011 kein Dolmetscher für
Fulla zugezogen worden war; denn auch ihr Revisionsvortrag geht nicht weiter
als der des Nebenklägers M.
D.
. Soweit sie ferner geltend
machen, auch sie seien der deutschen Sprache nicht mächtig, trägt die Revision selbst vor, dass diese Nebenkläger an keinem der Hauptverhandlungstage
zugegen waren. Auf einer Gesetzesverletzung zu ihrem Nachteil durch die Abwesenheit eines Dolmetschers kann das Urteil daher nicht beruhen.
IV.
30
Die Überprüfung des Urteils aufgrund der vom Angeklagten erhobenen
Sachrüge hat keinen durchgreifenden Rechtsfehler zu seinem Nachteil ergeben.
31
1. Der Schuldspruch wegen fahrlässiger Tötung hält der Überprüfung
stand. Insbesondere ist das Schwurgericht rechtsfehlerfrei von einer Pflichtverletzung des Angeklagten ausgegangen, dem es aufgrund des Zustandes und
des Verhaltens von
J.
oblag, dessen ständige (auch) optische Über-
wachung in der Zelle zu veranlassen, um hierdurch der Gefahr eines gesundheitlichen Schadens für
32
J.
zu begegnen.
a) Fahrlässig handelt, wer eine objektive Pflichtwidrigkeit begeht, sofern
er diese nach seinen subjektiven Kenntnissen und Fähigkeiten vermeiden konnte, und die Pflichtwidrigkeit objektiv und subjektiv vorhersehbar den Erfolg herbeigeführt hat (BGH, Beschluss vom 10. Mai 2001 - 3 StR 45/01; Urteile vom
- 19 -
26. Mai 2004 - 2 StR 505/03, BGHSt 49, 166, 174; vom 20. November 2008
- 4 StR 328/08, BGHSt 53, 55, 58).
33
b) Diese Voraussetzungen hat das Schwurgericht rechtsfehlerfrei bejaht.
34
aa) Insbesondere ist das Landgericht aufgrund einer aus Rechtsgründen
nicht zu beanstandenden Würdigung von einem pflichtwidrigen Verhalten des
Angeklagten ausgegangen.
35
Pflichtwidrig handelt, wer objektiv gegen eine Sorgfaltspflicht verstößt,
die gerade dem Schutz des beeinträchtigten Rechtsguts dient. Dabei bestimmen sich Art und Maß der anzuwendenden Sorgfalt nach den Anforderungen,
die bei objektiver Betrachtung der Gefahrenlage ex ante an einen besonnenen
und gewissenhaften Menschen in der konkreten Lage und sozialen Rolle des
Handelnden zu stellen sind (BGH, Urteil vom 1. Februar 2005 - 1 StR 422/04,
BGHR StGB § 222 Pflichtverletzung 6 mwN). Nicht entscheidend ist dagegen,
ob die Pflichtwidrigkeit durch ein aktives Tun begangen wurde oder in einem
Unterlassen begründet ist (BGH, Urteile vom 1. Februar 2005 - 1 StR 422/04,
aaO; vom 14. März 2003 - 2 StR 239/02, NStZ 2003, 657, jeweils mwN).
36
Die Pflichten eines im Jahr 2005 in De.
für den Gewahrsamsvollzug
verantwortlichen Polizeibeamten ergeben sich insbesondere aus der Polizeigewahrsamsordnung (in der damals geltenden Fassung vom 27. März 1995,
MBl. LSA Nr. 34/1995 S. 1211 ff.; im Folgenden abgekürzt als PGO). Diese forderte schon in Nummer 3.1. Satz 2, dass der Gewahrsamsvollzug so auszugestalten ist, dass "die Gefahr gesundheitlicher Schäden" für die verwahrte Person vermieden wird. Hierzu regelte Nummer 5.2. Sätze 5 und 6 PGO, dass für
die Unterbringungszeit ausreichend Personal - insbesondere für den Gewahr-
- 20 -
samsdienst (dazu Nummer 7. PGO) - zur Verfügung stehen muss oder - soweit
diese Voraussetzung nicht erfüllt ist - die Unterbringung im Wege der Amtshilfe
in einer Justizvollzugsanstalt zu erfolgen hat. Zudem bestimmte Nummer 31.3.
PGO, dass betrunkene Personen im Abstand von "höchstens" 30 Minuten zu
kontrollieren sind, soweit seitens des untersuchenden Arztes keine besonderen
Hinweise ergangen sind.
37
Daran gemessen begegnet es keinen Bedenken, dass das Schwurgericht bei der gebotenen objektiven Betrachtung ex ante einen Sorgfaltsverstoß
des Angeklagten bejaht hat, weil er nicht für eine ständige auch optische Überwachung des
J.
gesorgt hat. Denn der Angeklagte war - wie er wuss-
te - trotz der Einschaltung eines Arztes zur Prüfung der Gewahrsamsfähigkeit
des
J.
gemäß Nummer 2.1. Satz 4 PGO selbst für den ordnungsge-
mäßen Vollzug der Polizeigewahrsamsordnung verantwortlich. Ihm oblag es
daher auch, durch geeignete Maßnahmen der Gefahr eines gesundheitlichen
Schadens für
J.
entgegenzuwirken. Eine solche - erforderliche und
geeignete - Maßnahme hat das Schwurgericht rechtsfehlerfrei in der ständigen
optischen Überwachung des
J.
gesehen. Denn dieser war nicht nur
stark alkoholisiert, so dass schon nach Nummer 31.3. PGO eine Kontrolle in
"höchstens" halbstündlichem Abstand zu erfolgen hatte. Vielmehr war er - wie
der Angeklagte wusste - an allen Gliedmaßen fixiert und daher allenfalls eingeschränkt in der Lage, den aufgrund seines (alkoholisierten) Zustandes bestehenden Gesundheitsgefahren zu begegnen. Hinzu kam, dass dem Angeklagten
auch das zuvor von
J.
gezeigte aggressive, insbesondere sein selbst-
verletzendes Verhalten bekannt war (unter anderem mit Stößen des Kopfes in
Richtung Wand und Tisch, wobei er erst durch das Eingreifen eines Polizeibeamten von "erheblichen Selbstverletzungen" abgehalten werden konnte). Vor
diesem Hintergrund ist es aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden, dass das
- 21 -
Schwurgericht - auch angesichts der Erfahrungen des Angeklagten im "Fall
Bi.
" - das Unterlassen der Anordnung einer ständigen optischen
Überwachung des
J.
durch den Angeklagten als eine den Fahrlässig-
keitsvorwurf gegen diesen begründende Pflichtverletzung gewertet hat.
38
bb) Da die genannten Regelungen in den Nummern 3.1., 5.2. und 31.3.
der Polizeigewahrsamsordnung zumindest auch zum Schutz von Leben und
Gesundheit der verwahrten Person bestimmt waren, hat der Angeklagte mit
deren Missachtung gegen eine ihm obliegende Sorgfaltspflicht verstoßen, die
gerade dem Schutz des beeinträchtigten Rechtsguts gedient hat.
39
cc) Auch konnte der Angeklagte, der eingeräumt hat, die Polizeigewahrsamsordnung und deren hier einschlägige Regelungen gekannt zu haben, nach
den Feststellungen des Landgerichts die Pflichtverletzung nach seinen subjektiven Kenntnissen und Fähigkeiten insbesondere dadurch vermeiden, dass er die
dauerhafte optische Überwachung von
J.
von einem der im "üblichen
Streifeneinsatzdienst" befindlichen Polizeibeamten als einem im Zellenbereich
ununterbrochen anwesenden Gewahrsamsbeamten vornehmen lässt oder er
die Verbringung des
40
J.
in eine Justizvollzugsanstalt veranlasst.
dd) Das Schwurgericht ist ferner ohne Rechtsfehler davon ausgegangen,
dass die Pflichtwidrigkeit objektiv und subjektiv vorhersehbar den Erfolg herbeigeführt hat.
41
Die Vorhersehbarkeit erfordert nicht, dass der Angeklagte die Folgen
seines Nicht-Handelns in allen Einzelheiten voraussehen konnte; vielmehr genügt, dass sie in ihrem Gewicht im Wesentlichen voraussehbar waren (BGH,
Urteile vom 8. September 1993 - 3 StR 341/93, BGHSt 39, 322, 324; vom
- 22 -
26. Mai 2004 - 2 StR 505/03, BGHSt 49, 166, 174; Beschluss vom 10. Mai 2001
- 3 StR 45/01; Urteil vom 20. November 2008 - 4 StR 328/08, BGHSt 53, 55,
59). Tritt der Erfolg durch das Zusammenwirken mehrerer Umstände ein, müssen dem Täter alle - jedoch ebenfalls nicht in allen Einzelheiten - erkennbar
sein (vgl. BGH, Urteil vom 10. Januar 2008 - 3 StR 463/07, BGHR StGB § 222
Vorhersehbarkeit 1 mwN).
42
Dies war hier nach den Feststellungen und rechtsfehlerfreien Wertungen
des Schwurgerichts der Fall. Dass der betrunkene
J.
, der bereits zuvor
versucht hatte, sich selbst zu verletzten, dieses Verhalten fortsetzen und für
sich gefährliche Handlungen vornehmen wird, lag unter den gegebenen Umständen - auch angesichts seiner fortwährenden Beschwerden über die Fortdauer des Gewahrsams und der Fesselung - nach dem Maßstab des gewöhnlichen Erfahrungsbereiches eines Polizeibeamten nicht fern und war daher objektiv und subjektiv für den Angeklagten als erfahrenem Polizeibeamten vorhersehbar (vgl. auch BGH, Urteil vom 10. Januar 2008 - 3 StR 463/07, aaO). Zwar
kann insbesondere eine gänzlich vernunftswidrige Handlungsweise eines Getöteten die Vorhersehbarkeit des Erfolgs entfallen lassen (vgl. BGH, Urteile
vom 2. Oktober 1952 - 3 StR 389/52, BGHSt 3, 218, 220; vom 23. April 1953
- 3 StR 894/52, BGHSt 4, 182, 187; vom 10. Juli 1958 - 4 StR 180/58, BGHSt
12, 75, 78). Jedoch musste der Angeklagte zum einen, wie die Selbstverletzungsversuche belegen, mit irrationalen Handlungen des
J.
gerade
rechnen. Zum anderen entfällt in solchen Fällen die Vorhersehbarkeit nur, wenn
der Getötete zu einer freien Entscheidung fähig war, er mithin insbesondere
- anders als hier - nicht stark betrunken war (vgl. BGH, Urteil vom 10. Januar
2008 - 3 StR 463/07, aaO). Eine die Vorhersehbarkeit möglicherweise beseitigende eigenverantwortliche Selbsttötung liegt nicht vor, weil es nach den Feststellungen des Landgerichts an einer ernst gemeinten und freiverantwortlichen
- 23 -
Entscheidung des Opfers, sich zu töten, gefehlt hat (vgl. dazu auch nachfolgend
ee) (2) sowie BGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - 2 StR 295/11, NStZ 2012,
319, 320).
43
ee) Die Kausalität des Nicht-Handelns des Angeklagten für den Eintritt
des Erfolges hat das Schwurgericht rechtsfehlerfrei ebenfalls nicht in Frage gestellt. Auch die insbesondere von Teilen des Schrifttums geforderte Zurechenbarkeit des Todes ist zu bejahen.
44
(1) Eine Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung gemäß § 222 StGB erfordert, dass das tatbestandsrelevante Verhalten des Angeklagten den Erfolg
verursacht hat, also der Erfolg auf der Fahrlässigkeit beruht (BGH, Urteil vom
12. Januar 2010 - 1 StR 272/09, BGHR StGB § 13 Abs. 1 Ursächlichkeit 3
mwN).
45
Die danach gebotene Prüfung, ob eine ständige auch optische Überwachung von
J.
dessen Tod verhindert hätte, hat das Schwurgericht vor-
genommen und rechtsfehlerfrei bejaht. Dies begegnet keinen durchgreifenden
Bedenken. Denn schon der zwischen dem Ansengen des Matratzenbezugs und
dem Inbrandsetzen der Füllung vergangene Zeitraum sowie die festgestellten
Tätigkeiten des
J.
, die er bis zum Inbrandsetzen vorgenommen hat,
belegen hinreichend den Schluss des Landgerichts, dass bei einer ständigen
optischen Überwachung der Tod von
46
J.
verhindert worden wäre.
(2) In der Rechtsprechung ist zudem anerkannt, dass eine Ursache im
Rechtssinne ihre Bedeutung nicht verliert, wenn außer ihr noch andere Ursachen zur Herbeiführung des Erfolges beitragen (vgl. BGH, Urteil vom 10. Januar
2008 - 3 StR 463/07, aaO, mwN). Ein Ursachenzusammenhang ist jedoch dann
- 24 -
zu verneinen, wenn ein späteres Ereignis die Fortwirkung der ursprünglichen
Bedingung beseitigt und seinerseits allein unter Eröffnung einer neuen Ursachenreihe den Erfolg herbeigeführt hat (BGH, Urteil vom 10. Januar 2008
- 3 StR 463/07, aaO). Dies kann der Fall sein, wenn eine Selbstgefährdung
oder ein selbstschädigendes Verhalten vorliegt (BGH, Urteil vom 20. November
2008 - 4 StR 328/08, BGHSt 53, 55, 60). Auch macht sich nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, sofern er nicht kraft überlegenen Sachwissens
das Risiko besser erfasst als der sich selbst Tötende oder Verletzende, grundsätzlich nicht strafbar, wer das zu einer Selbsttötung oder Selbstverletzung führende eigenverantwortliche Handeln des Selbstschädigers vorsätzlich oder fahrlässig veranlasst, ermöglicht oder fördert (BGH, Urteil vom 20. November 2008
- 4 StR 328/08, BGHSt 53, 55, 60 mwN). Straffrei ist ein solches Handeln regelmäßig auch dann, wenn es nicht auf die Selbsttötung oder -verletzung gerichtet war, sich aber ein entsprechendes, vom Opfer bewusst eingegangenes
Risiko realisiert hat (BGH aaO).
47
Es kann dahinstehen, ob und inwiefern diese Grundsätze eine Ausnahme erfahren, wenn der sich selbst Gefährdende oder Tötende hoheitlich
verwahrt wird. Denn nach den Feststellungen des Schwurgerichts wollte
J.
sich gerade nicht selbst verletzen oder töten, sondern wollte mittels der
Brandlegung das Lösen der Fixierung und seine Freilassung ohne eigene
Schädigung erreichen (vgl. auch BGH, Urteile vom 4. Dezember 2007 - 5 StR
324/07, StV 2008, 182, 184; vom 29. April 2010 - 5 StR 18/10, BGHSt 55, 121,
137 mwN). Auch dass
J.
bei der Brandlegung bewusst das Risiko
einer Selbstverletzung oder -tötung eingegangen ist, hat das Landgericht nicht
festgestellt; es ist vielmehr davon ausgegangen, dass dieser darauf vertraut
hat, dass die Polizeibeamten "alsbald" auf das Feuer aufmerksam werden und
ihn (rechtzeitig) aus der Zelle holen.
- 25 -
48
2. Der Strafausspruch weist ebenfalls keinen den Angeklagten beschwerenden Rechtsfehler auf.
49
Insbesondere ist bei Verhängung einer Geldstrafe diese bei einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung nicht um einen bezifferten Abschlag zu
ermäßigen, sondern - wie dies das Schwurgericht getan hat - die schuldangemessene Geldstrafe in der Urteilsformel auszusprechen und zugleich festzusetzen, dass ein bezifferter Teil der zugemessenen Tagessätze als bereits vollstreckt gilt (vgl. BGH, Beschluss vom 17. Januar 2008 - GSSt 1/07, BGHSt 52,
124).
50
Auch dass das Landgericht die Anwendung von § 13 Abs. 2 StGB nicht
erörtert hat, stellt angesichts der Tatumstände und des Fahrlässigkeitsdelikten
ohnehin immanenten Unterlassens der gebotenen Sorgfalt keinen durchgreifenden Rechtsfehler dar.
V.
51
Die Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft und der Nebenkläger haben mit
der Sachrüge ebenfalls keinen Erfolg. Die Verurteilung des Angeklagten lediglich wegen fahrlässiger Tötung weist keinen ihn begünstigenden Rechtsfehler
auf.
52
1. Insbesondere begegnet es im Ergebnis keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken, dass das Schwurgericht den Angeklagten nicht der Freiheitsberaubung mit Todesfolge schuldig gesprochen hat.
- 26 -
53
a) Der Senat folgt allerdings nicht der Auffassung des Landgerichts, der
Angeklagte könne bereits deshalb nicht wegen Freiheitsberaubung mit Todesfolge bestraft werden, weil er hinsichtlich des Richtervorbehalts bei der Gewahrsamsanordnung bzw. deren Aufrechterhaltung einem unvermeidbaren
Verbotsirrtum erlegen sei.
54
Unvermeidbar ist ein Verbotsirrtum nur, wenn der Täter trotz der ihm
nach den Umständen des Falles, seiner Persönlichkeit sowie seines Lebensund Berufskreises zuzumutenden Anspannung des Gewissens die Einsicht in
das Unrechtmäßige seines Handelns nicht zu gewinnen vermochte (st. Rspr.;
vgl. BGH, Beschluss vom 18. März 1952 - GSSt 2/51, BGHSt 2, 194; Urteil vom
7. März 1996 - 4 StR 742/95, NJW 1996, 1604, 1606; vgl. auch Fischer, StGB,
61. Aufl., § 17 Rn. 7 ff. mwN). Bei einem erfahrenen Polizeibeamten wie dem
Angeklagten, der mit dem Vollzug von grundrechtsbeschränkenden Gesetzen
betraut ist, liegt dies hinsichtlich der sich bereits aus dem Gesetz unzweifelhaft
ergebenden Voraussetzungen gängiger Befugnisse zu schwerwiegenden
Grundrechtseingriffen wie einer Freiheitsentziehung derart fern, dass schon die
- allenfalls bei einem hier ersichtlich nicht gegebenen Vorliegen gänzlich außergewöhnlicher Umstände in Betracht kommende - Prüfung der Unvermeidbarkeit
eines Verbotsirrtums nicht geboten war.
55
b) Jedoch begegnet es aus einem anderen Grund keinen durchgreifenden Bedenken, dass das Schwurgericht den Angeklagten nicht der Freiheitsberaubung mit Todesfolge schuldig gesprochen hat.
56
aa) Das Landgericht ist im Ergebnis rechtsfehlerfrei davon ausgegangen,
dass der Vorwurf der Freiheitsberaubung nicht allein darauf gestützt werden
kann, dass
J.
nach seiner Verbringung in die Gewahrsamszelle fixiert
- 27 -
worden war. Denn diese Fesselung war zulässig. Rechtsgrundlage für sie war
§ 64 Nr. 3 SOG LSA (Schutz vor Selbstschädigung), dessen Voraussetzungen
auf der Grundlage des vorangegangenen Verhaltens von
J.
und der
entsprechenden - indes den Angeklagten nicht bindenden (vgl. Nummer 11.1.
Satz 2 PGO) - Empfehlung des seine Gewahrsamsfähigkeit bestätigenden Arztes gegeben waren (zur Fortdauer der Fixierung: unten dd) (3) (c) (aa)).
57
Ebenso wenig kann die Rechtswidrigkeit der Freiheitsentziehung dem
Angeklagten allein deshalb angelastet werden, weil
J.
der Grund sei-
ner Ingewahrsamnahme nicht mitgeteilt und er nicht belehrt wurde (vgl. dazu
u.a. §§ 136, 137, 163c Abs. 1 Satz 3 StPO; § 39 SOG LSA; Nummer 15. PGO;
Art. 36 Abs. 1 WÜK). Zwar erfolgte die Ingewahrsamnahme nicht mit dem Einverständnis von
J.
, jedoch hatte der Angeklagte, der weder die Fest-
nahme vorgenommen hat, noch unmittelbar mit der Vernehmung von
J.
befasst war, nach den Feststellungen der Strafkammer keine Kenntnis
davon, dass dieser weder vom Grund seiner Festnahme informiert, noch über
seine Rechte belehrt worden war. Tragfähige Anhaltspunkte dafür, dass der
Angeklagte berechtigte Zweifel an der Ordnungsmäßigkeit des entsprechenden
Ablaufs der Ingewahrsamnahme hätte haben müssen oder er sich aus sonstigen Gründen hiervon hätte überzeugen müssen, liegen nicht vor, zumal es sich
um eine gängige polizeiliche Maßnahme ohne besondere rechtliche oder tatsächliche Problematik handelte.
58
bb) Ferner nimmt das Schwurgericht rechtsfehlerfrei an, dass dem Angeklagten hinsichtlich der in seinen Verantwortungsbereich fallenden Fortdauer
der Freiheitsentziehung des
sen zur Last zu legen wäre.
J.
kein aktives Tun, sondern ein Unterlas-
- 28 -
59
Die Rechtsprechung fasst die Abgrenzung zwischen Tun und Unterlassen als Wertungsfrage auf, die nicht nach rein äußeren oder formalen Kriterien
zu entscheiden ist, sondern eine wertende (normative) Betrachtung unter Berücksichtigung des sozialen Handlungssinns verlangt. Maßgeblich ist insofern,
wo der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit liegt (vgl. BGH, Urteil vom 14. März
2003 - 2 StR 239/02, BGHR StGB § 13 Abs. 1 Tun 3; Beschluss vom 1. Februar
2005 - 1 StR 422/04, BGHR StGB § 222 Pflichtverletzung 6; Urteile vom
7. September 2011 - 2 StR 600/10, NJW 2011, 3528, 3529; vom 7. Juli 2011
- 5 StR 561/10, BGHSt 56, 277, 286 mwN).
60
Daran gemessen ist nicht zu beanstanden, dass das Schwurgericht hinsichtlich des hier maßgeblichen Zeitraums ab etwa 9.30 Uhr von einem Unterlassen ausgegangen ist. Denn der Schwerpunkt des insofern strafrechtlich
möglicherweise relevanten Verhaltens des Angeklagten lag ab diesem Zeitpunkt im Aufrechterhalten des Gewahrsams von
J.
ohne Einschalten
eines Richters, also in einem passiven Verhalten, nicht aber in einem aktiven
Tun (vgl. RG, Urteil vom 20. Oktober 1893 - Rep. 2727/93, RGSt 24, 339, 340).
Hinsichtlich des davor liegenden Zeitraums kann dahinstehen, ob insofern ein
aktives Tun des Angeklagten (insbesondere mit der in dem Eintrag in das Buch
über Freiheitsentziehungen liegenden Entscheidung ["i.O."]) oder ein Unterlassen vorliegt. Denn ein aktives Tun hätte ebenso wie ein Unterlassen nicht zu
einer rechtswidrigen Freiheitsberaubung geführt, da auch in diesem Zeitraum,
in dem die Einholung einer richterlichen Entscheidung noch nicht unerlässlich
war, ein Gewahrsamsgrund vorlag (vgl. dazu im Einzelnen die nachfolgenden
Ausführungen).
61
cc) Der Angeklagte war jedenfalls insofern auch Garant für den Schutz
des
J.
vor rechtswidriger Freiheitsentziehung, als deren Rechtmäßig-
- 29 -
keit von Handlungen oder Unterlassungen abhing, die ihm oblagen oder für die
er die Verantwortung trug.
62
Denn als Dienstgruppenleiter trug er an diesem Tag die Verantwortung
dafür, dass die zulässige Dauer der Freiheitsentziehung nicht überschritten wird
(Nummer 33.2. PGO) und der Gewahrsam "ordnungsgemäß" vollzogen wird
(Nummer 2.1. Satz 4 PGO). Dementsprechend oblag es dem Angeklagten
auch, dafür Sorge zu tragen, dass in den ihm bekannten Gewahrsamsfällen die
der Polizei zugeordneten Voraussetzungen der gesetzesgemäßen Fortdauer
einer Ingewahrsamnahme gewahrt und erfüllt werden bzw. bleiben. Deshalb hat
er es zu Recht als seine Aufgabe angesehen, "das Dienstgeschehen zu überwachen" und dies auch auf den Gewahrsam von
J.
bezogen, für den
er als Dienstgruppenleiter verantwortlich gewesen ist.
63
dd) Als sogenanntem "Beschützergaranten" (vgl. BGH, Urteil vom 6. November 2002 - 5 StR 281/01, BGHSt 48, 77, 82 ff., 91 f. mwN) oblag dem Angeklagten eine Erfolgsabwendungspflicht, hier mithin die Pflicht, die unverzügliche Vorführung von
J.
beim zuständigen Richter zu veranlassen bzw.
unverzüglich dessen Entscheidung über die Fortdauer des Gewahrsams herbeizuführen.
64
(1) Der Inhalt und der Umfang der Garantenpflicht bestimmen sich aus
dem konkreten Pflichtenkreis, den der Verantwortliche übernommen hat (BGH,
Urteil vom 17. Juli 2009 - 5 StR 394/08, BGHSt 54, 44, 49).
65
(2) Dieser Pflichtenkreis umfasste beim Angeklagten - wie sich aus obigen Ausführungen zu seiner Garantenstellung ergibt - die Wahrung der der
- 30 -
Polizei zugeordneten Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung von
66
J.
.
Dabei bedarf es - wie ausgeführt - schon wegen der fehlenden Kenntnis
und des damit fehlenden Vorsatzes hinsichtlich eines entsprechenden
Pflichtenverstoßes auch an dieser Stelle keiner Entscheidung darüber, ob die
Ingewahrsamnahme von
J.
als solche rechtmäßig war. Maßgeblich ist
vielmehr, ob die Freiheitsentziehung zur Wahrung ihrer Rechtmäßigkeit ab dem
Zeitpunkt, in dem der Angeklagte mit ihr befasst war, weiteren polizeilichen
Handelns bedurfte und ob bejahendenfalls der Angeklagte vorsätzlich ihm obliegende und mögliche Handlungen unterlassen hat, um einen drohenden oder
bestehenden rechtswidrigen Zustand zu verhindern oder zu beseitigen.
67
Dies hat das Schwurgericht rechtsfehlerfrei bejaht, da dem Angeklagten
bekannt war, dass die Freiheitsentziehung weder mit dem Einverständnis von
J.
erfolgt war noch von einem Richter angeordnet oder bestätigt wor-
den war. Dass er hierauf gerichtete Handlungen gleichwohl unterließ, ist angesichts des Gewichts eines solchen Eingriffs in das Freiheitsrecht des Betroffenen und der Bedeutung der für eine solche Maßnahme erforderlichen richterlichen Entscheidung grundsätzlich geeignet, den Vorwurf der Freiheitsberaubung durch Unterlassen zu begründen.
68
(a) Für den schwersten Eingriff in das Recht auf Freiheit, die Freiheitsentziehung, fügt Art. 104 Abs. 2 GG dem Vorbehalt des Gesetzes den weiteren,
verfahrensrechtlichen Vorbehalt einer richterlichen Entscheidung hinzu. Der
Richtervorbehalt dient der verstärkten Sicherung des Grundrechts aus Art. 2
Abs. 2 Satz 2 GG. Alle staatlichen Organe sind verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass der Richtervorbehalt als Grundrechtssicherung praktisch wirksam
- 31 -
wird. Diese praktische Wirksamkeit wird nur erreicht, wenn in jedem Fall, in dem
die Freiheitsentziehung ohne vorherige richterliche Entscheidung ausnahmsweise zulässig ist, diese Entscheidung unverzüglich nachgeholt wird (BVerfG,
Beschlüsse vom 15. Mai 2002 - 2 BvR 2292/00, BVerfGE 105, 239; vom
4. September 2009 - 2 BvR 2520/07, jeweils mwN). Dabei gilt diese verfahrensmäßige Seite der grundrechtlichen Freiheitsverbürgung nicht nur für die
Strafverfolgung, sondern auch bei Freiheitsentziehungen fürsorgerischer Art
und bei sonstigen Freiheitsentziehungen (BGH, Urteil vom 30. April 1987
- 4 StR 30/87, BGHSt 34, 365, 368 mwN; siehe auch VGH Baden-Württemberg,
Beschluss vom 10. Januar 2012 - 1 S 2963/11, NVwZ-RR 2012, 346; Nr. 37 der
Ausführungsbestimmungen zum Gesetz über die öffentliche Sicherheit und
Ordnung des Landes Sachsen-Anhalt).
69
(b) Dementsprechend setzten alle im vorliegenden Fall als Rechtsgrundlage für den Eingriff in das Freiheitsrecht des
J.
in Betracht kommen-
den Normen grundsätzlich eine unverzüglich zu erholende richterliche Entscheidung voraus (vgl. zur vorläufigen Festnahme wegen des Verdachts einer
Straftat: § 128 Abs. 1 StPO; zur Festnahme zur Identitätsfeststellung: § 163c
Abs. 1 StPO und § 38 Abs. 1 SOG LSA; zum "Schutzgewahrsam" und zum
Gewahrsam zur Verhinderung der Begehung oder Fortsetzung einer Straftat
oder Ordnungswidrigkeit: § 38 Abs. 1 SOG LSA).
70
(c) Ausnahmen von diesem Grundsatz waren im vorliegenden Fall offensichtlich nicht gegeben.
71
Soweit § 128 Abs. 1, § 163c Abs. 1 StPO und § 38 Abs. 1 SOG LSA die
"unverzügliche" Vorführung bzw. das "unverzügliche" Herbeiführen einer richterlichen Entscheidung fordern, ist dem schon im Hinblick auf den seit der
- 32 -
Ingewahrsamnahme des
J.
(ca. 8.30 Uhr) und Befassung des An-
geklagten (spätestens ab 8.44 Uhr) bis zum Tod des
J.
(nach
12.00 Uhr) vergangenen Zeitraum nicht genügt. Denn "unverzüglich" ist - wie
bei Art. 104 Abs. 2 Satz 2 GG - dahin auszulegen, dass die richterliche Entscheidung ohne jede Verzögerung, die sich nicht aus sachlichen Gründen
rechtfertigen lässt, nachgeholt werden muss (BVerfG, Beschlüsse vom 15. Mai
2002 - 2 BvR 2292/00, aaO; vom 19. Januar 2007 - 2 BvR 1206/04, NVwZ
2007, 1044, 1045; vom 4. September 2009 - 2 BvR 2520/07, jeweils mwN).
Zwar sind nicht vermeidbar z.B. die Verzögerungen, die durch die Länge des
Weges, Schwierigkeiten beim Transport, die notwendige Registrierung und Protokollierung, ein renitentes Verhalten des Festgenommenen oder vergleichbare
Umstände bedingt sind (BVerfG aaO). Solche Umstände waren vorliegend aber
nicht gegeben bzw. ihnen konnte - etwa hinsichtlich des renitenten Verhaltens
des
J.
- durch geeignete Maßnahmen, wie sie etwa mit seiner Fesse-
lung und der Überwachung durch Polizeibeamte schon nach der Festnahme
ergriffen worden waren, zumindest so weit entgegengewirkt werden, dass eine
Vorführung möglich gewesen wäre. Dass sich
J.
in einem Zustand
befunden hat, der seine unverzügliche Vorführung schlechterdings unmöglich
machte, ergeben die vom Landgericht getroffenen Feststellungen nicht. Auch
lagen die Voraussetzungen des § 420 Abs. 2 FamFG, die ohnehin lediglich ein
Absehen von der Anhörung, nicht aber der richterlichen Befassung ermöglichen, ersichtlich nicht vor (vgl. dazu auch VGH Baden-Württemberg, NVwZ-RR
2012, 346). Unabhängig davon, ob der Zustand von
J.
dazu aus-
gereicht hätte, zumindest eine lediglich "symbolische" Vorführung - wie sie
Nr. 51 RiStBV für Fälle des § 128 StPO vorsieht (siehe dazu auch Träger/
Schluckebier in LK-StGB, 11. Aufl., § 239 Rn. 23) - vorzunehmen, zielt der
Richtervorbehalt auf eine Kontrolle der Maßnahme in ihren konkreten gegenwärtigen Voraussetzungen durch eine unabhängige und neutrale Instanz (vgl.
- 33 -
BVerfG, Beschluss vom 12. Februar 2007 - 2 BvR 273/06, NJW 2007, 1345,
1346 [zu § 81a StPO]), erschöpft sich mithin nicht in der bloßen Gewährung
rechtlichen Gehörs, sondern dient auch dazu, dem Richter insbesondere in den
Fällen des "Schutzgewahrsams" die Möglichkeit eines persönlichen Eindrucks
von dem Betroffenen zu verschaffen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. Juni 2007
- 1 BvR 338/07, NJW 2007, 3560 mwN).
72
Die in § 163c Abs. 2 StPO und § 40 Abs. 2 SOG LSA geregelte 12-Stunden-Frist, auf die sich der Angeklagte beruft, setzt dem Festhalten einer Person
zur Identitätsfeststellung lediglich eine äußerste Grenze, befreit aber nicht von
der Verpflichtung, eine richterliche Entscheidung unverzüglich herbeizuführen
(vgl. - zu Art. 104 Abs. 2 Satz 3 GG - auch BVerfG, Beschlüsse vom 15. Mai
2002 - 2 BvR 2292/00; vom 4. September 2009 - 2 BvR 2520/07, aaO).
73
Es bestehen auch keine tragfähigen Anhaltspunkte dafür, dass die richterliche Entscheidung über die Freiheitsentziehung längere Zeit in Anspruch
genommen hätte als die Identitätsfeststellung (vgl. § 163c Abs. 1 Satz 2 StPO;
§ 38 Abs. 1 Satz 2 SOG LSA) bzw. erst nach dem Wegfall des Grundes für den
"Schutzgewahrsam" ergangen wäre (vgl. § 38 Abs. 1 Satz 2 SOG LSA sowie
VGH Baden-Württemberg aaO). Denn der 7. Januar 2005 war ein Werktag und
die Vorführung wäre zu einer üblichen Arbeitszeit erfolgt, so dass - entsprechend den Feststellungen des Schwurgerichts - davon auszugehen ist,
dass die richterliche Entscheidung alsbald ergangen wäre. Zudem sollte mit der
erkennungsdienstlichen Behandlung von
J.
erst um 14.00 Uhr begon-
nen werden; dies war auch der vom Angeklagten prognostizierte Zeitpunkt, bis
zu dem
J.
in der Zelle verbleiben sollte.
- 34 -
74
(3) Jedoch fehlt es nach den vom Schwurgericht getroffenen Feststellungen an der Kausalität des Unterlassens des Angeklagten für eine rechtswidrige
Freiheitsberaubung.
75
(a) Ein Unterlassen, also ein Nichtgeschehen kann - ontologisch - nicht
Ursache eines Erfolges sein. Deshalb stellen die ständige Rechtsprechung und
die allgemeine Lehre zur - notwendigerweise normativen - Beurteilung der Kausalität bei den unechten Unterlassungsdelikten auf die "hypothetische Kausalität", die so genannte "Quasi-Kausalität", ab. Diese birgt für die Fälle des Unterlassens die Entsprechung zu der nach der Äquivalenztheorie in den Fällen aktiven Tuns anzuwendenden conditio sine qua non-Formel. Nach ihr ist ein Unterlassen mit dem tatbestandsmäßigen Erfolg als "quasi-ursächlich" in Zurechnungsverbindung zu setzen und zu prüfen, ob dieser beim Hinzudenken der
gebotenen Handlung entfiele, ob also die gebotene Handlung den Erfolg verhindert hätte (st. Rspr., vgl. BGH, Urteile vom 4. März 1954 - 3 StR 281/53,
BGHSt 6, 1, 2; vom 26. Juni 1990 - 2 StR 549/89, BGHSt 37, 106, 126; vom
19. Dezember 1997 - 5 StR 569/96, BGHSt 43, 381, 397; vom 6. November
2002 - 5 StR 281/01, BGHSt 48, 77, 93). Hierfür muss - da es sich nicht um die
Feststellung realer Kausalzusammenhänge handelt - das Gericht eine hypothetische Erwägung anstellen und sich auf deren Grundlage eine Überzeugung
bilden (BGH, Urteil vom 12. Januar 2010 - 1 StR 272/09, BGHR StGB § 13
Abs. 1 Ursächlichkeit 3 mwN; vgl. auch SSW-StGB/Schluckebier, aaO, § 239
Rn. 8 a.E. mwN).
76
Dabei streitet für einen Angeklagten der Grundsatz in dubio pro reo.
Allerdings steht der Bejahung der Ursächlichkeit die bloße gedankliche Möglichkeit eines gleichen Erfolgs auch bei Vornahme der gebotenen Handlung
nicht entgegen. Ebenso wenig genügt es, dass das Unterlassen der gebotenen
- 35 -
Handlung lediglich das Risiko des Erfolgseintritts erhöht hat (BGH, Urteil vom
12. Januar 2010 - 1 StR 272/09, aaO, mwN). Vielmehr muss sich die alternative
Bewertung, der gleiche Erfolg wäre auch bei Vornahme der gebotenen Handlung eingetreten, aufgrund bestimmter Tatsachen so verdichtet haben, dass die
Überzeugung vom Gegenteil mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit
vernünftigerweise ausgeschlossen ist (BGH, Beschlüsse vom 25. September
1957 - 4 StR 354/57, BGHSt 11, 1; vom 29. November 1985 - 2 StR 596/85,
NStZ 1986, 217; vom 25. April 2001 - 1 StR 130/01; vom 6. März 2008 - 4 StR
669/07, BGHSt 52, 159, 164; Urteile vom 26. Juni 1990 - 2 StR 549/89, BGHSt
37, 106, 126 f.; vom 19. April 2000 - 3 StR 442/99, BGHR StGB § 13 Abs. 1
Ursächlichkeit 1; vom 12. Januar 2010 - 1 StR 272/09, aaO, mwN).
77
Die Formulierung, „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“
müsse die Ursächlichkeit der Pflichtverletzung für den Taterfolg in diesem Sinn
feststehen, bedeutet jedoch nicht, dass höhere Anforderungen an das erforderliche Maß an Gewissheit von der Kausalität als sonst gestellt werden müssen.
„Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ ist nichts anderes als die
überkommene Beschreibung des für die richterliche Überzeugung erforderlichen Beweismaßes (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 1990 - 2 StR 549/89, BGHSt
37, 106, 127).
78
(b) Für den vorliegenden Fall ergibt sich hieraus das Folgende:
79
Welche Handlung eines Unterlassungstäters im Rahmen der Kausalitätsprüfung hinzuzudenken ist, bestimmt sich bei bestehenden Handlungsalternativen vorrangig danach, ob und gegebenenfalls welche von ihnen geeignet
ist, den Erfolgseintritt zu verhindern. Bei erfolgsqualifizierten Delikten wie § 239
Abs. 4 StGB ist dabei der für diese Prüfung maßgebliche "Erfolg" - jedenfalls
- 36 -
zunächst - nicht die Todesfolge, sondern der des Grunddelikts, mithin eine
rechtswidrige Freiheitsentziehung, da deren Verhinderung bei Vornahme einer
der gebotenen Handlungen zur Straflosigkeit führen würde. Kommen dabei
- wie vorliegend - alternative Handlungen in Betracht, die den Erfolgseintritt
entweder durch die Beendigung der Freiheitsentziehung als solcher (z.B. durch
Entlassen des
J.
aus dem Gewahrsam) oder aber durch das Her-
beiführen ihrer Rechtmäßigkeit verhindert hätten, besteht bei der Prüfung der
hypothetischen Kausalität kein "Vorrang" von sich auf die Freiheitsentziehung
als solche beziehenden Handlungen gegenüber denjenigen, die (erst) deren
Rechtswidrigkeit beseitigen. Dies gilt jedenfalls im vorliegenden Fall, in dem der
Wille des Angeklagten als dem Unterlassenden auf die Fortsetzung des Gewahrsams gerichtet war (im Ergebnis ebenso: BGH, Urteil vom 4. April 1978
- 1 StR 628/77, bei Holtz MDR 1978, 624; Träger/Schluckebier in LK-StGB,
aaO, § 239 Rn. 17).
80
Da die gebotene Handlung des Angeklagten bei Fortführung des Gewahrsams das Veranlassen der unverzüglichen (zumindest "symbolischen")
Vorführung des
J.
beim zuständigen Richter bzw. das unverzügliche
Herbeiführen von dessen Entscheidung war, entfällt die Kausalität, wenn diese
Handlung vorgenommen worden wäre und der Richter den Gewahrsam jedenfalls bis einschließlich zum Zeitpunkt des Todes von
J.
mit an Sicher-
heit grenzender Wahrscheinlichkeit angeordnet hätte (ähnlich für den Fall der
Fixierung eines Heiminsassen ohne vormundschaftgerichtliche Anordnung:
Träger/Schluckebier in LK-StGB, aaO, § 239 Rn. 17; vgl. auch BGH, Urteil vom
4. April 1978 - 1 StR 628/77, bei Holtz MDR 1978, 624). Hierbei ist eine Recht
und Gesetz entsprechende Entscheidung des Richters zugrunde zu legen. Soweit dem Richter dabei jedoch Beurteilungsspielräume eingeräumt sind, gebietet es der Grundsatz in dubio pro reo, diese zugunsten des Angeklagten auszu-
- 37 -
schöpfen (vgl. dazu auch Träger/Schluckebier in LK-StGB, aaO, § 239 Rn. 20
a.E.).
81
(c) Auf dieser Grundlage ist für die Beurteilung der "Quasi-Kausalität"
des Unterlassens des Angeklagten davon auszugehen, dass der zuständige
Richter den Gewahrsam des
J.
angeordnet hätte. Damit entfällt die
Ursächlichkeit des Unterlassens des Angeklagten für eine rechtswidrige Freiheitsentziehung des
82
J.
.
(aa) Die Annahme, der zuständige Richter hätte den diesen Zeitraum
umfassenden Gewahrsam des
J.
angeordnet, kann sich zwar nicht auf
§ 127 StPO (vorläufige Festnahme nach einer Straftat) bzw. § 37 Abs. 1 Nr. 2
SOG LSA (Gewahrsam zur Verhinderung einer unmittelbar bevorstehenden
Straftat oder Ordnungswidrigkeit bzw. zur Verhinderung deren Fortsetzung)
stützen. Denn es war schon bei der Festnahme weder Fluchtgefahr gegeben,
noch lagen die weiteren Voraussetzungen eines Haft- oder Unterbringungsbefehls vor oder bestanden tragfähige Anhaltspunkte dafür, dass im Zeitpunkt der
richterlichen Entscheidung Straftaten oder erhebliche Ordnungswidrigkeiten
unmittelbar bevorstehen bzw. deren Fortsetzung droht, zu deren Verhinderung
die Ingewahrsamnahme von
83
J.
unerlässlich war.
Auch die Voraussetzungen des als Rechtsgrundlage für das Festhalten
des
J.
in Betracht kommenden § 163b Abs. 1 Satz 2 StPO (Identitäts-
feststellung für Zwecke der Strafverfolgung), des § 127 Abs. 1 StPO (in der die
Identitätsfestellung betreffenden Alternative) oder von § 20 Abs. 4 SOG LSA
(Identitätsfeststellung zur Gefahrenabwehr) lagen jedenfalls schon geraume
Zeit vor dem unmittelbar zum Tod von
J.
führenden Geschehen nicht
mehr vor. Denn ein hierauf gegründeter Eingriff in das Freiheitsgrundrecht des
- 38 -
J.
kam erst dann in Betracht bzw. durfte - wenn er rechtmäßig begon-
nen worden war - nur fortgesetzt werden, wenn die der Polizei bereits bekannten Daten des
J.
noch nicht ausreichten, um dessen Identität eindeutig
zu bestimmen. Dies wäre etwa der Fall gewesen, wenn konkreter Anlass bestanden hätte, an der Echtheit der bei seiner Durchsuchung aufgefundenen, mit
seinem Lichtbild und seinen Personalien versehenen "Duldung" zu zweifeln. Für
eine solche Annahme bestand indes ab dem Zeitpunkt, in dem die vom Angeklagten vorgenommene INPOL-Abfrage diese Personalien zumindest im Wesentlichen bestätigt hatte, kein Anhalt mehr. Jedenfalls mit dem ersichtlich zeitnah möglichen Abgleich mit dem Ergebnis bereits früher - auch in De.
-
durchgeführter erkennungsdienstlicher Behandlungen war die Rechtsgrundlage
für ein weiteres Festhalten des
J.
zur Identitätsfeststellung entfallen
(vgl. auch BVerfG, Beschlüsse vom 27. Januar 1992 - 2 BvR 658/90, NVwZ
1992, 767; vom 11. Juli 2006 - 2 BvR 1255/04, NStZ-RR 2006, 381 mwN).
Selbst wenn der zuständige Richter zunächst noch die Fortdauer der Freiheitsentziehung zur Identitätsfeststellung angeordnet hätte, wäre diese von ihm derart befristet worden, dass
J.
lange vor dem tödlichen Geschehen ent-
lassen worden wäre.
84
Jedoch ist davon auszugehen, dass der zuständige Richter den "Schutzgewahrsam" des
J.
gemäß § 37 Abs. 1 Nr. 1 SOG LSA auch über
12.00 Uhr hinaus angeordnet hätte. Nach dieser Vorschrift waren die Ingewahrsamnahme und deren weiterer Vollzug zulässig, "wenn dies zum Schutz der
Person gegen eine Gefahr für Leib oder Leben erforderlich ist, insbesondere
weil die Person sich erkennbar in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand oder in sonst hilfloser Lage befindet". Diese Voraussetzungen waren - am oben dargelegten Maßstab gemessen - gegeben. Denn
J.
war stark alkoholisiert. Die bei ihm um 9.15 Uhr entnommene Blut-
- 39 -
probe ergab eine Blutalkoholkonzentration von 2,98 Promille, die Blutalkoholkonzentration im Leichenblut betrug noch 2,68 Promille; zudem wurden im untersuchten Blut Cocain-Metaboliten nachgewiesen. Hinzu kam sein - bis hin
zum Anzünden der Matratze - gezeigtes selbstgefährdendes Verhalten, das
schon kurz nach dem Eintreffen auf dem Polizeirevier und den Kopfstößen in
Richtung Tisch und Wand einen Polizeibeamten zum Eingreifen zugunsten von
J.
gezwungen und den Arzt, der ihn auf seine Gewahrsamstauglichkeit
untersucht hat, dazu veranlasst hat, die Fixierung von
J.
zu empfeh-
len. Auch war sein zunächst noch anlasslos belästigendes, später aber aggressives und - bei den Widerstandshandlungen - mit körperlicher Gewalt verbundenes Verhalten mit der Gefahr verbunden, dass sich die Betroffenen dagegen
zur Wehr setzen und hierdurch (berechtigt) die Gesundheit von
J.
be-
einträchtigen. Dabei belegen insbesondere die hohe Alkoholisierung und das
schon vor dem Eingreifen der Polizeibeamten von
J.
gezeigte Verhal-
ten hinreichend, dass die Gefahr für dessen Gesundheit nicht lediglich durch
die seiner (möglichen) Einschätzung nach unberechtigte Ingewahrsamnahme,
sondern zumindest wesentlich durch seine Alkoholisierung und den Drogenkonsum bedingt waren.
85
Aufgrund dieser Tatsachen ist "mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit" davon auszugehen, dass der zuständige Richter - bei Ausschöpfen ihm eröffneter Beurteilungsspielräume zugunsten des Angeklagten - die
Fortdauer des Gewahrsams des
J.
auch über 12.00 Uhr hinaus ange-
ordnet hätte.
86
Tragfähige Anhaltspunkte dafür, dass nach einer solchen richterlichen
Entscheidung (zumindest) die Fixierung hätte beendet werden müssen oder
beendet worden wäre, bestehen nicht. Dies liegt aufgrund des von
J.
- 40 -
gezeigten Verhaltens auch nicht nahe. Zwar darf nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auch eine solche Sicherungsmaßnahme nicht länger aufrechterhalten werden als es notwendig und angemessen ist; sie ist ferner zu beenden, wenn mildere Mittel den Zweck ebenfalls erreichen würden (vgl. BVerfG,
Beschluss vom 13. April 1999 - 2 BvR 827/98, NStZ 1999, 428, 429). Im Hinblick auf die bestehende Gefahr selbstgefährdenden Verhaltens des
J.
, das sich bis hin zum Anzünden der Matratze fortsetzte, überschritt der
Zeitraum der Fixierung aber trotz der zunehmenden Dauer und der mit ihr verbundenen Belastungen aus den oben dargelegten Gründen (noch) nicht den
Beurteilungsspielraum, der (auch) den Polizeibeamten bei ihrer Anordnung und
dem Vollzug einer solchen Sicherungsmaßnahme zukommt. Einer besonderen
richterlichen Gestattung oder Anordnung der Fixierung bedurfte es jedenfalls
unter den gegebenen Umständen nicht (vgl. § 64 Nr. 3 SOG LSA; ferner
BVerfG, Beschluss vom 8. Juli 1993 - 2 BvR 213/93, NJW 1994, 1339; Dürig in
Maunz/Dürig, GG, Art. 104 Rn. 28 [Stand: 2014]).
87
(bb) Für die Beurteilung der "Quasi-Kausalität" des Unterlassens des
Angeklagten kommt es in Fällen parallelen Unterlassens gleichrangiger Garanten zwar nicht auf das alleinige Verhalten des einzelnen Garanten, sondern auf
das Verhalten der Garantengemeinschaft an (vgl. BGH, Urteil vom 6. November
2002 - 5 StR 281/01, BGHSt 48, 77, 87 mwN). Ein solcher Fall ist vorliegend
aber nicht gegeben.
88
Sollte nämlich das Verhalten anderer, für den Gewahrsam des
J.
verantwortlicher Polizeibeamter ebenfalls als pflichtwidrig zu bewerten
sein, würde nicht eine Garantengemeinschaft im obigen Sinn vorliegen, sondern Nebentäterschaft. Denn der Angeklagte hätte allein durch eigenes Handeln, mithin unabhängig vom (Nicht-)Handeln der anderen, die ihm obliegenden
- 41 -
Voraussetzungen für eine rechtmäßige Freiheitsentziehung herbeiführen können. Ein Fall des objektiven Ineinandergreifens jeweils individuell rechtswidrigen Verhaltens im Sinn einer Garantengemeinschaft liegt daher nicht vor (vgl.
auch BGH, Urteil vom 12. Januar 2010 - 1 StR 272/09, aaO, mwN).
89
(cc) Der Senat ist - jedenfalls aufgrund der Besonderheiten des Falles befugt, die Prüfung der "Quasi-Kausalität" selbst vorzunehmen.
90
Dabei steht der Entscheidung durch den Senat nicht entgegen, dass die
Staatsanwaltschaft die Ausführungen des Schwurgerichts dahin versteht, dieses habe nicht feststellen können, ob die Ingewahrsamnahme von
J.
zu dessen Schutz unerlässlich gewesen sei. Denn die - wie ausgeführt - normative Beurteilung der Kausalität des Unterlassens bezieht sich nicht darauf, ob
die Gefahr tatsächlich vorlag und der Gewahrsam zu ihrer Abwendung unerlässlich war, sondern beschränkt sich im Wesentlichen auf die Prüfung, welche
Entscheidung ein rechtmäßig handelnder Richter hierzu getroffen hätte. Dafür
stand dem Schwurgericht und steht dem Senat angesichts der von jenem
rechtsfehlerfrei und vollständig getroffenen, im - wie die (erfolglosen) Verfahrensrügen belegen - angefochtenen Urteil auch umfassend mitgeteilten Feststellungen eine ausreichende und tragfähige Grundlage zur Verfügung.
91
2. Soweit das Schwurgericht die Verwirklichung anderer Straftatbestände
durch den Angeklagten ausgeschlossen hat, begegnet dies ebenfalls keinen
Bedenken.
92
Wegen Totschlags durch Unterlassen hätte sich der Angeklagte nur
strafbar gemacht, wenn das gebotene Handeln den als möglich erkannten Tod
noch hätte verhindern können und er sich dessen bewusst war (vgl. BGH, Be-
- 42 -
schluss vom 14. Februar 2012 - 3 StR 446/11, NStZ 2012, 379, 380 mwN).
Letzteres hat das Landgericht indes ebenso rechtsfehlerfrei verneint wie hinsichtlich weiterer in Betracht kommender Strafvorschriften den Vorsatz.
93
Ein strafbarer Versuch der Freiheitsberaubung (mit Todesfolge) liegt
nicht vor, da bei diesem der Tatplan - von hier nicht gegebenen Ausnahmefällen abgesehen - auf einen nach der Vorstellung des Täters kausal durch sein
Verhalten herbeigeführten Erfolg gerichtet sein muss (vgl. SSW-StGB/Kudlich/
Schuhr, 2. Aufl., § 22 Rn. 16, 24). An einem entsprechenden Vorsatz (vgl. BGH,
Beschluss vom 6. Februar 2014 - 1 StR 577/13 [Rn. 36]) fehlt es - wie oben
ausgeführt - jedoch.
94
3. Auch der Strafausspruch enthält keinen durchgreifenden Rechtsfehler
zum Vor- oder zum Nachteil (§ 301 StPO) des Angeklagten.
VI.
95
Ein Teilfreispruch vom Vorwurf der Körperverletzung bzw. Freiheitsberaubung mit Todesfolge war und ist - entgegen der Ansicht der Verteidiger des
Angeklagten - nicht geboten (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, aaO, § 260 Rn. 10).
96
Im Revisionsverfahren ist eine Entscheidung über die notwendigen Auslagen der dort Beteiligten nur insofern veranlasst, als diese das Rechtsmittel der
Staatsanwaltschaft und die hierdurch verursachten notwendigen Auslagen des
- 43 -
Angeklagten betrifft (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, aaO, § 473 Rn. 10a, 15, 18
mwN).
Sost-Scheible
Roggenbuck
Mutzbauer
Cierniak
Quentin