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BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
4 StR 224/12
vom
4. Juli 2012
in dem Sicherungsverfahren
gegen
-2-
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag des Generalbundesanwalts und nach Anhörung des Beschwerdeführers am 4. Juli 2012 gemäß
§ 349 Abs. 4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Beschuldigten wird das Urteil des
Landgerichts Paderborn vom 16. März 2012 mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung,
auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere
Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe:
1
Das Landgericht hat die Unterbringung des Beschuldigten in einem
psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Mit seiner Revision rügt der Beschuldigte die Verletzung materiellen Rechts. Das Rechtsmittel hat Erfolg.
2
1. Nach den Feststellungen trat der obdachlose Beschuldigte am 16. November 2010 in der Innenstadt von P.
deshalb von den Zeugen A.
und H.
gegen einen Stromkasten. Als er
He.
zur Rede gestellt wurde,
reagierte er mit den Worten: „Halt's Maul, sonst steche ich euch ab“. Anschließend entfernte er sich. Als ihm die beiden Zeugen und zwei weitere Personen
nachliefen, blieb der Beschuldigte stehen, zog mit der rechten Hand ein Messer
und richtete es auf seine Verfolger. Dabei rief er: „Haut ab, oder ich steche euch
alle ab“ und fuchtelte mit dem Messer hin und her. Kurze Zeit später erschien
-3-
die zwischenzeitlich alarmierte Polizei. Der Aufforderung, das Messer fallenzulassen, kam der Beschuldigte nicht nach, sodass schließlich gegen ihn Pfefferspray eingesetzt und zu seiner Entwaffnung körperliche Gewalt angewendet
werden musste (Fall II. 1). Am 7. Dezember 2010 bezeichnete der Beschuldigte
während einer gemeinsamen Zugfahrt die Zeugin S.
ohne jeden Anlass als
„Hure“ und „Schlampe“. Zugleich trat er ihr mit dem Fuß gegen den rechten
Unterschenkel, wobei er schwere, massive Stiefel trug. Als ihn die Zeugin auf
sein Verhalten ansprach, äußerte er „Ich bringe dich um“ und „Ich mache dich
kalt“. Die Zeugin erlitt durch den Tritt mehrere Tage andauernde, nicht unerhebliche Schmerzen und einen Schock. Auf der von der Polizei begleiteten Weiterfahrt kam es bei ihr mehrfach zu Weinkrämpfen (Fall II. 2). Am 23. März 2011
versetzte der Beschuldigte in F.
auf offener Straße einer ihm unbekannten
Schülerin, die sich mit zwei Mitschülerinnen auf dem Nachhauseweg befand,
einen massiven Tritt in den Rücken. Dabei trug er erneut schwere Schnürstiefel.
Da der Tritt durch den Schulranzen gedämmt wurde, kam es nicht zu länger
andauernden Schmerzen. Die Schülerin erlitt einen Weinkrampf und war wie
ihre beiden Begleiterinnen von dem Verhalten des Beschuldigten geschockt
(Fall II. 3). Am 26. Oktober 2011 zeigte der Beschuldigte in der P.
Innenstadt einem Polizeibeamten den ausgestreckten Mittelfinger und bezeichnete ihn bei der anschließenden Personalienfeststellung als „Arschloch“
(Fall II. 4). Das Landgericht hat die festgestellten Vorfälle als Bedrohung
(Fall II. 1), vorsätzliche Körperverletzung in Tateinheit mit Beleidigung und Bedrohung (Fall II. 2), vorsätzliche Körperverletzung (Fall II. 3) und Beleidigung
(Fall II. 4) gewertet.
3
Dem Gutachten des angehörten Sachverständigen folgend geht das
Landgericht davon aus, dass der Beschuldigte „seit vielen Jahren“ an einer
paranoiden Schizophrenie mit chronischem Residuum leidet. Aufgrund der
-4-
Erkrankung treten bei ihm unterschiedlich akzentuierte Symptome wahnhafter
Überzeugtheit auf. Die dadurch generierten Impulse werden von ihm, dem
Grundmuster der festgestellten Taten entsprechend, in aggressiv feindseliger
Weise umgesetzt. Stationären Aufenthalten in psychiatrischen Krankenhäusern
in den Jahren 1987, 1994 und 1995 gingen jeweils „massive aggressive Übergriffe auf Dritte“ voraus, insbesondere auf Waldwegen, zum Teil mit Messern,
durch Schubsen oder Fußtritte sowie Bedrohungen. Ein gegen den Beschuldigten im Jahr 1994 wegen des Verdachts der Körperverletzung geführtes Ermittlungsverfahren wurde wegen Schuldunfähigkeit eingestellt. Aufgrund dieser
Erkrankung war die Steuerungsfähigkeit des Beschuldigten bei sämtlichen
Taten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit erheblich beeinträchtigt
(§ 21 StGB) und nicht ausschließbar aufgehoben (§ 20 StGB).
4
Das Landgericht hat die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB angeordnet, weil die unter II. 1 bis
II. 3 festgestellten Taten dem Bereich der mittleren Kriminalität zuzuordnen
seien und davon auszugehen sei, dass der Angeklagte ohne Intervention auch
in Zukunft ähnlich gelagerte Taten begehen werde.
5
2. Diese Feststellungen belegen nicht hinreichend, dass von dem Beschuldigten aufgrund seines Zustands erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist (§ 63 StGB).
6
a) Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus ist aufgrund
ihrer zeitlichen Unbegrenztheit eine außerordentlich beschwerende Maßnahme.
Sie darf deshalb nur dann angeordnet werden, wenn eine Wahrscheinlichkeit
höheren Grades dafür besteht, dass der Täter infolge seines Zustands in Zukunft Taten begehen wird, die eine schwere Störung des Rechtsfriedens zur
-5-
Folge haben (BGH, Urteil vom 2. März 2011 2 StR 550/10, NStZ-RR 2011,
240, 241; Beschluss vom 22. Februar 2011 4 StR 635/10, NStZ-RR 2011,
202; Urteil vom 7. Januar 1997 5 StR 508/96, NStZ-RR 1997, 230).
7
Ob eine zu erwartende Straftat zu einer schweren Störung des Rechtsfriedens führt, ist anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls zu entscheiden (BGH, Beschluss vom 22. Februar 2011 4 StR 635/10, NStZ-RR 2011,
202; Beschluss vom 26. April 2001 4 StR 538/00, StV 2002, 477 f.). Dabei
kann sich wie in aller Regel bei Verbrechen oder Gewalt- und Aggressionsdelikten eine schwere Störung des Rechtsfriedens bereits allein aus dem Gewicht des Straftatbestandes ergeben, mit dessen Verwirklichung gerechnet
werden muss (BGH, Beschluss vom 22. Februar 2011 4 StR 635/10,
NStZ-RR 2011, 202; Urteil vom 12. Juni 2008 4 StR 140/08, NStZ 2008, 563,
564; Beschluss vom 24. November 2004 1 StR 493/04, NStZ-RR 2005, 72,
73). Sind die zu erwartenden Delikte nicht wenigstens dem Bereich der mittleren Kriminalität zuzuordnen, ist die Annahme einer schweren Störung des
Rechtsfriedens dagegen nur in Ausnahmefällen begründbar (BGH, Urteil vom
2. März 2011 2 StR 550/10, NStZ-RR 2011, 240, 241; Beschluss vom
18. März 2008 4 StR 6/08; Beschluss vom 18. Februar 1992 4 StR 27/92,
BGHR
StGB
§ 63
Gefährlichkeit 16;
Beschluss
vom
28. Juni
2005
4 StR 223/05, NStZ-RR 2005, 303, 304).
8
Die für die Maßregelanordnung erforderliche Gefährlichkeitsprognose ist
auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstaten zu entwickeln
(BGH, Urteil vom 17. August 1977 2 StR 300/77, BGHSt 27, 246, 248 f.; Urteil
vom 17. November 1999 2 StR 453/99, BGHR StGB § 63 Gefährlichkeit 27).
Dabei sind an die Darlegungen umso höhere Anforderungen zu stellen, je mehr
-6-
es sich bei dem zu beurteilenden Sachverhalt unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (§ 62 StGB) um einen Grenzfall handelt (vgl.
BGH, Beschluss vom 8. November 2006 2 StR 465/06, NStZ-RR 2007, 73,
74).
9
b) Gemessen an diesen Maßstäben hat das Landgericht seine Überzeugung von der zukünftigen Gefährlichkeit des Beschuldigten nicht tragfähig begründet.
10
Im Grundsatz zutreffend geht das Landgericht davon aus, dass die gewalttätigen Übergriffe des Beschuldigten in den Fällen II. 2 und II. 3 der Urteilsgründe von erheblichem Gewicht sind. Dass auch eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades dafür besteht, dass der Beschuldigte künftig diesen Anlasstaten
gleich gelagerte Straftaten begehen wird, hat es jedoch nicht hinreichend dargelegt.
11
Die Gefährlichkeitsprognose des Landgerichts beruht auf der Erwägung,
dass es sich bei den für die Anlasstaten ursächlichen psychotischen Impulsen
um ein Symptom der bei dem Beschuldigten schon seit 1987 bestehenden
Grunderkrankung handelt, das aufgrund seines regelhaften Auftretens auch in
Zukunft immer wieder zu gleich gelagerten Taten führen wird (UA 7). Bei dieser
Sachlage hätte es näherer Erörterung bedurft, warum der Beschuldigte in der
Vergangenheit nicht häufiger durch Aggressionsdelikte in Erscheinung getreten
ist und welche prognoserelevanten Schlüsse hieraus zu ziehen sind. Dass ein
Täter trotz bestehenden Defekts über Jahre hinweg keine Straftaten begangen
hat, ist ein gewichtiges Indiz gegen die Wahrscheinlichkeit künftiger gefährlicher
Straftaten (BGH, Beschluss vom 11. März 2009 2 StR 42/09, NStZ-RR 2009,
-7-
198, 199; Urteil vom 17. November 1999 2 StR 453/99, BGHR StGB § 63 Gefährlichkeit 27).
12
Die Feststellung, dass den stationären Aufenthalten des Beschuldigten in
den Jahren 1987, 1994 und 1995 „massive aggressive Übergriffe auf Dritte“
vorausgegangen sind, ist ohne Aussagekraft, weil es an einer nachvollziehbaren Darstellung einzelner Vorfälle und ihrer Genese fehlt. Gleiches gilt für den
Vorgang, der dem wegen Körperverletzung geführten Ermittlungsverfahren der
Staatsanwaltschaft Straubing aus dem Jahr 1994 zugrunde lag, das wegen
Schuldunfähigkeit eingestellt worden ist. Grundsätzlich kann auch lange zurückliegenden Taten eine indizielle Bedeutung für die Gefährlichkeitsprognose zukommen (BGH, Urteil vom 11. August 2011 4 StR 267/11, Rn. 14; vgl. BGH,
Urteil vom 12. Juni 2008 4 StR 140/08, BeckRS 2008, 13076, insoweit in
NStZ 2008, 563 nicht abgedruckt), doch setzt dies regelmäßig voraus, dass
diese Taten in einem inneren Zusammenhang zu der festgestellten Erkrankung
gestanden haben und ihre Ursache nicht vornehmlich in anderen nicht krankheitsbedingten Umständen zu finden ist (vgl. BGH, Beschluss vom 20. Dezember 2001 4 StR 540/01, BeckRS 2001, 30228853). Dies ist in den Urteilsgründen darzustellen und mit Tatsachen zu belegen.
13
Soweit das Landgericht auch die Todesdrohungen zum Nachteil der
Zeugen He. (Fall II. 1) der mittleren Kriminalität zugeordnet hat, wird dies von
den Feststellungen nicht belegt. Todesdrohungen gehören nur dann zu den
erheblichen Straftaten, wenn sie geeignet sind, den Bedrohten nachhaltig und
massiv in seinem elementaren Sicherheitsempfinden zu beeinträchtigen; dies
ist insbesondere dann der Fall, wenn sie aus der Sicht des Betroffenen die nahe liegende Gefahr ihrer Verwirklichung in sich tragen (BGH, Beschluss vom
22. Februar 2011 4 StR 635/10, NStZ-RR 2011, 202, 203; Urteil vom 12. Juni
-8-
2008 4 StR 140/08, NStZ 2008, 563, 564). Dass die bedrohten Zeugen mit
tödlichen Messerstichen gerechnet haben, lässt sich den Feststellungen nicht
entnehmen. Die Tatsache, dass sie nach der ersten Drohung die Verfolgung
des Beschuldigten aufnahmen, spricht eher für das Gegenteil.
14
Die Sache bedarf daher insgesamt neuer Verhandlung und Entscheidung. Eine abschließende Entscheidung vermochte der Senat nicht zu treffen,
weil es nicht fernliegend ist, dass weitere Feststellungen getroffen werden können, die eine Anordnung der Unterbringung gemäß § 63 StGB rechtfertigen.
Mutzbauer
Roggenbuck
Bender
Schmitt
Quentin