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1 year ago
  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. IM NAMEN DES VOLKES
  3. URTEIL
  4. Verkündet am:
  5. 26. Juli 2005
  6. Wermes
  7. Justizhauptsekretär
  8. als Urkundsbeamter
  9. der Geschäftsstelle
  10. X ZR 134/04
  11. in dem Rechtsstreit
  12. Nachschlagewerk: ja
  13. BGHZ:
  14. nein
  15. BGHR:
  16. ja
  17. BGB § 252 Satz 2
  18. Der Grundsatz, daß sich der Tatrichter seiner Aufgabe, eine Schadensermittlung vorzunehmen, nicht vorschnell unter Hinweis auf die Unsicherheit möglicher Prognosen entziehen darf (BGH, Urt. v. 17.2.1998 - VI ZR 342/96, NJW
  19. 1998, 1633), gilt auch im Bereich der Vertragshaftung.
  20. BGH, Urt. v. 26.7.2005 - X ZR 134/04 - OLG München
  21. LG München I
  22. -2-
  23. Der X. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 26. Juli 2005 durch den Vorsitzenden Richter Dr. Melullis, die
  24. Richter Scharen, Keukenschrijver, die Richterin Mühlens und den Richter
  25. Dr. Kirchhoff
  26. für Recht erkannt:
  27. Auf die Revision der Klägerin wird das am 3. Februar 1999 verkündete Urteil des 7. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München im
  28. Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als die Klage in Höhe von
  29. 1.150.000,- DM (entsprechend 587.985,66 EUR) nebst Zinsen abgewiesen worden ist.
  30. In diesem Umfang wird die Sache zu anderweiter Verhandlung und
  31. Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
  32. Von Rechts wegen
  33. Tatbestand:
  34. Die Klägerin und die während des Verfahrens insolvent gewordene
  35. M.
  36. A.
  37. GmbH (nachfolgend: Schuldnerin) schlossen im Jahr
  38. 1989 eine Vereinbarung über die Produktion, Nachentwicklung und den Vertrieb eines von der Klägerin entwickelten, als "Mi.
  39. " bezeichneten Analy-
  40. -3-
  41. segeräts, das in einer isokratischen und einer binären Version hergestellt werden sollte. In der Vereinbarung war festgelegt, daß die Schuldnerin, die zum
  42. B.
  43. gehörte, zunächst fünf Geräte einer Nullserie, und zwar drei in
  44. der isokratischen und zwei in der binären Version, herstellen sollte. Die Klägerin rief diese Geräte im Juli 1989 ab. Die Schuldnerin lieferte im Frühjahr 1990
  45. die drei Geräte in der isokratischen Version aus, von denen die Klägerin eines
  46. bezahlte. Die Herstellung der binären Geräte bereitete der Schuldnerin Schwierigkeiten. Die Schuldnerin entschloß sich deshalb, die Zusammenarbeit zu beenden, und kündigte nach einem Gespräch mit dem Geschäftsführer der Klägerin den Vertrag fristgemäß zum 30. Juni 1991. Die Klägerin und die Schuldnerin einigten sich darauf, die noch nicht erledigten Bestellungen in eine solche
  47. über zwei isokratische Geräte abzuändern, die seitens der Schuldnerin auch
  48. bereitgestellt, aber von der Klägerin nicht mehr abgerufen wurden. Die Schuldnerin führte die Bemühungen wegen der binären Version nicht weiter; die Klägerin tätigte keine weiteren Bestellungen.
  49. Die Klägerin machte gegen die Schuldnerin einen Schadensersatzanspruch in Höhe von 1.150.000,- DM nebst Zinsen mit der Behauptung geltend,
  50. ihr sei bis zum 30. Juni 1991 ein Gewinn aus der Vermarktung der Geräte in
  51. dieser Höhe entgangen. Außerdem stritten die Klägerin und die Schuldnerin
  52. über die Vergütung für die drei ausgelieferten Geräte; insoweit ist das Verfahren nach Ablehnung der Annahme der Revision der Klägerin abgeschlossen.
  53. Das Landgericht hat dem Schadensersatzanspruch zunächst durch Teil- und
  54. Grundurteil zur Hälfte stattgegeben. Nach Aufhebung und Zurückverweisung
  55. durch das Oberlandesgericht hat es der Klage wiederum teilweise entsprochen.
  56. Im Berufungsverfahren hat das Oberlandesgericht die Klage insgesamt abgewiesen und einer Widerklage der Schuldnerin im wesentlichen stattgegeben.
  57. Der Senat hat die Revision der Klägerin nur insoweit angenommen, als die
  58. Klage in Höhe von 1.150.000,- DM nebst Zinsen abgewiesen worden ist. In
  59. diesem Umfang hat die Klägerin ihr Begehren zunächst weiterverfolgt. Wäh-
  60. -4-
  61. rend des Revisionsverfahrens ist über das Vermögen der Schuldnerin das Insolvenzverfahren eröffnet worden. Die Klägerin hat den Rechtsstreit gegen den
  62. Insolvenzverwalter aufgenommen und beantragt nunmehr, zur Insolvenztabelle
  63. festzustellen, daß der Klägerin eine Insolvenzforderung in Höhe von
  64. 587.985,66 EUR nebst bezifferter Zinsen zusteht. Der Beklagte tritt dem
  65. Rechtsmittel entgegen.
  66. Entscheidungsgründe:
  67. Die zulässige Revision führt im Umfang der Annahme zur Aufhebung
  68. des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht, dem auch die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens zu übertragen ist.
  69. I. Das Berufungsgericht hat Schadensersatzansprüche der Klägerin wegen Pflichtverletzungen hinsichtlich der isokratischen Analysegeräte durch die
  70. Schuldnerin verneint. Die Revision rügt, daß das Berufungsgericht insoweit
  71. einen möglichen Interessewegfall bei der Klägerin auch im Hinblick auf diese
  72. Geräte nicht berücksichtigt habe. Das Berufungsgericht wird im wiedereröffneten Berufungsrechtszug die Möglichkeit haben, sich mit diesem Gesichtspunkt
  73. näher zu befassen.
  74. II. Nicht beigetreten werden kann dem Berufungsgericht im Ergebnis in
  75. seiner Verneinung von Schadensersatzansprüchen auch hinsichtlich der binären Geräte.
  76. 1. Das Berufungsgericht hat insoweit eine schuldhafte Pflichtverletzung
  77. durch die Schuldnerin jedenfalls im Ergebnis zutreffend bejaht.
  78. -5-
  79. a) Insoweit ergibt sich aus den vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen, daß die Schuldnerin dadurch in Verzug geraten ist, daß sie die für
  80. die Herstellung dieser Version erforderlichen Leistungen nicht erbracht hat.
  81. Allerdings fehlt es an einer nach § 326 Abs. 1 Satz 1 BGB a.F. grundsätzlich
  82. notwendigen Ablehnungsandrohung. Jedoch war diese dann nicht erforderlich,
  83. wenn bezüglich des binären Geräts eine ernsthafte und endgültige Erfüllungsverweigerung vorlag. Nach dem vom Berufungsgericht festgestellten Verhalten
  84. der Schuldnerin (Stornierung der Bestellung neuer Pumpen und Abbruch der
  85. Weiterentwicklung des binären Geräts sowie Schreiben vom 13. September
  86. 1990) ist jedenfalls für das Revisionsverfahren von einer endgültigen und
  87. ernsthaften Erfüllungsverweigerung auszugehen.
  88. b) Die Klägerin kann, soweit sich nach erneuter Prüfung kein Interessewegfall hinsichtlich der isokratischen Geräte ergeben sollte, allerdings nur
  89. Schadensersatz wegen des nicht erfüllten Teils verlangen (§ 326 Abs. 1 Satz 3
  90. BGB i.V.m. § 325 Abs. 1 Satz 2 BGB, jeweils in der vor dem 1.1.2002 geltenden Fassung - nachfolgend: a.F. -; Art. 229 Abs. 5 EGBGB).
  91. c) Soweit das Berufungsgericht mangelnde Vertragstreue und Mitverschulden der Klägerin verneint hat, treten Rechtsfehler zum Nachteil der Klägerin nicht hervor.
  92. 2. Das Berufungsgericht hat gleichwohl Schadensersatzansprüche der
  93. Klägerin im Ergebnis daran scheitern lassen, daß diese einen Schaden nicht
  94. nachgewiesen habe. Dies begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
  95. a) Das Berufungsgericht hat sich dabei darauf gestützt, daß es die hierzu gehörte Sachverständige für unmöglich gehalten habe, hierüber eine Aussage zu treffen. Nach ihren Bekundungen habe zwar ein Gewinn, aber glei-
  96. -6-
  97. chermaßen auch ein Verlust entstehen können, da derartige Geräte noch niemals gebaut worden seien.
  98. b) Das Berufungsgericht hat es für möglich gehalten, daß das binäre Gerät bis zum 30. Juni 1996 habe fertiggestellt werden können. Hiervon ist auch
  99. im Revisionsverfahren zugunsten der Klägerin auszugehen. Damit kommt,
  100. nachdem die Schuldnerin hierzu auch verpflichtet war, ein Schaden, der einen
  101. Schadensersatzanspruch begründen konnte, grundsätzlich in Betracht.
  102. c) Für die Schadensfeststellung gilt nach § 252 Satz 2 1. Alt. BGB derjenige Gewinn als entgangen, der nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge mit
  103. Wahrscheinlichkeit erwartet werden konnte. Zweck der Bestimmung ist es, dem
  104. Geschädigten den Beweis zu erleichtern (vgl. BGHZ 74, 221, 224 m.w.N.;
  105. BGHZ 100, 36, 49). Ist ersichtlich, daß der Gewinn nach dem gewöhnlichen
  106. Lauf der Dinge oder den besonderen Umständen mit Wahrscheinlichkeit erwartet werden konnte, dann wird vermutet, daß er gemacht worden wäre. Volle
  107. Gewißheit, daß der Gewinn gezogen worden wäre, ist nicht erforderlich (vgl.
  108. BGHZ 29, 393, 398; BGHZ 100, 36, 50; BGH, Urt. v. 2.5.2002 - III ZR 100/01,
  109. NJW 2002, 2556 = BGHR BGB § 252 Kapitalanlage 1). Insoweit dürfen an das
  110. Vorbringen eines selbständigen Unternehmers, ihm seien erwartete Gewinne
  111. entgangen, wegen der damit regelmäßig verbundenen Schwierigkeiten keine
  112. allzu strengen Anforderungen gestellt werden (BGH, Urt. v. 9.4.1992 - IX ZR
  113. 104/91, NJW-RR 1992, 997, 998 = BGHR ZPO § 287 Abs. 1 Gewinnentgang
  114. 6).
  115. Die Klägerin hat einen Gewinnentgang dahin substantiiert, daß sie nach
  116. einem von ihr mit der Schuldnerin erstellten Absatzplan 60 Geräte, und zwar je
  117. 30 beider Versionen, davon 17 Geräte fix, mit einem Gewinn von jeweils mindestens 26.800 DM hätte absetzen können. Damit hat sie Ausgangs- und Anknüpfungstatsachen für eine Wahrscheinlichkeitsprognose nach § 252 BGB
  118. -7-
  119. und eine daran anknüpfende Schadensschätzung nach § 287 ZPO dargelegt.
  120. Auf dieser Grundlage konnte - wie das Berufungsgericht dies auch versucht
  121. hat - Beweis erhoben werden. Die erstinstanzlich gehörte Sachverständige hat
  122. sich dazu dahin geäußert, daß sowohl ein höherer Gewinn als 30.000 DM in
  123. Betracht komme als auch ein Verlust.
  124. Das Berufungsgericht durfte nach § 252 Satz 2 BGB einen Schadensersatzanspruch nur dann verneinen, wenn ein Schadenseintritt nicht mit Wahrscheinlichkeit zu erwarten war. Eine entsprechende Gewinnerwartung bestand
  125. jedenfalls hinsichtlich der isokratischen Geräte und führte insoweit jedenfalls
  126. dann zu einem Schaden, wenn sich, was noch zu klären ist, die Klägerin insoweit auf Interessewegfall berufen kann. Aber auch hinsichtlich der binären Geräte kann mit der Argumentation des Berufungsgerichts ein Schaden nicht verneint werden. Jedenfalls in einem Fall wie dem vorliegenden, in dem es um die
  127. Markteinführung eines neu entwickelten Geräts geht, ist die Wahrscheinlichkeitsprognose notwendig unsicher; eine Differenzierung zwischen "gewisser"
  128. oder "überwiegender" Wahrscheinlichkeit führt hier nicht ohne weiteres weiter.
  129. Dieser Schwierigkeit muß auch im Bereich der Vertragshaftung nach den gleichen Grundsätzen Rechnung getragen werden, wie sie der VI. Zivilsenat des
  130. Bundesgerichtshofs für Ansprüche aus unerlaubter Handlung entwickelt hat
  131. (BGH, Urt. v. 17.2.1998 - VI ZR 342/96, NJW 1998, 1633, 1634; vgl. BGH, Urt.
  132. v. 3.3.1998 - VI ZR 385/96, NJW 1998, 1634, 1636 = BGHR BGB § 842 Selbständige 1; v. 20.4.1999 - VI ZR 65/98, VersR 2000, 233; v. 6.2.2001
  133. - VI ZR 339/99, NJW 2001, 1640, 1641 = BGHR BGB § 252 Satz 2 Verdienstausfall 8). Demnach darf sich der Tatrichter seiner Aufgabe, auf der
  134. Grundlage der §§ 252 BGB und 287 ZPO eine Schadensermittlung vorzunehmen, nicht vorschnell unter Hinweis auf die Unsicherheit möglicher Prognosen
  135. entziehen. Wird dem Geschädigten durch vertragswidriges Verhalten des
  136. Schädigers die Möglichkeit genommen oder beschränkt, sein neues Produkt
  137. auf den Markt zu bringen, darf der Wahrscheinlichkeitsnachweis nicht schon
  138. -8-
  139. deshalb als nicht geführt angesehen werden, weil sich eine überwiegende
  140. Wahrscheinlichkeit nicht feststellen läßt. Vielmehr liegt es im Bereich der Vertragshaftung in einem solchen Fall nahe, nach dem gewöhnlichen Verlauf der
  141. Dinge von einem angemessenen Erfolg des Geschädigten beim Vertrieb auszugehen und auf dieser Grundlage die Prognose hinsichtlich des entgangenen
  142. Gewinns und des infolgedessen entstandenen Schadens anzustellen, wobei
  143. auch ein Risikoabschlag in Betracht kommen mag.
  144. d) Den sich hieraus ergebenden Anforderungen an die zu treffende
  145. Prognoseentscheidung ist das Berufungsgericht nicht gerecht geworden. Es
  146. hat sich von Rechtsirrtum beeinflußt die Bekundung der Sachverständigen zu
  147. eigen gemacht, eine Voraussage des wirtschaftlichen Erfolgs sei letztlich nicht
  148. möglich. Es hat damit versäumt, aus den tatsächlichen Grundlagen, von denen
  149. es ausgegangen ist, die nach § 252 BGB erforderlichen Schlüsse zu ziehen
  150. und die demnach auf der Grundlage des § 287 ZPO zumindest gebotene
  151. Schätzung
  152. eines
  153. Mindestschadens
  154. (vgl.
  155. u.a.
  156. Sen.Urt.
  157. - X ZR 222/98, NJW-RR 2000, 1340, 1341) selbst vorzunehmen.
  158. v.
  159. 1.2.2000
  160. -9-
  161. III. Bei der erneuten Verhandlung wird das Berufungsgericht zunächst zu
  162. prüfen haben, ob hinsichtlich der isokratischen Geräte ein Interessewegfall bei
  163. der Klägerin eingetreten ist. Es wird weiter unter Berücksichtigung der Beweiserleichterungen, die sich aus den §§ 252 BGB, 287 ZPO ergeben, die Höhe
  164. des entgangenen Gewinns festzustellen haben.
  165. Melullis
  166. Scharen
  167. Mühlens
  168. Keukenschrijver
  169. Kirchhoff