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- BUNDESGERICHTSHOF
- BESCHLUSS
- V ZB 77/14
- vom
- 4. Dezember 2014
- in der Abschiebungshaftsache
- Nachschlagewerk:
-
- ja
-
- BGHZ:
-
- ja (II.1.)
-
- BGHR:
-
- ja
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- AufenthG § 62
- a) Die Haft zur Sicherung der Abschiebung darf nicht „auf Vorrat“ angeordnet
- werden, indem ihr Beginn an das Ende einer laufenden Straf- oder
- Untersuchungshaft und damit an einen in der Zukunft liegenden ungewissen
- Zeitpunkt geknüpft wird (Aufgabe des Senatsbeschlusses vom 9. März 1995 –
- V ZB 7/95, BGHZ 129, 98 ff., bestätigt durch Senatsbeschluss vom 4. März
- 2010 – V ZB 222/09, BGHZ 184, 323 Rn. 12).
- b) Sie kann jedoch parallel zu einer laufenden Straf- oder Untersuchungshaft
- angeordnet werden, sofern die üblichen Voraussetzungen hierfür vorliegen;
- obwohl die Abschiebungshaft erst nach dem Ende der Straf- oder
- Untersuchungshaft vollzogen werden kann, berechnet sich der Haftzeitraum
- von der Haftanordnung an.
- BGH, Beschluss vom 4. Dezember 2014 - V ZB 77/14 - LG Traunstein
- AG Mühldorf a. Inn
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- Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 4. Dezember 2014 durch die
- Vorsitzende Richterin Dr. Stresemann, die Richter Dr. Czub und Dr. Roth, die
- Richterin Dr. Brückner und den Richter Dr. Kazele
-
- beschlossen:
- Auf die Rechtsbeschwerde wird der Beschluss der 4. Zivilkammer
- des Landgerichts Traunstein vom 16. April 2014 aufgehoben,
- soweit zum Nachteil des Betroffenen entschieden worden ist.
- Es wird festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts
- Mühldorf am Inn vom 1. April 2014 den Betroffenen auch in dem
- Zeitraum ab dem 5. Februar 2014 in seinen Rechten verletzt hat.
- Gerichtskosten werden in allen Instanzen nicht erhoben. Die zur
- zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen
- des Betroffenen in allen Instanzen werden dem Landkreis
- Garmisch-Partenkirchen auferlegt.
- Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt
- 5.000 €.
-
- Gründe:
- I.
- 1
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- Der Betroffene wurde im Jahr 2009 unter Androhung der Abschiebung
- aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen. Vom 24. September 2013
- bis
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- zum
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- 13. Januar
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- Fahrraddiebstahls
-
- in
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- 2014
-
- befand
-
- er
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- Untersuchungshaft.
-
- sich
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- wegen
-
- eines
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- Währenddessen
-
- versuchten
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- ordnete
-
- das
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- Amtsgericht auf Antrag der beteiligten Behörde mit Beschluss vom 1. Oktober
- 2013 Abschiebungshaft für die Dauer von längstens drei Monaten an, wobei
- diese im Anschluss an die Untersuchungshaft bzw. Strafhaft vollstreckt werden
-
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-
- sollte. Hiergegen legte der Betroffene am 20. Januar 2014 Beschwerde ein, die
- als unzulässig verworfen wurde; hilfsweise hat er die Aufhebung der Haft
- beantragt.
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-
- Mit
-
- Beschluss
-
- vom
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- 1.
-
- April
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- 2014
-
- hat
-
- das
-
- Amtsgericht
-
- den
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- Haftaufhebungsantrag zurückgewiesen. Auf die gegen diesen Beschluss
- gerichtete Beschwerde hat das Landgericht unter Zurückweisung des
- Rechtsmittels im Übrigen festgestellt, dass die Inhaftierung in dem Zeitraum
- vom 20. Januar bis zum 4. Februar 2014 rechtswidrig war. Mit der
- Rechtsbeschwerde will der Betroffene feststellen lassen, dass er auch über den
- 4. Februar 2014 hinaus in seinen Rechten verletzt worden ist.
- II.
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-
- Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg.
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- 4
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- 1. Entgegen der Auffassung der Vorinstanzen durfte der Beginn der
- Sicherungshaft nicht an das Ende der laufenden Untersuchungshaft und damit
- an einen in der Zukunft liegenden ungewissen Zeitpunkt geknüpft werden.
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- a) Allerdings hat der Senat die Anordnung von Abschiebungshaft für drei
- Monate - wie hier - im Anschluss an eine bestehende Untersuchungshaft
- bislang gebilligt (Beschlüsse vom 9. März 1995 - V ZB 7/95, BGHZ 129, 98 ff.;
- vom 4. März 2010 - V ZB 222/09, BGHZ 184, 323 Rn. 12; zustimmend
- Winkelmann in Renner/Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 10. Aufl., § 62
- AufenthG Rn. 353; Keidel/Budde, FamFG, 18. Aufl., § 425 Rn. 5). In der
- Folgezeit hat er jedoch für die Prognose, ob die Abschiebung innerhalb der
- nächsten drei Monate möglich erscheint, bei einer solchen „Überhaft“ auf den
- Erlass der Haftanordnung und nicht auf den mutmaßlichen Beginn der
- Abschiebungshaft
-
- abgestellt
-
- (Senat,
-
- Beschluss
-
- vom
-
- 12.
-
- Mai
-
- 2011
-
- - V ZB 309/10, juris Rn. 15; vgl. auch Senat, Beschluss vom 25. März 2010
- - V ZA 9/10, NVwZ 2010, 1175 Rn. 18; ebenso Prütting/Helms/Jennissen,
- FamFG, 3. Aufl., § 425 Rn. 11; Winkelmann in Renner/Bergmann/Dienelt,
- Ausländerrecht, 10. Aufl., § 62 AufenthG Rn. 146).
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- -4-
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- 6
-
- b) Der Begriff der Überhaft ist in diesem Zusammenhang zwar
- gebräuchlich, aber irreführend, weil er dem Strafprozessrecht entlehnt ist und
- dort die Existenz eines weiteren Haftbefehls neben einer bereits vollzogenen
- Haft kennzeichnet. Die Vorführung des Beschuldigten vor den Richter (§§ 115,
- 115a StPO) findet bei notierter Überhaft erst statt, wenn insoweit die
- Vollstreckung beginnt (Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 57. Aufl., vor
- § 112 Rn. 12 f., § 115 Rn. 12; KK/Graf, StPO, 7. Aufl., vor § 112 Rn. 17,
- § 115 Rn. 16). Hiervon unterscheidet sich das Freiheitsentziehungsverfahren
- nach den Vorschriften der §§ 415 ff. FamFG in wesentlichen Punkten. Einen
- Haftbefehl bzw. eine „auf Vorrat“ angeordnete Sicherungshaft sieht es gerade
- nicht vor (Senat, Beschluss vom 9. Juni 2011 - V ZB 26/11, juris Rn. 8). Die
- Anhörung des Betroffenen erfolgt vor der Anordnung der Haft. In diesem
- Zeitpunkt muss der Haftrichter abschließend über deren Voraussetzungen
- befinden.
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-
- c) Richtigerweise kann die Haft zur Sicherung der Abschiebung daher
- nur parallel zu einer laufenden Straf- oder Untersuchungshaft angeordnet
- werden. Dies kann einem praktischen Bedürfnis entsprechen (vgl. Senat,
- Beschluss vom 4. März 2010 - V ZB 222/09, BGHZ 184, 323 Rn. 12), weil das
- vorzeitige Ende einer Strafhaft etwa bei Verbüßung einer Ersatzfreiheitsstrafe
- durch Zahlung der Geldstrafe eintreten (vgl. § 459e Abs. 4 Satz 1 StPO;
- Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 57. Aufl., § 459e Rn. 5) und die
- Untersuchungshaft
-
- ohnehin
-
- jederzeit
-
- enden
-
- kann.
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- Obwohl
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- die
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- Abschiebungshaft erst nach dem Ende der Straf- oder Untersuchungshaft
- vollzogen wird, berechnet sich der Haftzeitraum von der Haftanordnung an
- (zutreffend LG Verden, InfAuslR 2012, 425 f.; ähnlich OLG Köln, OLGR 2002,
- 364 f.; OLG München, OLGR 2005, 439 f.; OLG Düsseldorf, InfAuslR 2008,
- 38 f.; im Ergebnis auch Prütting/Helms/Jennissen, FamFG, 3. Aufl., § 425 Rn.
- 11).
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- -5-
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- d) Für eine Anordnung von Abschiebungshaft parallel zu einer laufenden
- Straf- oder Untersuchungshaft müssen die üblichen formellen und materiellen
- Voraussetzungen vorliegen. Insbesondere muss die Haft auf die kürzest
- mögliche Dauer beschränkt werden (§ 62 Abs. 1 Satz 2 AufenthG); die Behörde
- darf während der Untersuchungshaft bzw. der Vollstreckung der Freiheitsstrafe
- nicht untätig bleiben. Es darf nicht feststehen, dass die Abschiebung aus
- Gründen, die der Ausländer nicht zu vertreten hat, nicht innerhalb der nächsten
- drei Monate durchgeführt werden kann (§ 62 Abs. 3 Satz 4 AufenthG; vgl.
- Senat, Beschluss vom 12. Mai 2011 - V ZB 309/10, juris Rn. 15). Bei laufender
- Untersuchungshaft kann die Abschiebungshaft nur angeordnet werden, wenn
- das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft vorliegt (§ 72 Abs. 4 Satz 1
- AufenthG); ist dieses erteilt worden, kann davon ausgegangen werden, dass
- der
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- Haftbefehl
-
- der
-
- Abschiebung
-
- nicht
-
- entgegenstehen
-
- und
-
- die
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- Staatsanwaltschaft ggf. dessen Aufhebung beantragen wird (§ 120 Abs. 3
- StPO).
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- 2. Daran gemessen erweist sich die Haft als rechtswidrig. Zwar hat die
- Staatsanwaltschaft ihr Einvernehmen erteilt. Der Haftbeginn war jedoch an ein
- künftiges Ereignis geknüpft. Dieser Fehler hat sich auch ausgewirkt, weil die
- Dreimonatsfrist bereits abgelaufen war, als der Vollzug der Abschiebungshaft
- begann.
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- 3. Zudem hat das Amtsgericht unter Verletzung von § 26 FamFG die ihm
- obliegende Prognose (näher dazu Senat, Beschluss vom 22. Juli 2010 - V ZB
- 29/10, InfAuslR 2011, 27 Rn. 22) nicht vorgenommen. Die Haftanordnung vom
- 1. Oktober 2013 enthält keinerlei Prognose. Die Entscheidung über den Antrag
- auf Haftaufhebung vom 1. April 2014 beschränkt sich auf die Wiedergabe der
- Einschätzung der Ausländerbehörde, der ursprüngliche Zeitplan werde
- eingehalten und das Beschleunigungsgebot finde Beachtung. Aus dem
- späteren tatsächlichen Geschehensablauf kann zwar auf den mutmaßlichen
- Inhalt einer gebotenen, aber unterlassenen Prognose geschlossen werden
- (Senat, Beschluss vom 20. Januar 2011 – V ZB 226/10, FGPrax 2011, 144
- Rn. 19). Hier ist die Abschiebung aber nicht während der Haftzeit erfolgt.
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- III.
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- Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 Satz 1 und 2, § 83
- Abs. 2, § 430 FamFG, Art. 5 Abs. 5 EMRK analog. Die Festsetzung des
- Beschwerdewerts folgt aus § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG.
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- Stresemann
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- Czub
- Brückner
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- Roth
- Kazele
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- Vorinstanzen:
- AG Mühldorf am Inn, Entscheidung vom 01.04.2014 - 1 XIV 45/14 (L)LG Traunstein, Entscheidung vom 16.04.2014 - 4 T 1352/14 -
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