Search on legal documents using Tensorflow and a web_actix web interface
You can not select more than 25 topics Topics must start with a letter or number, can include dashes ('-') and can be up to 35 characters long.

124 lines
5.7 KiB

1 year ago
  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. BESCHLUSS
  3. V ZB 107/17
  4. vom
  5. 25. Januar 2018
  6. in der Abschiebungshaftsache
  7. ECLI:DE:BGH:2018:250118BVZB107.17.0
  8. -2-
  9. Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 25. Januar 2018 durch die
  10. Vorsitzende Richterin Dr. Stresemann, die Richterinnen Dr. Brückner und
  11. Weinland und die Richter Dr. Kazele und Dr. Hamdorf
  12. beschlossen:
  13. Auf die Rechtsbeschwerde wird festgestellt, dass der Beschluss
  14. des Amtsgerichts Stuttgart vom 28. Februar 2017 und der
  15. Beschluss des Landgerichts Stuttgart - 2. Zivilkammer - vom
  16. 4. Mai 2017 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt haben.
  17. Gerichtskosten werden in allen Instanzen nicht erhoben. Die zur
  18. zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen
  19. des Betroffenen in allen Instanzen werden dem Landkreis Aurich
  20. auferlegt.
  21. Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt
  22. 5.000 €.
  23. Gründe:
  24. I.
  25. 1
  26. Der Betroffene, ein marokkanischer Staatsangehöriger, reiste im Jahr
  27. 2015 in das Bundesgebiet ein und stellte unter Angabe algerischer Aliaspersonalien einen Asylantrag, der im Jahr 2016 abgelehnt wurde. Auf Antrag der beteiligten Behörde hat das Amtsgericht mit Beschluss vom 28. Februar 2017 Ab-
  28. -3-
  29. schiebungshaft bis zum 31. Mai 2017 angeordnet. Das Landgericht hat die Beschwerde zurückgewiesen. Nachdem der Senat die Vollziehung der Sicherungshaft durch Beschluss vom 23. Mai 2017 einstweilen ausgesetzt hat, will
  30. der Betroffene mit der Rechtsbeschwerde die Rechtswidrigkeit der Haftanordnung feststellen lassen.
  31. II.
  32. 2
  33. Die zulässige Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Der Betroffene ist durch die
  34. Haftanordnung in seinen Rechten verletzt worden, weil es an einem zulässigen
  35. Haftantrag fehlte.
  36. 3
  37. 1. Das Vorliegen eines zulässigen Haftantrags ist eine in jeder Lage des
  38. Verfahrens von Amts wegen zu prüfende Verfahrensvoraussetzung. Fehlt es
  39. daran, darf die beantragte Sicherungshaft nicht angeordnet werden. Zulässig ist
  40. der Haftantrag der beteiligten Behörde nur, wenn er den gesetzlichen Anforderungen an die Begründung entspricht. Erforderlich sind Darlegungen zu der
  41. zweifelsfreien Ausreisepflicht, zu den Abschiebungsvoraussetzungen, zu der
  42. Erforderlichkeit der Haft, zu der Durchführbarkeit der Abschiebung und zu der
  43. notwendigen Haftdauer (§ 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 5 FamFG). Zwar dürfen
  44. die Ausführungen zur Begründung des Haftantrags knapp gehalten sein, sie
  45. müssen aber die für die richterliche Prüfung des Falls wesentlichen Punkte ansprechen. Leerformeln und Textbausteine genügen nicht. Die Durchführbarkeit
  46. der Abschiebung muss mit konkretem Bezug auf das Land, in das der Betroffene abgeschoben werden soll, dargelegt werden. Anzugeben ist dazu, ob und
  47. innerhalb welchen Zeitraums Abschiebungen in das betreffende Land üblicherweise möglich sind, von welchen Voraussetzungen dies abhängt und ob diese
  48. im konkreten Fall vorliegen (st. Rspr., Senat, Beschluss vom 27. Oktober 2011
  49. -4-
  50. - V ZB 311/10, FGPrax 2012, 82 Rn. 12 ff.; Beschluss vom 20. Oktober 2016
  51. - V ZB 167/14, juris Rn. 6, jeweils mwN).
  52. 4
  53. 2. Daran gemessen war der Haftantrag vom 27. Februar 2017 unzureichend. Begründet wird die beantragte Haftdauer nur damit, dass vorab noch
  54. ein Pass bzw. Passersatzpapier über die Botschaft beantragt werden müsse.
  55. Hierzu sei eventuell eine Vorführung bei der Botschaft erforderlich. Diese Begründung stellt eine in einer Vielzahl von Verfahren einsetzbare Leerformel dar,
  56. die über die Durchführbarkeit der Abschiebung im konkreten Fall nichts aussagt. Konkrete Angaben zu der erfahrungsgemäß notwendigen Vorbereitungsdauer für eine Abschiebung nach Marokko enthält der Haftantrag nicht. Ebenso
  57. wenig wird dargelegt, welchen zeitlichen Rahmen die einzelnen Verfahrensschritte nach Einschätzung der Behörde beanspruchen werden. Insbesondere
  58. ist nicht erkennbar, warum die Vorbereitung der Abschiebung mehr als drei Monate erfordern wird.
  59. 5
  60. 3. Der Mangel des Haftantrags ist auch nicht geheilt worden. Weder hat
  61. die Behörde ihre Darlegungen ergänzt noch haben das Amtsgericht oder das
  62. Beschwerdegericht das Vorliegen der seitens der Behörde nach § 417 Abs. 2
  63. FamFG vorzutragenden Tatsachen aufgrund eigener Ermittlungen von Amts
  64. wegen (§ 26 FamFG) festgestellt (vgl. zu dieser Möglichkeit Senat, Beschluss
  65. vom 16. Juli 2014 - V ZB 80/13, InfAuslR 2014, 384 Rn. 21 ff.). Allerdings verweist das Beschwerdegericht auf die Schwierigkeiten, die die Abschiebung wegen der Verwendung zahlreicher Aliaspersonalien aufwirft; ferner habe der Betroffene trotz Aufforderung der Ausländerbehörde keine persönlichen Unterlagen vorgelegt, aus denen sich seine Identität und Staatsangehörigkeit ergibt.
  66. Richtig ist zwar, dass eine über drei Monate hinausgehende Haft bis zu sechs
  67. Monaten verhängt werden kann, wenn aus von dem Ausländer zu vertretenden
  68. -5-
  69. Gründen die Abschiebung erst nach mehr als drei Monaten durchgeführt werden kann, und dass die Haft ausnahmsweise sogar über sechs Monate hinaus
  70. verlängert werden kann, wenn der Ausländer seine Abschiebung verhindert
  71. (eingehend zum Ganzen Senat, Beschluss vom 19. Januar 2017 - V ZB 99/16,
  72. NVwZ 2017, 732 Rn. 6 ff.). Dies ersetzt aber weder die im Hinblick auf § 62
  73. Abs. 1 Satz 2 AufenthG erforderlichen Angaben zu der Durchführbarkeit der
  74. Abschiebung noch eine mit Tatsachen untermauerte Einschätzung dazu, welche Zeitspanne hierfür unter Berücksichtigung der fehlenden Mitwirkung des
  75. Betroffenen voraussichtlich erforderlich sein wird.
  76. -6-
  77. III.
  78. 6
  79. Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 Satz 1 und 2, § 83
  80. Abs. 2, § 430 FamFG, Art. 5 Abs. 5 EMRK analog. Die Festsetzung des Beschwerdewerts folgt aus § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG.
  81. Stresemann
  82. Brückner
  83. Kazele
  84. Weinland
  85. Hamdorf
  86. Vorinstanzen:
  87. AG Stuttgart, Entscheidung vom 28.02.2017 - 5210 XIV 435/17 B LG Stuttgart, Entscheidung vom 04.05.2017 - 2 T 99/17 -