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1 year ago
  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. BESCHLUSS
  3. _____________
  4. StB 46/09
  5. vom
  6. 4. März 2010
  7. in dem Ermittlungsverfahren
  8. gegen
  9. Unbekannt,
  10. wegen Mordes u. a.
  11. hier: Beschwerde des Zeugen E.
  12. Erzwingung des Zeugnisses
  13. gegen die Anordnung von Haft zur
  14. -2-
  15. Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts und des Beschwerdeführers am 4. März 2010 gemäß § 304 Abs. 5
  16. StPO beschlossen:
  17. Die Beschwerde des Zeugen
  18. E.
  19. gegen den Beschluss
  20. des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 9. September 2009 wird verworfen.
  21. Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu
  22. tragen.
  23. Gründe:
  24. I.
  25. 1
  26. Der Generalbundesanwalt führt ein Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt wegen Mordes, Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und
  27. anderer Straftaten. Gegenstand ist die Tötung des damaligen hessischen Ministers für Wirtschaft und Technik Heinz-Herbert Karry in Frankfurt am Main am
  28. 11. Mai 1981 durch unbekannte Mitglieder der terroristischen Vereinigung "Revolutionäre Zellen" (RZ).
  29. 2
  30. In diesem Verfahren hat der Zeuge M.
  31. am 18. Januar 2001 Angaben
  32. gemacht über Gespräche, die ab Frühjahr 1986 bis Anfang 1990 unter Angehö-
  33. -3-
  34. rigen der "Revolutionären Zellen" geführt worden sind und die einzelne Umstände des Todes von Minister Karry zum Gegenstand hatten. An diesen Gesprächen soll nach Angaben des Zeugen auch der Beschwerdeführer teilgenommen haben.
  35. 3
  36. Der Generalbundesanwalt hat, nachdem der Beschwerdeführer bei einer
  37. staatsanwaltschaftlichen Vernehmung am 29. Juli 2009 unter Berufung auf § 55
  38. StPO die Beantwortung jeder Frage zur Sache verweigert hatte, die richterliche
  39. Vernehmung beantragt. Vor dem Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs hat
  40. der Beschwerdeführer am 9. September 2009 im Beisein des ihm beigeordneten Zeugenbeistands, Frau Rechtsanwältin W.
  41. , erklärt, er werde keine
  42. Fragen zu dem Beweisthema "Zuhörer bei Gesprächen, anlässlich derer die
  43. Ermordung von Minister Karry Gegenstand war" beantworten.
  44. 4
  45. Darauf hat der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs gemäß § 70
  46. Abs. 1 und 2 StPO durch den angefochtenen Beschluss gegen den Zeugen ein
  47. Ordnungsgeld von 200 €, ersatzweise für je 100 € einen Tag Ordnungshaft
  48. festgesetzt und Erzwingungshaft längstens bis zur Dauer von sechs Monaten
  49. angeordnet, die Vollziehung der Beugehaft jedoch bis zur Entscheidung über
  50. die Beschwerde gegen deren Anordnung ausgesetzt.
  51. 5
  52. Im Beschwerdeverfahren hat Rechtsanwältin W.
  53. beantragt, ihr für
  54. den Fall, dass der Senat die Ansicht vertrete, dem Beschwerdeführer stünde
  55. ein Auskunftsverweigerungsrecht nicht zu, Einsicht in die vollständigen Ermittlungsakten zu gewähren. Hiergegen hat der Generalbundesanwalt Bedenken
  56. erhoben.
  57. -4-
  58. II.
  59. 6
  60. Das Rechtsmittel ist hinsichtlich der Erzwingungshaft gemäß § 304
  61. Abs. 5 StPO zulässig (BGHSt 36, 192). Der Senat kann darüber entscheiden,
  62. ohne dass dem Beistand des Beschwerdeführers die begehrte Akteneinsicht
  63. gewährt worden ist, da ein Akteneinsichtsrecht hier nicht besteht. In der Sache
  64. bleibt die Beschwerde ohne Erfolg.
  65. 7
  66. 1. Die Entscheidung über die Akteneinsicht steht vorliegend dem Generalbundesanwalt zu, da es sich um ein Ermittlungsverfahren handelt (§ 478
  67. Abs. 1 Satz 1 1. Halbs. StPO). Daran ändert die Tatsache nichts, dass die Akten dem Senat zur Entscheidung über eine Beschwerde vorliegen. Ein Fall von
  68. § 478 Abs. 1 Satz 1 2. Halbs. StPO ist deswegen nicht gegeben (Gieg in KK
  69. 6. Aufl. § 478 Rdn. 2). Der Senat hat indes aus Vereinfachungsgründen davon
  70. abgesehen, den Beschwerdeführer darauf zu verweisen, zunächst eine förmliche Entscheidung des Generalbundesanwalts über das Akteneinsichtsgesuch
  71. zu erwirken und sodann ggf. gemäß § 478 Abs. 3 StPO gegen eine Ablehnung
  72. der Akteneinsicht gerichtliche Entscheidung zu beantragen, da er nach § 161 a
  73. Abs. 3 StPO, § 135 Abs. 2 GVG auch darüber zu entscheiden hätte.
  74. 8
  75. 2. Dem anwaltlichen Zeugenbeistand steht im Gegensatz zu dem Verteidiger (vgl. § 147 Abs. 1 StPO) ein eigenes Recht auf Akteneinsicht nicht zu.
  76. Seine Rechtsstellung leitet sich aus der des Zeugen ab. Er hat keine eigenen
  77. Rechte als Verfahrensbeteiligter und keine weitergehenden Befugnisse als der
  78. Zeuge selbst. Dieser hat, sofern er nicht Verletzter ist, ein Akteneinsichtsrecht
  79. nur als "Privatperson" im Sinne von § 475 StPO (HansOLG Hamburg NJW
  80. 2002, 1590; KG, Beschl. vom 7. Februar 2008 (1) 2 BJs 58/06-2 (2/08) - juris
  81. m. w. N.; Ignor/Bertheau in Löwe/Rosenberg, StPO 26. Aufl. § 68 b Rdn. 24).
  82. -5-
  83. Ein berechtigtes Interesse an der Kenntnis der Ermittlungsakten im Sinne von
  84. § 475 Abs. 1 Satz 1 StPO hat der Beschwerdeführer nicht. Dies gilt insbesondere, soweit es um die Kenntnis des Zeugen von der Aussage anderer Zeugen
  85. geht, was schon aus § 58 Abs. 1, § 243 Abs. 2 Satz 1 StPO folgt: Danach ist
  86. ein Zeuge in Abwesenheit der später zu hörenden Zeugen zu vernehmen; während der Einlassung des Angeklagten (sofern diese vor der Zeugenvernehmung
  87. abgegeben wird) hat er den Sitzungssaal zu verlassen. Der Zeuge soll auf diese Weise unbeeinflusst von der Kenntnis der Angaben Dritter aussagen (vgl.
  88. Meyer-Goßner, StPO 52. Aufl. § 58 Rdn. 2). Insoweit stehen zugleich Zwecke
  89. des Strafverfahrens der Akteneinsicht entgegen (§ 477 Abs. 2 Satz 1 StPO).
  90. Der Beweiswert der Aussage des Beschwerdeführers wäre gemindert, wenn er
  91. vor ihr im Einzelnen wüsste, was andere Zeugen zu dem Beweisthema bekundet haben.
  92. 9
  93. 3. Dem Beschwerdeführer steht kein Auskunftsverweigerungsrecht in
  94. dem von ihm in Anspruch genommenen Umfang zu.
  95. 10
  96. a) § 55 Abs. 1 StPO gewährt dem Zeugen das Recht, die Auskunft auf
  97. solche Fragen zu verweigern, deren Beantwortung ihn selbst oder einen Angehörigen der Gefahr aussetzen würde, wegen einer Straftat oder - was hier indes
  98. nicht in Betracht kommt - einer Ordnungswidrigkeit verfolgt zu werden. Eine
  99. Verfolgungsgefahr im Sinne des § 55 Abs. 1 StPO ist anzunehmen, wenn eine
  100. Ermittlungsbehörde aus einer wahrheitsgemäßen Aussage des Zeugen Tatsachen entnehmen könnte, die sie zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens
  101. (§ 152 StPO) veranlassen oder zur Aufrechterhaltung oder Verstärkung eines
  102. Tatverdachts führen könnte. Hierfür genügt es bereits, wenn der Zeuge bestimmte Tatsachen angeben müsste, die lediglich mittelbar den Verdacht einer
  103. Straftat begründen. Dies ist zum Beispiel dann der Fall, wenn die wahrheitsge-
  104. -6-
  105. mäße Beantwortung einer Frage zwar allein eine Strafverfolgung nicht auslösen, jedoch "als Teilstück in einem mosaikartigen Beweisgebäude" zu einer Belastung des Zeugen beitragen könnte (vgl. BGH NJW 1999, 1413). Für die Gefahr strafrechtlicher Verfolgung muss es konkrete tatsächliche Anhaltspunkte
  106. geben; bloße Vermutungen oder rein denktheoretische Möglichkeiten reichen
  107. nicht aus (BGH NStZ 1999, 415, 416).
  108. 11
  109. Selbst wenn danach von einer Verfolgungsgefahr ausgegangen werden
  110. muss, so ist der Zeuge gemäß § 55 Abs. 1 StPO grundsätzlich nur berechtigt,
  111. die Auskunft auf einzelne Fragen zu verweigern. Nur ausnahmsweise ist er zu
  112. einer umfassenden Verweigerung der Auskunft befugt, wenn seine gesamte in
  113. Betracht kommende Aussage mit einem möglicherweise strafbaren Verhalten in
  114. so engem Zusammenhang steht, dass im Umfang der vorgesehenen Vernehmungsgegenstände nichts übrig bleibt, wozu er ohne die Gefahr der Verfolgung
  115. wegen einer Straftat wahrheitsgemäß aussagen könnte (vgl. BGH NStZ 2002,
  116. 607; NStZ-RR 2005, 316). Dies gilt auch im Hinblick auf die Vernehmung zu
  117. einem einzelnen Tatsachenkomplex.
  118. 12
  119. b) Eine solche Gefahr hat der Beschwerdeführer weder glaubhaft gemacht noch ist sie ersichtlich. Im Einzelnen gilt:
  120. 13
  121. Der Beschwerdeführer ist durch Urteil des Kammergerichts vom 15. Juli
  122. 2004 wegen Herbeiführens einer Sprengstoffexplosion zu einer Freiheitsstrafe
  123. von zwei Jahren mit Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt worden. Die Tat
  124. hat er nach den Feststellungen des rechtskräftigen Urteils im Rahmen seiner
  125. mitgliedschaftlichen Beteiligung bei den "Revolutionären Zellen" begangen. Er
  126. war danach "im April 1986" aufgefordert worden, dieser Vereinigung beizutreten, und war dem Ansinnen "einige Wochen später" gefolgt. Seine Mitglied-
  127. -7-
  128. schaft endete mit dem Zerfall der Berliner Gruppe der "Revolutionären Zellen"
  129. im Frühjahr 1988. Die gegen den Beschwerdeführer erhobenen Anklagevorwürfe der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung (§ 129 a StGB) sowie
  130. des Herbeiführens einer weiteren Sprengstoffexplosion sind im Verfahren vor
  131. dem Kammergericht im Zusammenhang mit einer verfahrensbeendenden Absprache gemäß § 154 a Abs. 2 StPO ausgeschieden worden, nachdem der Angeklagte eine geständige Einlassung abgegeben hatte.
  132. Würde der Beschwerdeführer bekunden, an Gesprächen teilgenommen
  133. 14
  134. zu haben, die ab Frühjahr 1986 bis Anfang 1990 unter Angehörigen der "Revolutionären Zellen" geführt worden sind, so wäre eine Gefahr erneuter Verfolgung wegen des Vorwurfs der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung
  135. aufgrund der sich auch auf die ausgeschiedenen Rechtsverletzungen erstreckenden Rechtskraft des Urteils des Kammergerichts zweifellos ausgeschlossen (vgl. Meyer-Goßner aaO § 154 a Rdn. 28).
  136. Es liegen auch keinerlei Anhaltspunkte dafür vor, dass eine solche Tat-
  137. 15
  138. sachenbekundung den Beschwerdeführer darüber hinaus in die Gefahr einer
  139. Strafverfolgung wegen der Beteiligung an der Tötung von Herrn Karry bringen
  140. könnte. Dass er sich ab Frühjahr 1986 an der terroristischen Vereinigung
  141. mitgliedschaftlich beteiligt hat, steht seit Jahren aufgrund seiner geständigen
  142. Einlassung vor dem Kammergericht fest. Zurecht hat der Generalbundesanwalt
  143. mehrfach darauf hingewiesen, es gebe keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass der
  144. Beschwerdeführer vor dem im Urteil des Kammergerichts festgestellten Zeitpunkt sowie nach Auflösung der Berliner Gruppe Mitglied der "Revolutionären
  145. Zellen" gewesen ist oder gar an dem Tötungsverbrechen im Jahr 1981 beteiligt
  146. war.
  147. -8-
  148. 16
  149. In gleicher Weise ist nicht zu erkennen, dass sich der Beschwerdeführer
  150. der Gefahr strafrechtlicher Verfolgung wegen sonstiger Vorwürfe aussetzen
  151. könnte, wenn er einräumen würde, bei den Gesprächen Erkenntnisse über
  152. mögliche Beteiligte an der Tötung gewonnen oder Vermutungen darüber angestellt zu haben, ohne in der Folgezeit den Strafverfolgungsbehörden darüber
  153. Mitteilung zu machen.
  154. 17
  155. Nach alledem kann der Beschwerdeführer sich für die pauschale Verweigerung, auf Fragen zu dem Komplex "Zuhörer bei Gesprächen, anlässlich
  156. derer die Ermordung von Minister Karry Gegenstand war" zu antworten, nicht
  157. auf § 55 StPO berufen. Angesichts der Schwere der aufzuklärenden Straftat ist
  158. die Anordnung von Erzwingungshaft auch verhältnismäßig.
  159. Becker
  160. Pfister
  161. Hubert