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1 year ago
  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. BESCHLUSS
  3. IX ZR 2/12
  4. vom
  5. 21. Juni 2012
  6. in dem Rechtsstreit
  7. Nachschlagewerk:
  8. ja
  9. BGHZ:
  10. nein
  11. BGHR:
  12. ja
  13. EuInsVO Art. 3 Abs. 1
  14. Dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften wird zur Auslegung des Art. 3
  15. Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über Insolvenzverfahren (ABl. Nr. L 160, S. 1) folgende Frage vorgelegt:
  16. Sind die Gerichte des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet das Insolvenzverfahren über
  17. das Vermögen des Schuldners eröffnet worden ist, für eine Insolvenzanfechtungsklage gegen einen Anfechtungsgegner zuständig, der seinen Wohnsitz oder satzungsmäßigen Sitz nicht im Gebiet eines Mitgliedstaats hat?
  18. BGH, Beschluss vom 21. Juni 2012 - IX ZR 2/12 - OLG Hamm
  19. LG Münster
  20. - 2 -
  21. Der IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat durch den Vorsitzenden Richter
  22. Prof. Dr. Kayser, den Richter Vill, die Richterin Lohmann, die Richter
  23. Dr. Fischer und Dr. Pape
  24. am 21. Juni 2012
  25. beschlossen:
  26. 1. Das Verfahren wird ausgesetzt.
  27. 2. Dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften wird zur
  28. Auslegung
  29. des
  30. Art.
  31. 3
  32. Abs.
  33. 1
  34. der
  35. Verordnung
  36. (EG)
  37. Nr. 1346/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über Insolvenzverfahren (ABl. Nr. L 160, S. 1; im Folgenden: EuInsVO) folgende
  38. Frage vorgelegt:
  39. Sind die Gerichte des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet das Insolvenzverfahren über das Vermögen des Schuldners eröffnet worden ist, für eine Insolvenzanfechtungsklage gegen einen Anfechtungsgegner zuständig, der seinen Wohnsitz oder satzungsmäßigen Sitz nicht im Gebiet eines Mitgliedstaats hat?
  40. - 3 -
  41. Gründe:
  42. I.
  43. 1
  44. Der Kläger ist Verwalter in dem am 4. Mai 2007 in Deutschland eröffneten Insolvenzverfahren über das Vermögen der A.
  45. Zi.
  46. (Schuldne-
  47. rin). Die Beklagte, die Stiefmutter der Schuldnerin, ist schweizer Staatsangehörige und lebt in der Schweiz. Der Kläger nimmt sie im Wege der Insolvenzanfechtung auf Rückgewähr eines Betrages von 8.015,08 € nebst Zinsen in Anspruch. Die Klage ist in den Vorinstanzen wegen fehlender internationaler Zuständigkeit der deutschen Gerichte als unzulässig abgewiesen worden. Mit seiner vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger den Anfechtungsanspruch weiter.
  48. II.
  49. 2
  50. Vor der Entscheidung über die Revision ist das Verfahren auszusetzen
  51. und eine Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs zu der im Beschlusstenor gestellten Frage einzuholen (Art. 267 Abs. 1 Buchst. B, Abs. 3
  52. AEUV). Die Sachentscheidung ist abhängig von der Auslegung des Art. 3
  53. Abs. 1 EuInsVO.
  54. 3
  55. 1. Der sachliche Anwendungsbereich von Art. 3 Abs. 1 EuInsVO ist eröffnet. Unmittelbar regelt Art. 3 Abs. 1 EuInsVO zwar nur die Zuständigkeit für
  56. das Insolvenzverfahren selbst. Eine Insolvenzanfechtungsklage gehört jedoch
  57. zu denjenigen Klagen, die unmittelbar aus dem Insolvenzverfahren hervorgehen und mit ihm in einem engen Zusammenhang stehen; sie fällt deshalb als
  58. - 4 -
  59. Annexverfahren ebenfalls in den Anwendungsbereich des Art. 3 Abs. 1
  60. EuInsVO. Gemäß Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 12. Februar 2009
  61. (Rs C-339/07, ZIP 2009, 427 Rn. 21, Deko Marty Belgium) sind die Gerichte
  62. des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet das Insolvenzverfahren eröffnet worden
  63. ist, für eine Insolvenzanfechtungsklage gegen einen Anfechtungsgegner zuständig, der seinen satzungsmäßigen Sitz in einem anderen Mitgliedstaat hat.
  64. 4
  65. 2. Bisher ungeklärt ist die Frage, ob Art. 3 Abs. 1 EuInsVO auch dann
  66. eingreift, wenn das Insolvenzverfahren in einem Mitgliedstaat eröffnet worden
  67. ist, der Anfechtungsgegner aber seinen allgemeinen Gerichtsstand (einen
  68. Wohnsitz oder satzungsmäßigen Sitz) nicht in einem Mitgliedstaat, sondern in
  69. einem Drittstaat hat.
  70. 5
  71. a) Seinem Wortlaut nach lässt es Art. 3 Abs. 1 EuInsVO ausreichen,
  72. dass der Mittelpunkt der sachlichen Interessen des Schuldners in einem Mitgliedstaat liegt. Dazu, ob der den Anwendungsbereich der Verordnung eröffnende grenzüberschreitende Bezug zu einem anderen Mitgliedstaat oder zu
  73. einem Drittstaat bestehen muss, trifft er keine Aussage. Hieraus könnte geschlossen werden, dass der Bezug zu einem Drittstaat ausreicht (Huber in
  74. Haß/Huber/Gruber/Heiderhoff, EU-Insolvenzverordnung, Art. 1 Rn. 19 ff; Huber,
  75. ZZP 114 (2001), 133, 138 f; Haubold, IPrax 2003, 34, 35 f; iE ebenso High
  76. Court of Justice London, ZIP 2003, 813; High Court of Justice Leeds, ZIP 2004,
  77. 1769; MünchKomm-InsO/Reinhart, 2. Aufl., Art. 1 VO (EG) Nr. 1346/2000
  78. Rn. 16; FK-InsO/Wenner/Schuster, 6. Aufl., Art. 1 EuInsVO Rn. 9; GrafSchlicker/Kebekus/Sabel/Schlegel, InsO, 2. Aufl., Art. 1 EuInsVO Rn. 7; Gruber
  79. in Ahrens/Gehrlein/Ringstmeier, Insolvenzrecht, Art. 1 EuInsVO Rn. 49; Gottwald/Kolmann,
  80. Insolvenzrechtshandbuch,
  81. 4. Aufl.,
  82. § 130
  83. Rn. 10 f;
  84. Rau-
  85. scher/Mäsch, EuZPR/EuIPR, 2011, Art. 1 EG-InsVO Rn. 15; Geimer/Schütze,
  86. - 5 -
  87. EuZVR, 3. Aufl., A.5, Art. 1 Rn. 39; Adam, Zuständigkeitsfragen bei der Insolvenz internationaler Unternehmensverbindungen, S. 28 f; Herchen, ZInsO
  88. 2003, 742, 745 f; Sabel/Schlegel, EWiR 2003, 367, 368; Hergenröder, DZWiR
  89. 2009, 309, 312).
  90. 6
  91. b) Zwingend ist dieser Schluss jedoch nicht. In der deutschsprachigen
  92. Literatur wird vielfach die Ansicht vertreten, dass nur ein "qualifizierter" Auslandsbezug zu mindestens einem weiteren Mitgliedstaat den Anwendungsbereich der EuInsVO eröffnet (Kemper in Kübler/Prütting/Bork, InsO, 2010, Art. 1
  93. EuInsVO Rn. 15; MünchKomm-BGB/Kindler, VO (EG) Nr. 1346/2000, 5. Aufl.,
  94. Art. 1 Rn. 28; Duursma-Kepplinger in Duursma-Kepplinger/Duursma/Chalupsky,
  95. Europäische Insolvenzordnung, Art. 1 Rn. 3, 8 f, 53; HK-InsO/Stephan, 6. Aufl.,
  96. Art. 1 EuInsVO Rn. 11, 13; Uhlenbruck/Lüer, InsO, 13. Aufl., Art. 1 EuInsVO
  97. Rn. 2;
  98. Pannen,
  99. Europäische
  100. Insolvenzverordnung,
  101. Art. 1
  102. Rn. 120;
  103. Braun/Tashiro, InsO, 5. Aufl., vor §§ 335, 358 Rn. 17; HmbKomm-InsO/Undritz,
  104. 4. Aufl., Art. 1 EuInsVO Rn. 6 f; Smid, Internationales Insolvenzrecht, § 2
  105. Rn. 43 f; Carstens, Die internationale Zuständigkeit im europäischen Insolvenzrecht, S. 32 ff; Schmiedeknecht, Der Anwendungsbereich der Europäischen
  106. Insolvenzordnung und die Auswirkungen auf das deutsche Insolvenzrecht,
  107. S. 108 ff;
  108. Westphal/Goether/Wilkens,
  109. Grenzüberschreitende
  110. Insolvenzen,
  111. Rn. 86 f; Leible/Staudinger, KTS 2000, 533, 538 ff; Duursma-Kepplinger, NZI
  112. 2003, 87; Smid, DZWiR 2003, 397, 402 f; Pannen/Riedemann, NZI 2004, 646,
  113. 651).
  114. 7
  115. Annexverfahren, insbesondere die hier in Frage stehenden Insolvenzanfechtungsklagen werden in Art. 3 Abs. 1 EuInsVO nicht ausdrücklich geregelt,
  116. so dass aus dem Schweigen der Vorschrift keine Schlussfolgerungen hinsichtlich ihres räumlichen Anwendungsbereichs gezogen werden können. Die Grün-
  117. - 6 -
  118. de, welche den Europäischen Gerichtshof im Urteil vom 12. Februar 2009 (aaO)
  119. bewogen haben, Insolvenzanfechtungsklagen der Vorschrift des Art. 3 Abs. 1
  120. EuInsVO zu unterstellen, lassen sich auf entsprechende Klagen gegen Anfechtungsgegner außerhalb des Gebiets der Europäischen Union zudem nur teilweise übertragen. Die Zuständigkeit der Gerichte des Eröffnungsstaats entspricht dem im zweiten und im achten Erwägungsgrund der EuInsVO genannten Zweck der Verbesserung der Effizienz und der Beschleunigung der Insolvenzverfahren (vgl. EuGH, Urteil vom 12. Februar 2009, aaO Rn. 22). Der vierte
  121. Erwägungsgrund, welcher der Verlagerung von Vermögensgegenständen oder
  122. Rechtsstreitigkeiten entgegenwirken soll, nimmt demgegenüber nur auf das
  123. ordnungsgemäße Funktionieren des Binnenmarkts Bezug (vgl. EuGH, Urteil
  124. vom 12. Februar 2009, aaO Rn. 23 f). Insolvenzanfechtungsprozesse mit Bezügen allein zu Drittstaaten lassen sich nicht unter diesen Erwägungsgrund subsumieren. Schließlich stellt sich das Problem der Anerkennung des aufgrund
  125. einer Zuständigkeitsbestimmung nach Art. 3 Abs. 1 EuInsVO ergangenen Urteils (vgl. EuGH, Urteil vom 12. Februar 2009, aaO Rn. 25 ff). Art. 25 Abs. 1
  126. Unterabsatz 2 EuInsVO, der die Anerkennung und Vollstreckbarkeit von Entscheidungen in Annexverfahren regelt, gilt im Verhältnis zu Drittstaaten nicht.
  127. 8
  128. 3. Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt von der Beantwortung der
  129. Vorlagefrage ab. Eine Zuständigkeit der deutschen Gerichte lässt sich nur aus
  130. Art. 3 Abs. 1 EGInsVO herleiten. Der allgemeine Gerichtsstand des Insolvenzverwalters (§ 19a ZPO) gilt für Klagen gegen den Insolvenzverwalter, nicht allgemein für Klagen des Insolvenzverwalters (vgl. BGH, Urteil vom 11. Januar
  131. 1990 - IX ZR 27/89, ZIP 1990, 246, 247). Art. 102 § 1 EGInsO und § 3 InsO
  132. regeln die Zuständigkeit der Insolvenzgerichte, nicht diejenige der Prozessgerichte (BGH, Urteil vom 27. Mai 2003 - IX ZR 203/02, ZIP 2003, 1419, 1420;
  133. vom 19. Mai 2009 - IX ZR 39/06, ZIP 2009, 1287 Rn. 15).
  134. - 7 -
  135. 9
  136. 4. Die Vorlagefrage lässt sich nicht unter Heranziehung anderer europäischer Rechtsquellen, die Regelungen zur gerichtlichen Zuständigkeit enthalten,
  137. beantworten. Die Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates über die gerichtliche
  138. Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in
  139. Zivil- und Handelssachen vom 22. Dezember 2000 (EuGVVO; ABl. 2001, L 12,
  140. S. 1) findet im vorliegenden Fall keine Anwendung. Gemäß Art. 1 Abs. 2 lit. b
  141. EuGVVO ist sie auf Konkurse, Vergleiche und ähnliche Verfahren nicht anwendbar. Dies schließt Insolvenzanfechtungsprozesse ein. Der Europäische
  142. Gerichtshof hat im Rahmen seiner Rechtsprechung zum Brüsseler Übereinkommen vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die
  143. Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen
  144. (EuGVÜ; ABl. 1972, L 299, S. 32) entschieden, dass eine Konkursanfechtungsklage sich auf ein Konkursverfahren bezieht, weil sie unmittelbar aus diesem
  145. hervorgeht und sich eng innerhalb des Rahmens eines Konkurs- oder Vergleichsverfahrens hält (EuGH, Urteil vom 22. Februar 1979 - Rs 133/78,
  146. EuGHE 1979, 733, Rn. 4 - Gourdain). Das gilt auch im Rahmen von Art. 1
  147. Abs. 2 lit. b EuGVVO (vgl. das eingangs zitierte Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 12. Februar 2009 - Rs C-339/07, Rn. 19) und für Art. 1 des
  148. Luganer Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstre-
  149. - 8 -
  150. ckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom
  151. 16. September 1988 (ABl. 1988 Nr. L 319, S. 9) in der revidierten Fassung vom
  152. 30. Oktober 2007 (ABl. 2009 Nr. L 147, S. 5).
  153. Kayser
  154. Vill
  155. Fischer
  156. Lohmann
  157. Pape
  158. Vorinstanzen:
  159. LG Münster, Entscheidung vom 28.10.2010 - 2 O 736/09 OLG Hamm, Entscheidung vom 03.05.2011 - I-27 U 145/10 -