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1 year ago
  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. IM NAMEN DES VOLKES
  3. URTEIL
  4. IV ZR 105/11
  5. Verkündet am:
  6. 7. Dezember 2011
  7. Bott
  8. Justizhauptsekretärin
  9. als Urkundsbeamtin
  10. der Geschäftsstelle
  11. in dem Rechtsstreit
  12. Nachschlagewerk: ja
  13. BGHZ:
  14. ja
  15. BGHR:
  16. ja
  17. VVG § 206 Abs. 1 Satz 1; BGB § 314; SGB XI § 110 Abs. 4
  18. 1. § 206 Abs. 1 Satz 1 VVG schließt nicht jede außerordentliche Kündigung eines
  19. Krankheitskostenversicherungsvertrages durch den Versicherer aus.
  20. 2. In diesem Fall wird weder die Krankheitskostenversicherung mit dem bisherigen
  21. Versicherer im Basistarif (§ 12 Abs. 1a VAG) fortgesetzt, noch steht dem Versicherungsnehmer gegen diesen ein Anspruch auf Abschluss eines derartigen Vertrages zu.
  22. 3. Im Bereich der Pflegepflichtversicherung ist jede außerordentliche Kündigung des
  23. Versicherers ausgeschlossen (§ 110 Abs. 4 SGB XI)
  24. BGH, Urteil vom 7. Dezember 2011 - IV ZR 105/11 - OLG Brandenburg
  25. LG Frankfurt/Oder
  26. -2-
  27. Der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat durch die Vorsitzende Richterin Dr. Kessal-Wulf, die Richter Wendt, Felsch, die Richterin
  28. Harsdorf-Gebhardt und den Richter Dr. Karczewski auf die mündliche
  29. Verhandlung vom 7. Dezember 2011
  30. für Recht erkannt:
  31. Unter Zurückweisung der weitergehenden Rechtsmittel
  32. des Klägers werden das Urteil des 12. Zivilsenats des
  33. Brandenburgischen Oberlandesgerichts vom 5. Mai 2011
  34. teilweise aufgehoben und das Urteil der 12. Zivilkammer
  35. des Landgerichts Frankfurt (Oder) vom 27. August 2010
  36. teilweise geändert.
  37. Es wird festgestellt, dass die Pflegeversicherung nach
  38. Tarif
  39. PVN
  40. zu
  41. Versicherungsnummer
  42. zwischen den Parteien fortbesteht und nicht durch fristlose Kündigung der Beklagten vom 29. Mai 2009 beendet
  43. wurde. Im Übrigen bleibt die Klage abgewiesen.
  44. Von den Kosten des Rechtsstreits tragen der Kläger 96%
  45. und die Beklagte 4%.
  46. Von Rechts wegen
  47. -3-
  48. Tatbestand:
  49. 1
  50. Der Kläger, der als selbständiger Unternehmer einen "RecyclingPark" mit Containerservice, Entrümpelung, Abrissarbeiten etc. betreibt,
  51. unterhielt bei der Beklagten seit 2004 eine Krankheitskosten-, Krankentagegeld- und Pflegeversicherung. Nach einer Herzoperation war der
  52. Kläger arbeitsunfähig und erhielt Krankentagegeld. Anlässlich eines Besuches durch den für die Beklagte tätigen Zeugen B.
  53. am 14. Mai 2009
  54. kam es zu einem Vorfall, den die Beklagte zum Anlass nahm, mit Schreiben vom 29. Mai 2009 den Vertrag über die Krankheitskosten-, Krankentagegeld- und Pflegepflichtversicherung fristlos zu kündigen. D ie Beklagte stützte die Kündigung darauf, dass der Kläger ihren Außendienstmitarbeiter tätlich mit einem Bolzenschneider angegriffen und bedroht habe.
  55. Sie lehnte es ausdrücklich ab, den Kläger zumindest im Basistarif weiter
  56. zu versichern.
  57. 2
  58. Nach durchgeführter Beweisaufnahme hat das Landgericht die
  59. Klage abgewiesen, mit der der Kläger beantragt hatte festzustellen, dass
  60. die Krankheitskosten-, die Krankentagegeld- und die Pflegeversicherung
  61. zwischen den Parteien fortbesteht und nicht durch die fristlose Künd igung zum 29. Mai 2009 beendet worden ist, hilfsweise der Beklagten
  62. aufzugeben, mit ihm eine Krankheitskostenversicherung im Basistarif zu
  63. schließen. Die hiergegen gerichtete Berufung des Klägers ist nach wiederholter Beweisaufnahme erfolglos geblieben. Mit seiner Revision beantragt der Kläger festzustellen, dass die Krankheitskosten - und die Pflegeversicherung zwischen den Parteien fortbestehen und nicht durch die
  64. fristlose Kündigung der Beklagten vom 29. Mai 2009 beendet worden
  65. sind, hilfsweise festzustellen, dass die Krankheitskostenversicherung
  66. zum Basistarif und die Pflegeversicherung fortbestehen und nicht durch
  67. -4-
  68. die fristlose Kündigung der Beklagten vom 29. Mai 2009 beendet worden
  69. sind, weiter hilfsweise der Beklagten aufzugeben, mit dem Kläger eine
  70. Krankheitskostenversicherung zum Basistarif abzuschließen.
  71. Entscheidungsgründe:
  72. 3
  73. Das Rechtsmittel hat nur zu einem geringen Teil Erfolg.
  74. 4
  75. I. Das Berufungsgericht, dessen Entscheidung in VersR 2011,
  76. 1429 veröffentlicht ist, hat ausgeführt, dem Recht der Beklagten, die Vertragsverhältnisse wirksam aus wichtigem Grund gemäß § 314 Abs. 1
  77. BGB zu kündigen, stehe auch hinsichtlich der Krankheitskostenversich erung nicht das Kündigungsverbot des § 206 Abs. 1 Satz 1 VVG entgegen. Die Vorschrift sei teleologisch auf die Fälle der Kündigung wegen
  78. Prämienverzuges zu reduzieren. Soweit vom Wortlaut auch andere
  79. schwerwiegende Vertragsverletzungen des Versicherungsnehmers u mfasst seien, liege ein planwidriger Regelungsüberschuss vor. Die Erstreckung des § 206 Abs. 1 Satz 1 VVG auf alle denkbaren Kündigungsgründe stehe im Widerspruch zu dem das Privatrecht dominierenden Gebot
  80. von Treu und Glauben sowie dem in § 314 Abs. 1 BGB enthaltenen
  81. Grundsatz der Kündbarkeit von Dauerschuldverhältnissen aus wichtigem
  82. Grund. Namentlich bei strafbarem Verhalten des Versicherungsnehmers
  83. müsse eine Kündigung aus wichtigem Grund möglich sein. Ein hinre ichender Schutz des Versicherungsnehmers werde dadurch erreicht, dass
  84. er gegenüber einem anderen Versicherer Anspruch auf Versicherung im
  85. Basistarif habe. Hier sei ein wichtiger Grund zur Kündigung vorhanden
  86. gewesen, da der Kläger einen Mitarbeiter des Versicherers tätlich ang egriffen habe, als dieser ihn während des Bezuges von Krankentagegeld
  87. -5-
  88. im Gespräch mit Kunden auf dem von ihm betriebenen Recyclinghof a ngetroffen habe.
  89. 5
  90. II. Das hält rechtlicher Nachprüfung im Wesentlichen stand.
  91. 6
  92. 1. Die Revision ist unbeschränkt zugelassen. Soweit das Ber ufungsgericht ausgeführt hat, die Revision werde zugelassen, da die Frage, ob § 206 Abs. 1 Satz 1 VVG jede Kündigung einer Krankheitskostenversicherung ausschließe, von grundsätzlicher Bedeutung sei, folgt hi eraus keine Beschränkung der Zulassung auf die Krankheitskostenvers icherung als abtrennbarer Teil des Streitgegenstandes unter Ausschluss
  93. der Zulassung der Revision wegen der Kündigung der Pflegepflichtvers icherung. Das Berufungsgericht hat eine Differenzierung zwischen diesen
  94. beiden Versicherungen nicht vorgenommen, weil es die unt erschiedlichen Regelungen des § 206 Abs. 1 Satz 1 VVG für die Krankheitskostenversicherung und des § 110 Abs. 4 SGB XI für die Pflegepflichtversicherung nicht erkannt hat. Eine Absicht des Berufungsgerichts zur Beschränkung der Zulassung der Revision auf die Kündigungsmöglichkeit
  95. einer Krankheitskostenversicherung bestand mithin nicht.
  96. 7
  97. 2. Der Hauptantrag des Klägers auf Feststellung, dass die Kran kheitskostenversicherung nach Tarif NK 4 zwischen den Parteien fortbesteht und nicht durch die fristlose Kündigung der Beklagten vom 29. Mai
  98. 2009 beendet wurde, ist nicht begründet. Das Recht der Beklagten zur
  99. fristlosen Kündigung des Krankheitskostenversicherungsvertrages g emäß § 314 Abs. 1 BGB ist nicht durch § 206 Abs. 1 Satz 1 VVG ausgeschlossen.
  100. -6-
  101. 8
  102. a) Grundsätzlich steht den Parteien eines Versicherungsvertrages
  103. ein Recht zur Kündigung aus wichtigem Grund nach § 314 Abs. 1 Satz 1
  104. BGB zu (Senatsurteile vom 20. Mai 2009 - IV ZR 274/06, VersR 2009,
  105. 1063 Rn. 15; vom 18. Juli 2007 - IV ZR 129/06, VersR 2007, 1260 unter
  106. B I 1). Allerdings bestimmt der zum 1. Januar 2009 durch das Gesetz zur
  107. Reform
  108. des
  109. Versicherungsvertragsrechts
  110. vom
  111. 23. November
  112. 2007
  113. (BGBl. I S. 2631) neu gefasste § 206 Abs. 1 Satz 1 VVG, dass jede Kündigung einer Krankheitskostenversicherung, die eine Pflicht nach § 193
  114. Abs. 3 Satz 1 VVG erfüllt, durch den Versicherer ausgeschlossen ist. Der
  115. Anwendungsbereich der Regelung erstreckt sich auf die überwiegende
  116. Mehrzahl der bestehenden privaten Krankheitskostenversicherungsve rträge, da nach § 193 Abs. 3 Satz 3 VVG alle vor dem 1. April 2007 - wie
  117. hier - abgeschlossenen Krankheitskostenversicherungsverträge unter die
  118. Definition der Pflichtversicherung fallen (HK-VVG/Rogler, 2. Aufl. § 206
  119. Rn. 2; Marko, Private Krankenversicherung 2. Aufl. Rn. 126). § 206
  120. Abs. 1 Satz 1 VVG findet über Art. 1 Abs. 1 EGVVG auf den Versicherungsvertrag Anwendung, da die Beklagte die Kündigung erst im Jahr
  121. 2009 erklärt hat.
  122. 9
  123. b) Ob ein Versicherer trotz des Wortlauts von § 206 Abs. 1 Satz 1
  124. VVG jedenfalls dann ein Recht zur außerordentlichen Kündigung des
  125. Vertrages nach § 314 Abs. 1 BGB hat, wenn er sich nicht auf einen Prämienverzug des Versicherungsnehmers, sondern andere schwere Ve rtragsverletzungen - etwa Leistungserschleichungen - stützt, wird unterschiedlich beurteilt.
  126. 10
  127. aa) Teilweise wird die Auffassung vertreten, dass § 206 Abs. 1
  128. Satz 1 VVG eine abschließende Regelung für den Bereich der Kran kheitskostenversicherung enthalte und jede Art von Kündigung verbiete,
  129. -7-
  130. unabhängig davon, ob es sich um eine ordentliche oder um eine außerordentliche handele (OLG Hamm r+s 2011, 396; Voit in Prölss/Martin,
  131. VVG 28. Aufl. § 206 Rn. 7; Brömmelmeyer in Schwintowski/Brömmelmeyer, VVG 2. Aufl. § 206 Rn. 6; Sauer in Bach/Moser, Private Krankenversicherung 4. Aufl. nach § 2 MB/KK Rn. 82 f.; Lehmann, r+s 2011, 300,
  132. 301 f.; Grote/Bronkars, VersR 2008, 580, 583 f.; HK-VVG/Rogler, § 206
  133. Rn. 3; ders. jurisPR-VersR 10/2010 Anm. 1; Langheid, NJW 2007, 3745,
  134. 3749). Dies wird mit dem einschränkungslosen Wortlaut des § 206 Abs. 1
  135. Satz 1 VVG sowie der systematischen Stellung zu Satz 2 ("darüber hinaus …") begründet. Ferner sei es dem Gesetzgeber um die Gewährlei stung eines durchgängigen Krankenversicherungsschutzes für jeden Bürger gegangen, was durch Ausnahmen vom Kündigungsverbot nicht u nterlaufen werden dürfe. Ein hinreichender Schutz des Versicherers für
  136. den Fall des Prämienverzuges werde durch das Ruhen des Vertrages
  137. nach § 193 Abs. 6 VVG erreicht. Außerdem sei der Versicherer berechtigt, unter den Voraussetzungen der §§ 19 ff., 22 VVG vom Vertrag zurückzutreten bzw. diesen anzufechten. Soweit es demgegenüber um die
  138. spätere Kündigung gehe, sei § 206 VVG als Spezialvorschrift zu §§ 19
  139. Abs. 4, 194 Abs. 1 Satz 3 VVG anzusehen. Schließlich seien gemäß
  140. § 110 Abs. 4 SGB XI in der privaten Pflegepflichtversicherung Rücktrittsund Kündigungsrechte des Versicherers ausgeschlossen, solange der
  141. Kontrahierungszwang bestehe.
  142. 11
  143. bb) Demgegenüber geht eine andere Ansicht davon aus, dass
  144. § 206 Abs. 1 Satz 1 VVG nicht schlechthin jede außerordentliche Kündigung wegen einer schwerwiegenden Vertragsverletzung nach § 314
  145. Abs. 1 Satz 1 BGB untersage, soweit es nicht um Fälle des Prämienve rzugs gehe, für die § 193 Abs. 6 VVG eine Sonderregelung enthalte. Insoweit sei eine teleologische Reduktion der Vorschrift vorzunehmen
  146. -8-
  147. (OLG Celle VersR 2011, 738; OLG Brandenburg ZfS 2011, 396; OLG
  148. Oldenburg, Urteil vom 23. November 2011 - 5 U 141/11; Marko, Private
  149. Krankenversicherung 2. Aufl. Rn. 127 ff.; MünchKomm-VVG/Hütt, § 206
  150. Rn. 47 ff.; ders. in Bach/Moser, § 14 MB/KK Rn. 8; Fortmann/Hütt,
  151. Krankheitskostenversicherung
  152. und
  153. Krankenhaustagegeldversicherung,
  154. 2. Aufl. S. 183 f.; Wandt, VersR 5. Aufl. Rn. 484, 1366; Boetius, Private
  155. Krankenversicherung § 206 VVG Rn. 90 ff.; VersR 2007, 431, 436; Die
  156. Systemänderung der privaten Krankenversicherung (PKV) durch die Gesundheitsreform S. 30-33; Brand VersR 2011, 1337, 1344 f.; verfassungsrechtliche Bedenken äußernd Reinhard in Looschelders/Pohlmann,
  157. VVG 2. Aufl. § 206 Rn. 3).
  158. 12
  159. cc) Schließlich werden differenzierende Positionen vert reten. So
  160. geht Eichelberger davon aus, § 206 Abs. 1 Satz 1 VVG sei teleologisch
  161. dahin zu reduzieren, dass eine außerordentliche Kündigung zulässig sei,
  162. soweit sie sich auf einen qualitativ oder quantitativ über den Basistarif
  163. hinausreichenden Versicherungsschutz beziehe (VersR 2010, 886, 887).
  164. Ähnlich nehmen Marlow/Spuhl an, eine Kündigung des Versicherers sei
  165. zwar generell ausgeschlossen, er könne jedoch in entsprechender A nwendung von § 193 Abs. 6 Satz 9 VVG die Fortsetzung des Vertrages im
  166. Basistarif verlangen (VersR 2009, 593, 604).
  167. 13
  168. c) Die zweitgenannte Ansicht trifft zu. § 206 Abs. 1 Satz 1 VVG ist
  169. teleologisch dahin zu reduzieren, dass er ausnahmslos lediglich eine a ußerordentliche Kündigung wegen Prämienverzugs verbietet, während e ine Kündigung wegen sonstiger schwerer Vertragsverletzungen unter den
  170. Voraussetzungen des § 314 BGB möglich ist.
  171. -9-
  172. 14
  173. aa) Ausgangspunkt für die Auslegung einer Gesetzesvorschrift ist
  174. der in dieser zum Ausdruck gekommene objektivierte Wille des Geset zgebers, so wie er sich aus dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung und
  175. dem Sinnzusammenhang ergibt (BGH, Urteil vom 30. Juni 1966 - KZR
  176. 5/65, BGHZ 46, 74, 76). Dem Ziel, den im Gesetz objektivierten Willen
  177. des Gesetzgebers zu erfassen, dienen die nebeneinander zulässigen,
  178. sich gegenseitig ergänzenden Methoden der Auslegung aus dem Wortlaut der Norm, ihrem Sinnzusammenhang, ihrem Zweck sowie aus den
  179. Gesetzgebungsmaterialien und der Entstehungsgeschichte.
  180. 15
  181. Hiervon ausgehend ist der Wortlaut der Vorschrift eindeutig (so
  182. auch Brand aaO). Er schließt schlechthin "jede" Kündigung einer Krankheitskostenversicherung, die eine Pflicht nach § 193 Abs. 3 Satz 1 VVG
  183. erfüllt, durch den Versicherer aus. Eine Differenzierung zwischen o rdentlicher und außerordentlicher Kündigung erfolgt nicht . Der Umstand,
  184. dass die Regelung auch außerordentliche Kündigungen erfasst, ergibt
  185. sich zudem aus einem Vergleich zu § 206 Abs. 1 Satz 2 VVG, in der weitere Einschränkungen der ordentlichen Kündigung geregelt sind ("da rüber hinaus …"). In der Vorgängervorschrift des § 178i Abs. 1 Satz 1
  186. VVG a.F. war lediglich die ordentliche Kündigung ausgeschlossen. Aus
  187. der Gesetzesbegründung ergibt sich ferner, dass durch den Kündigung sausschluss das Ziel erreicht werden soll, den Versicherungsschutz da uerhaft aufrecht zu erhalten und einen Versicherungsschutz für alle in
  188. Deutschland lebenden Personen zu bezahlbaren Konditionen herzuste llen (BT-Drucks. 16/4247, S. 66, 68).
  189. 16
  190. bb) Dieser eindeutige Wortlaut verbietet es allerdings nicht, die
  191. Norm teleologisch dahin zu reduzieren, dass sie unmittelbar lediglich die
  192. außerordentliche Kündigung wegen Prämienverzugs ausschließt, wä h-
  193. - 10 -
  194. rend in anderen Fällen schwerer Vertragsverletzung im Einzelfall eine
  195. außerordentliche Kündigung nach § 314 Abs. 1 BGB in Betracht kommen
  196. kann (für eine derartige teleologische Reduktion etwa Marko aaO;
  197. MünchKomm-VVG/Hütt aaO Rn. 52; ders. in Bach/Moser, § 14 MB/KK
  198. Rn. 8; Brand aaO 1344 f.). Eine teleologische Reduktion setzt eine verdeckte Regelungslücke im Sinne einer planwidrigen Unvollständigkeit
  199. des Gesetzes voraus (BGH, Urteile vom 26. November 2008 - VIII ZR
  200. 200/05, BGHZ 179, 27 Rn. 22; vom 13. November 2001 - X ZR 134/00,
  201. BGHZ 149, 165, 174; Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre 3. Aufl. S. 621).
  202. Ob eine derartige Lücke besteht, ist vom Standpunkt des Gesetzes und
  203. der ihm zugrunde liegenden Regelungsabsicht zu beurteilen. Das Gesetz
  204. muss also, gemessen an seiner eigenen Regelungsabsicht, unvollständig
  205. sein. Diesem methodischen Ansatz steht der Wortlaut der Norm nicht
  206. entgegen, da es Sinn und Zweck der teleologischen Reduktion ist, eine
  207. zu weit gefasste Norm auf ihren sachgerechten Inhalt zu reduzieren
  208. (Hütt, Brand, je aaO).
  209. 17
  210. cc) Für eine teleologische Reduktion spricht zunächst die Entst ehungsgeschichte der Norm. So heißt es im Gesetzentwurf zu der Neufassung des § 178i VVG a.F., welche dann endgültig in Gestalt von § 206
  211. VVG in das Gesetz einging (BT-Drucks. 16/4247 S. 68):
  212. "Durch diese Regelung soll der Versicherungsschutz
  213. dauerhaft aufrechterhalten werden. Bisher verlieren Ve rsicherte häufig ihre Altersrückstellungen dadurch, dass
  214. der Versicherer ihnen kündigt, weil sie mit der Zahlung
  215. einer Folgeprämie in Verzug sind. Dieses ist nunmehr
  216. ausgeschlossen. Der Versicherer wird durch diese Regelung nur gering belastet, da der Leistungsanspruch des
  217. Versicherten nach § 178a Abs. 8 weitgehend ruht und
  218. während des Prämienzahlungsverzugs Säumniszuschläge geltend gemacht werden können."
  219. - 11 -
  220. 18
  221. Dem Gesetzgeber ging es also in erster Linie darum, den Vers icherungsnehmer vor den Folgen des Verlustes des Versicherungsschutzes durch eine Kündigung wegen Verzugs mit der Prämienzahlung zu
  222. schützen und ihm seine Altersrückstellungen zu erhalten. Demgegenüber
  223. ergibt sich aus der Gesetzgebungsgeschichte nicht, dass dem Versicherer ein außerordentliches Kündigungsrecht versagt werden sollte, sofern
  224. es um andere schwerwiegende Vertragsverletzungen außerhalb des
  225. Prämienverzugs geht, insbesondere um Fälle der Leistungserschle ichung oder sonstiger gegenüber dem Versicherer bzw. seinen Mitarbe itern verübter Straftaten. So war schon zum bisherigen Recht anerkannt,
  226. dass eine Kündigung aus wichtigem Grund in Betracht kommen kann
  227. (vgl. Senatsurteile vom 20. Mai 2009 aaO Rn. 17; vom 18. Juli 2007 aaO;
  228. OLG Koblenz VersR 2010, 58; LG Essen r+s 2005, 428).
  229. 19
  230. dd) Ein vollständiger Ausschluss des Kündigungsrechts hätte
  231. demgegenüber zur Folge, dass der Versicherer selbst in Fällen schwer ster Vertragsverletzungen an den Versicherungsnehmer gebunden bliebe.
  232. Der Versicherer wäre gezwungen, das Vertragsverhältnis mit einem Ve rsicherungsnehmer fortzusetzen, der bereits in der Vergangenheit ve rsucht hat, durch betrügerische Handlungen Leistungen zu erschleichen ,
  233. oder - wie hier - einen Mitarbeiter des Versicherers tätlich angreift, nac hdem dieser bei einem Besuch vor Ort festgestellt hat, dass der Versicherungsnehmer trotz des Bezuges von Krankentagegeld seiner gewerblichen Tätigkeit nachging. Ein derart vollständiger Ausschluss des Kündigungsrechts auch bei schwerwiegenden Vertragsverletzungen verstieße
  234. gegen den in § 314 BGB zum Ausdruck kommenden allgemeinen Grundsatz des Zivilrechts, dass Dauerschuldverhältnisse bei Vorliegen eines
  235. - 12 -
  236. wichtigen Grundes gekündigt werden können (BGH, Urteil vom 26. Mai
  237. 1986 - VIII ZR 218/85, NJW 1986, 3134 unter A II 2 a; Brand aaO 1343).
  238. 20
  239. ee) Auch der Gesetzgeber selbst will den Versicherer in den von
  240. ihm allein berücksichtigten Fällen des Prämienverzugs, für die er eine
  241. außerordentliche Kündigung ausdrücklich ausgeschlossen hat, keine swegs rechtlos stellen. So bestimmt § 193 Abs. 6 VVG, dass bei einem
  242. qualifizierten Prämienrückstand das Ruhen der Versicherung eintritt.
  243. Während dieser Ruhenszeit haftet der Versicherer ausschließlich für
  244. Aufwendungen zur Behandlung akuter Erkrankungen und von Schmerzzuständen sowie bei Schwangerschaft und Mutterschaft. Weit ere Leistungen hat er nicht zu erbringen. Ferner stehen ihm Säumniszuschläge
  245. gegen den Versicherungsnehmer zu. Sind die Rückstände nicht inne rhalb eines Jahres ausgeglichen, so wird die Versicherung nur noch im
  246. Basistarif fortgesetzt. Wenn aber der Versicherer schon für die Fälle des
  247. Prämienverzugs, der häufig auf der schlechten wirtschaftlichen oder pe rsönlichen Situation des Versicherungsnehmers beruhen kann, nur noch
  248. in eingeschränktem Umfang Leistungen erbringen muss, so muss dem
  249. Versicherer erst recht ein Kündigungsrecht zustehen, wenn der Versicherungsnehmer wesentlich schwerwiegendere Vertragsverletzungen wie
  250. etwa Leistungserschleichungen oder sonstige Straftaten begeht (Brand
  251. aaO 1345).
  252. 21
  253. ff) Das Gesetz schließt ohnehin nicht jede Möglichkeit des Versicherers aus, sich von einem Krankheitskostenversicherungsvertrag auch
  254. dann zu lösen, wenn mit diesem eine Pflicht nach § 193 Abs. 3 Satz 1
  255. VVG erfüllt wird. So finden wegen Verletzung vorvertraglicher Anzeig epflichten weiterhin die §§ 19 ff., 22 VVG Anwendung. Sie erfahren lediglich gemäß § 194 Abs. 1 Satz 3 VVG eine Modifikation dahin, dass § 19
  256. - 13 -
  257. Abs. 4 VVG auf die Krankenversicherung nicht anzuwenden ist, wenn der
  258. Versicherungsnehmer die Verletzung der Anzeigepflicht nicht zu vertr eten hat. Dem Versicherer bleibt daher auch im Bereich der Pflichtversicherung nach § 193 Abs. 3 VVG das Recht zum Rücktritt vom Vertrag
  259. bzw. der Anfechtung wegen arglistiger Täuschung bei Verletzung der
  260. Anzeigepflicht anlässlich des Vertragsschlusses erhalten.
  261. 22
  262. Zudem bestimmt § 193 Abs. 5 Satz 4 VVG, dass der Versicherer
  263. den Antrag auf Abschluss einer Versicherung im Basistarif ablehnen
  264. kann, wenn der Antragsteller bereits bei dem Versicherer versichert war
  265. und der Versicherer den Versicherungsvertrag wegen Drohung oder arglistiger Täuschung angefochten hat oder vom Versicherungsvertrag w egen einer vorsätzlichen Verletzung der vorvertraglichen Anzeigepflicht
  266. zurückgetreten ist. Es ist nicht ersichtlich, warum ein Versicherungsne hmer, der bei Vertragsschluss seine Anzeigepflicht verletzt hat, den Versicherungsschutz nachträglich durch Rücktritt oder Anfechtung seitens des
  267. Versicherers wieder verlieren kann, im Falle einer sonstigen schweren
  268. Vertragsverletzung wie etwa der Leistungserschleichung oder tätlicher
  269. Angriff auf einen Mitarbeiter des Versicherers aber einen Anspruch auf
  270. unveränderten Fortbestand des Vertrages haben soll (so auch Brand
  271. aaO). Zwar handelt es sich in diesen Fällen erst um eine nachträgliche
  272. Störung des zunächst einwandfrei zustande gekommenen Vertragsverhältnisses, während sich Rücktritt und Anfechtung auf eine Anzeig epflichtverletzung vor Vertragsschluss beziehen. Inhaltlich vermag dies
  273. eine unterschiedliche Behandlung aber nicht zu rechtfertigen. Auch beim
  274. Rücktritt oder der Anfechtung ist der Vertrag zunächst "ins Werk gesetzt"
  275. worden und wird erst nachträglich nach Aufdeckung der Anzeigepflich tverletzung rückwirkend wieder beseitigt. Warum es dem Versicherer
  276. dann nicht möglich sein soll, bei häufig noch wesentlich gravierenderen
  277. - 14 -
  278. Vertragsverletzungen den Vertrag nicht zumindest mit Wirkung für die
  279. Zukunft aus wichtigem Grund kündigen zu können, leuchtet nicht ein.
  280. 23
  281. gg) Den Interessen des Versicherungsnehmers wird dadurch
  282. Rechnung getragen, dass er seinen Versicherungsschutz nicht vollständig verliert. Vielmehr hat er weiterhin Anspruch darauf, gemäß § 193
  283. Abs. 5 VVG bei jedem in Deutschland zum Geschäftsbetrieb zugelass enen Versicherungsunternehmen im Basistarif nach § 12 Abs. 1a VAG
  284. versichert zu werden.
  285. 24
  286. hh) Auch die Gefahr eines Verlustes von Altersrückstellungen
  287. rechtfertigt nicht den vollständigen Ausschluss eines außerordentlichen
  288. Kündigungsrechts. Zwar hat der Gesetzgeber den Ausschluss des Kü ndigungsrechts ausdrücklich damit begründet, dass bisher viele Versiche rte ihre Altersrückstellungen dadurch verlieren, dass der Versicherer
  289. ihnen kündigt, weil sie mit der Zahlung einer Folgeprämie in Verzug sind
  290. (BT-Drucks. 16/4247 S. 68). Der Fall eines Prämienverzuges, der auf
  291. Seiten des Versicherungsnehmers die unterschiedlichsten wirtschaftl ichen und persönlichen Gründe haben kann, ist aber mit Fällen sonstiger
  292. schwerer Vertragsverletzungen nicht zu vergleichen. Wer etwa durch
  293. Leistungserschleichungen in betrügerischer Weise versucht, Leistungen
  294. des Versicherers zu erhalten, auf die er keinen Anspruch hat, oder einen
  295. Außendienstmitarbeiter des Versicherers im Rahmen einer Leistung süberprüfung tätlich angreift, muss die Folgen seines Handelns, die gegebenenfalls auch im Verlust des Versicherungsschutzes einschließlich der
  296. Altersrückstellungen liegen können, selbst tragen.
  297. 25
  298. ii) Schließlich steht der Zulassung einer außerordentlichen Künd igung auch nicht die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
  299. - 15 -
  300. entgegen, das die entsprechenden Regelungen für verfassungsgemäß
  301. erachtet hat (so auch Boetius, Private Krankenversicherung Rn. 91 ff.;
  302. Brand aaO 1344). Es hat mit Urteil vom 10. Juni 2009 entschieden, dass
  303. die Einführung des Basistarifs durch die Gesundheitsreform 2007 in der
  304. privaten Krankenversicherung verfassungsmäßig war (BVerfGE 123,
  305. 186) und dazu ausgeführt, dass das absolute Kündigungsverbot des
  306. § 206 Abs. 1 Satz 1 VVG Grundrechte der Versicherer nicht unverhältnismäßig beeinträchtige (aaO 249 f.). Dem Gesetzgeber sei es darum
  307. gegangen, in dem weitaus häufigsten Fall der Vertragsverletzung, nämlich dem Prämienverzug, den mit einer Kündigung des Versicherungsve rtrages verbundenen Verlust der Altersrückstellung zu verhindern. Da es
  308. sich bei der Krankenversicherung um ein nicht personifiziertes Masse ngeschäft handele, sei es nicht sachwidrig und unzumutbar, dass der Gesetzgeber auf eine Kündigungsregelung wegen anderer Vertragsverle tzungen, die nur relativ selten vorkämen, verzichtet habe. Ergänzend hat
  309. das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 10. Juni 2009 entschieden, dass diese Grundsätze auch auf kleine Versicherungsvereine
  310. auf Gegenseitigkeit Anwendung fänden (BVerfGE 124, 25, 42 f.). Soweit
  311. es um andere Fälle von Vertragsverletzungen außerhalb des Prämie nverzuges gehe, sei eine Verletzung des Grundrechts aus Art. 9 Abs. 1
  312. GG zwar nicht immer auszuschließen. Insoweit seien die Beschwerdeführer aber gehalten, zunächst gegebenenfalls Rechtsschutz vor den
  313. Fachgerichten zu suchen.
  314. 26
  315. Diese Entscheidungen befassen sich mithin nur mit der Verfa ssungsmäßigkeit der Regelung insgesamt, betreff en aber nicht die Frage
  316. der Auslegung einfach gesetzlicher Rechtsvorschriften, stehen also einer
  317. einschränkenden Auslegung der Norm für die Fälle sonstiger schwerer
  318. Vertragsverletzungen nicht entgegen (Brand aaO; Boetius, aaO).
  319. - 16 -
  320. 27
  321. d) Der Kläger stellt mit seiner Revision nicht mehr in Abrede, dass
  322. die Beklagte wegen seines Verhaltens in Form des tätlichen Angriffs auf
  323. deren Mitarbeiter sachlich berechtigt war, den Krankheitskostenversich erungsvertrag aus wichtigem Grund gemäß § 314 Abs. 1 BGB fristlos zu
  324. kündigen.
  325. 28
  326. 3. Erfolg hat die Revision mit ihrem Antrag festzustellen, dass die
  327. Pflegeversicherung zwischen den Parteien fortbesteht und nicht durch
  328. die fristlose Kündigung der Beklagten vom 29. Mai 2009 beendet wurde.
  329. Das Berufungsgericht hat übersehen, dass insoweit nicht § 206 Abs. 1
  330. Satz 1 VVG Anwendung findet, der sich lediglich auf die Krankheitsko stenversicherung bezieht. Einschlägig sind vielmehr die Regelungen für
  331. die private Pflegeversicherung in § 110 SGB XI, dessen Absatz 4 bestimmt:
  332. "Rücktritts- und Kündigungsrechte der Versicherungsunternehmen sind ausgeschlossen, solange der Kontrahierungszwang besteht."
  333. 29
  334. Durch diese Regelung sollen grundsätzlich auch außerordentliche
  335. Kündigungsrechte des Versicherers ausgeschlossen werden, wie sich
  336. aus der Gesetzesbegründung ergibt (BT-Drucks. 12/5952 S. 49):
  337. "Der neu eingeführte Absatz 4 schränkt die Kündigungsund Rücktrittsrechte der Versicherungsunternehmen ein.
  338. So ist z.B. kein Kündigungsrecht gegeben in Fällen, in
  339. denen der Versicherungsnehmer mit seiner Versicherungsprämie in Verzug ist. Der Versicherungsschutz soll
  340. auch bei Vertragsverletzungen aufrecht erhalten bleiben,
  341. damit soll die private Pflege-Pflichtversicherung auch in
  342. dieser Hinsicht einen der sozialen Pflegeversicherung
  343. gleichwertigen Schutz gewährleisten. Es soll dem Versi-
  344. - 17 -
  345. cherungspflichtigen nicht ermöglicht werden, durch ve rtragswidriges Verhalten seine Versicherungspflicht zu
  346. unterlaufen. Leistungsverweigerungsrechte der Versich erungsunternehmen für den Zeitraum, in dem der Versicherungsnehmer keine Prämien entrichtet, bleiben
  347. selbstverständlich erhalten. …"
  348. 30
  349. Hieraus wird im sozialversicherungsrechtlichen Schrifttum geschlossen, dass durch § 110 Abs. 4 SGB XI auch die außerordentliche
  350. Kündigung des Versicherers ausgeschlossen ist (Gürtner in Kasseler
  351. Kommentar, Sozialversicherungsrecht § 110 Rn. 24 ff. (Stand: Juli 2011);
  352. Udsching, SGB XI 3. Aufl. § 110 Rn. 16; HK-SGB XI/Gallon, 3. Aufl.
  353. § 110 Rn. 27).
  354. 31
  355. Bei § 110 Abs. 4 SGB XI kommt anders als bei § 206 Abs. 1 Satz 1
  356. VVG keine teleologische Reduktion dahingehend in Betracht, dass eine
  357. außerordentliche Kündigung bei nicht auf Prämienverzug beruhenden
  358. schwerwiegenden
  359. Vertragsverletzungen
  360. des
  361. Versicherungsnehmers
  362. möglich ist. So schränkt zunächst das Gesetz selbst die Möglichke it des
  363. Versicherers, sich vom Vertrag zu lösen, in weitergehendem Umfang ein
  364. als bei der Krankheitskostenversicherung. § 110 Abs. 4 SGB XI untersagt auch Rücktrittsrechte des Versicherers wegen unzutreffender Ang aben des Versicherungsnehmers bei Vertragsschluss (vgl. Gürtner aaO).
  365. Dem entspricht es, dass nach § 110 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a und Abs. 3
  366. Nr. 2 SGB XI Unternehmen nicht berechtigt sind, Personen wegen Vo rerkrankungen vom Pflegepflichtversicherungsvertrag auszuschließen. Im
  367. Bereich der Pflegepflichtversicherung besteht also ein noch weitergehender Kontrahierungszwang als bei der Krankheitskostenversicherung,
  368. bei der jedenfalls ein Rücktritt vom Vertrag wegen Verletzung der vorve rtraglichen Anzeigepflicht möglich ist, wie sich dies etwa aus § 193 Abs. 5
  369. Satz 4 und § 194 Abs. 1 Satz 3 VVG ergibt.
  370. - 18 -
  371. 32
  372. Hinzu kommt, dass im Falle der Möglichkeit einer außerordentl ichen Kündigung der Pflegepflichtversicherung ein Versicherungsschutz
  373. vollständig entfiele und der Versicherungsnehmer auf Sozialhilfeleistu ngen angewiesen wäre. Anders als im Bereich der Krankheitskostenvers icherung fehlt das "Auffangnetz" eines Basistarifs. Vielmehr ist die Pfl egepflichtversicherung selbst bereits von ihrer Struktur her mit dem Basi starif in der Krankheitskostenversicherung zu vergleichen. Es handelt sich
  374. bei der Pflegepflichtversicherung und der Krankheitskostenversicherung
  375. im Basistarif um Versicherungsverträge, bei denen Inhalt und Umfang
  376. der Leistungen nur noch eingeschränkt dem Grundsatz der Privatautonomie unterliegen, sondern vielfach durch gesetzgeberische Vorgaben
  377. überlagert sind. So muss etwa der Basistarif in der Krankheitskostenve rsicherung in Art, Umfang und Höhe den Leistungen nach dem dritten K apitel des SGB V entsprechen (§ 12 Abs. 1a Satz 1, Abs. 1d VAG). Ferner
  378. darf der Beitrag für den Basistarif den Höchstbetrag der gesetzlichen
  379. Krankenversicherung nicht überschreiten, wozu sich detaillierte Reg elungen in § 12 Abs. 1c VAG finden. Im Bereich der Pflegepflichtversicherung kommt dieser Gedanke der Gleichbehandlung und eines solidarischen Ausgleichs zusätzlich noch in der Regelung über den Risik oausgleich in § 111 SGB XI zum Ausdruck. Hiernach müssen Versicherungsunternehmen, die eine private Pflegeversicherung betreiben, ein
  380. Ausgleichssystem schaffen und erhalten, durch das ein dauerhafter Ausgleich der unterschiedlichen Belastungen gewährleistet werden soll.
  381. Nach Auffassung des Gesetzgebers ist es den Versicherungsunterne hmen nicht möglich, für die Versicherungsnehmer einen risikogerechten
  382. Beitrag zu kalkulieren (BT-Drucks. 12/5952 S. 49). So könnten einzelne
  383. Unternehmen mit einer Häufung von so genannten "schlechten Risiken"
  384. benachteiligt werden. Daher sei ein Ausgleich zwischen allen Pflegeve r-
  385. - 19 -
  386. sicherungsunternehmen unerlässlich. So hat der Gesetzgeber sogar eine
  387. gemeinsame Kalkulation der Beiträge vorgeschrieben, auch wenn dies
  388. nicht mit einer Einheitsprämie verbunden werden soll (aaO S. 50).
  389. 33
  390. Aus Vorstehendem ergibt sich, dass im Bereich der Pflegepflich tversicherung die Vertragsfreiheit noch stärkeren Einschrä nkungen unterliegt als im Bereich der Krankheitskostenversicherung und eine weitg ehende Verteilung der Risiken auf die Gemeinschaft stattfindet. Hiermit
  391. wäre es unvereinbar, wenn einem Versicherungsnehmer auch bei schweren Vertragsverletzungen aus wichtigem Grund gekündigt werden könnte
  392. und er entgegen der in § 23 Abs. 1 SGB XI vorgesehenen Versicherungspflicht keine Möglichkeit mehr hätte, bei einem anderen Versicherer
  393. einen entsprechenden Vertrag abzuschließen.
  394. 34
  395. 4. a) Für die beantragte Aussetzung des Verfahrens gemäß
  396. Art. 100 Abs. 1 GG und eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht
  397. besteht keine Veranlassung, da es sich lediglich um eine einfachgeset zliche Normauslegung handelt und Anhaltspunkte für eine Verfassung swidrigkeit der Regelung nicht ersichtlich sind.
  398. 35
  399. b) Unbegründet sind demgegenüber die weiteren Hilfsanträge, mit
  400. denen der Kläger die Feststellung begehrt, dass die Krankheitskoste nversicherung zum Basistarif (§ 12 Abs. 1a VAG) fortbesteht und nicht
  401. durch die fristlose Kündigung der Beklagten vom 29. Mai 2009 beendet
  402. wurde, sowie weiter hilfsweise der Beklagten aufzugeben, mit dem Kl äger einen Krankheitskostenversicherungsvertrag zum Basistarif (§ 12
  403. Abs. 1a VAG) abzuschließen.
  404. - 20 -
  405. 36
  406. aa) Die Beklagte war berechtigt, gemäß § 314 Abs. 1 BGB den gesamten Krankheitskostenversicherungsvertrag mit dem Kläger zu kündigen. Eine Beschränkung des Kündigungsrechts dahingehend, dass di eses sich nur auf den Teil der Krankheitskostenversicherung bezieht, der
  407. über den Basistarif hinausgeht, kommt nicht in Betracht.
  408. 37
  409. Nach § 12 Abs. 1a VAG haben Versicherungsunternehmen mit Sitz
  410. im Inland, welche die substitutive Krankenversicherung betreiben, einen
  411. branchenweiten einheitlichen Basistarif anzubieten, dessen Vertragslei stung in Art, Umfang und Höhe den Leistungen nach dem dritten Kapitel
  412. des Fünften Buches des Sozialgesetzbuches, auf die ein Anspruch b esteht, jeweils vergleichbar sind. Gem. § 193 Abs. 5 Satz 1 VVG sind die
  413. privaten Versicherer verpflichtet, dem dort im Einzelnen genannten Pe rsonenkreis eine Versicherung im Basistarif zu gewähren. Hieraus wird im
  414. Schrifttum teilweise geschlossen, der Ausschluss des außerordentlichen
  415. Kündigungsrechts nach § 206 Abs. 1 Satz 1 VVG beschränke sich auf
  416. den Basistarif. Die Regelung sei teleologisch dahin zu reduzieren, dass
  417. eine außerordentliche Kündigung zulässig ist, soweit sie sich auf einen
  418. qualitativ oder quantitativ über den Basistarif hinausreichenden Vers icherungsschutz bezieht (Eichelberger, VersR 2010, 886, 887; jedenfalls
  419. im Ergebnis ähnlich Marlow/Spuhl, VersR 2009, 593, 604, die davon
  420. ausgehen, eine Kündigung des Versicherers sei zwar generell ausg eschlossen, er könne jedoch in entsprechender Anwendung von § 193
  421. Abs. 6 Satz 9 VVG die Versicherung des Vertrages im Basistarif verla ngen).
  422. 38
  423. Gegen eine solche Lösung spricht jedoch, dass eine außerordentliche Kündigung durch den Versicherer gemäß § 314 Abs. 1 BGB ohnehin nur in Ausnahmefällen in Betracht kommt, bei denen das Vertrauen s-
  424. - 21 -
  425. verhältnis zwischen Versicherer und Versicherungsnehmer nachhaltig
  426. und auf Dauer gestört ist, wie etwa bei betrügerischer Leistungserschle ichung oder - wie hier - tätlichen Angriffen des Versicherungsnehmers auf
  427. einen Mitarbeiter des Versicherers. In einem solchen Fall ist es dem
  428. Versicherer nicht zuzumuten, die Kündigung von vornherein nur auf den
  429. Vertragsteil zu erstrecken, der über den Basistarif hinausgeht. Ein ausreichender Schutz des Versicherungsnehmers wird dadurch erreicht,
  430. dass diesem gemäß § 193 Abs. 5 VVG ein Anspruch auf Versicherung
  431. zum Basistarif bei einem anderen Versicherer zusteht (hierzu nachfolgend unter bb).
  432. 39
  433. Gegen eine Beschränkung des Kündigungsrechts sprechen auch
  434. praktische Erwägungen. Zum einen ist fraglich, ob der Versicherer in
  435. diesem Fall ausdrücklich seine außerordentliche Kündigung auf den Te il
  436. des Versicherungsvertrages beschränken muss, der über den Basistarif
  437. hinausgeht. Wäre dies der Fall, müsste dies in der Kündigung im Einze lnen aufgeführt und jeweils die Tarife genannt werden, auf die sich die
  438. Kündigung bezieht, und diejenigen, die weiter im Basistarif bestehen
  439. bleiben. Das trüge zur Übersichtlichkeit und Verständlichkeit nicht bei,
  440. sondern böte die Gefahr, dass eine im Übrigen berechtigte Kündigung
  441. aus formalen Gründen unwirksam wäre. Zum anderen spricht gegen eine
  442. automatische Fortsetzung des Vertrages zum Basistarif, dass dies ke ineswegs immer dem Wunsch des gekündigten Versicherungsnehmers
  443. entspricht. Das liegt auf Seiten von Versicherungsnehmern, denen Leistungserschleichungen oder sonstige schwerwiegende Vertragsverletzu ngen nachgewiesen werden, nicht fern. Hier wird es Fälle geben, in denen
  444. der Versicherungsnehmer eher daran interessiert ist, den Basistarifve rtrag bei einem anderen Versicherer abzuschließen.
  445. - 22 -
  446. 40
  447. bb) Unbegründet ist auch der zweite Hilfsantrag, mit dem der Kl äger der Beklagten aufgeben will, mit ihm einen Krankheitskostenvers icherungsvertrag zum Basistarif abzuschließen. Grundsätzlich ist gemäß
  448. § 193 Abs. 5 Satz 1 VVG jeder Versicherer verpflichtet, dem dort im Einzelnen aufgeführten Personenkreis Versicherungen im Basistarif nach
  449. § 12 Abs. 1a VAG zu gewähren. Nach § 193 Abs. 5 Satz 4 VVG darf der
  450. Antrag nur abgelehnt werden, wenn der Antragsteller bereits bei dem
  451. Versicherer versichert war und der Versicherer den Versicherungsvertrag
  452. wegen Drohung oder arglistiger Täuschung angefochten hat oder vom
  453. Versicherungsvertrag wegen einer vorsätzlichen Verletzung der vorve rtraglichen Anzeigepflicht zurückgetreten ist. Ein derartiger Fall eines
  454. Rücktritts nach § 19 ff. VVG oder einer Anfechtung nach § 22 VVG i.V.m.
  455. § 123 BGB liegt hier nicht vor.
  456. 41
  457. Unterschiedlich beurteilt wird, ob § 193 Abs. 5 Satz 4 VVG entsprechend auf den Fall anzuwenden ist, bei dem der Versicherer den
  458. Vertrag berechtigt aus wichtigem Grund gemäß § 314 Abs. 1 BGB gekündigt hat. Eine Ansicht plädiert für eine analoge Anwendung von § 193
  459. Abs. 5 Satz 4 VVG (Kalis in Bach/Moser, Private Krankenversicherung
  460. 4. Aufl. § 193 VVG Rn. 13; Reinhard in Looschelders/Pohlmann, § 193
  461. Rn. 19; MünchKomm-VVG/Kalis, § 193 Rn. 26). Andere lehnen eine entsprechende Anwendung von § 193 Abs. 5 Satz 4 VVG auf den Fall der
  462. fristlosen Kündigung ab (Voit in Prölss/Martin, § 193 Rn. 30; Eichelberger, VersR 2010, 886, 887 f.).
  463. 42
  464. Die erstgenannte Ansicht trifft zu. § 193 Abs. 5 Satz 4 VVG ist entsprechend auf den Fall anzuwenden, in dem der Versicherer ausnahmsweise berechtigt ist, den Krankheitskostenversicherungsvertrag gemäß
  465. § 314 Abs. 1 BGB aus wichtigem Grund zu kündigen. In einem solchen
  466. - 23 -
  467. Fall hat der Versicherungsnehmer auch keinen Anspruch darauf, dass
  468. derselbe Versicherer mit ihm erneut einen Vertrag zum Basistarif abschließt. Vielmehr besteht ein solcher Anspruch nur gegenüber einem
  469. anderen Versicherer. Hierfür spricht, dass es einem Versicherer, der
  470. ausnahmsweise berechtigt ist, einen Vertrag aus wichtigem Grund zu
  471. kündigen, nicht zuzumuten ist, mit dem Versicherungsnehmer ein Vertragsverhältnis, und sei es auch nur im Basistarif, fortzusetzen. Von der
  472. Schwere der Pflichtverletzung sind die zur außerordentlichen Kündigung
  473. führenden Gründe auch mit den ausdrücklich in § 193 Abs. 5 Satz 4 VVG
  474. genannten Fällen der Anzeigepflichtverletzung bzw. der arglistigen Tä uschung zu vergleichen. Auch das Argument, es sei nicht einzusehen, warum es einem anderen Versicherer eher zuzumuten sein soll, einen Ve rtrag mit einem betrügerischen oder in sonstiger Weise vertragsbrüchigen
  475. Versicherungsnehmer zu schließen als dem bisherigen Versicherer, ve rmag nicht zu überzeugen. Die maßgebliche Vertragsverletzung hat sich
  476. gerade bei dem bisherigen Versicherer und nicht in der Sphäre des au fnahmepflichtigen Unternehmens ereignet. Mit dieser Begründung hat
  477. auch das Bundesverfassungsgericht es als verfassungsgemäß anges ehen, dass der Kontrahierungszwang im Basistarif auch solche Versich erer trifft, die Antragsteller aufnehmen müssen, deren Vertrag bei einem
  478. anderen Versicherer infolge Anfechtung wegen Drohung oder arglistiger
  479. Täuschung bzw. Rücktritts wegen vorsätzlicher Verletzung einer vorve rtraglichen Anzeigepflicht erloschen ist (BVerfGE 123, 186 , 245 f.). Es
  480. steht auch nicht fest, dass der bei dem bisherigen Versicherer entstandene Vertrauensverlust auch bei einem neuen Versicherer eintreten
  481. - 24 -
  482. muss, wenn der Versicherungsnehmer dort das Versicherungsverhältnis
  483. beanstandungsfrei führt. Im Übrigen stünde dann auch einem anderen
  484. Versicherer erneut das Recht zur außerordentlichen Kündigung zu.
  485. Dr. Kessal-Wulf
  486. Harsdorf-Gebhardt
  487. Wendt
  488. Felsch
  489. Dr. Karczewski
  490. Vorinstanzen:
  491. LG Frankfurt (Oder), Entscheidung vom 27.08.2010 - 12 O 209/10 OLG Brandenburg, Entscheidung vom 05.05.2011 - 12 U 148/10 -