Search on legal documents using Tensorflow and a web_actix web interface
You can not select more than 25 topics Topics must start with a letter or number, can include dashes ('-') and can be up to 35 characters long.

158 lines
9.5 KiB

1 year ago
  1. 5 StR 100/02
  2. BUNDESGERICHTSHOF
  3. BESCHLUSS
  4. vom 9. April 2002
  5. in der Strafsache
  6. gegen
  7. wegen versuchten Totschlags u.a.
  8. -2-
  9. Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 9. April 2002
  10. beschlossen:
  11. 1.
  12. Auf die Revision des Angeklagten wird
  13. das Urteil des Landgerichts Berlin vom 1. November
  14. 2001 nach § 349 Abs. 4 StPO mit den Feststellungen
  15. aufgehoben.
  16. 2.
  17. Die Sache wird zu neuer Verhandlung
  18. und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
  19. G r ü n d e
  20. Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in
  21. drei Fällen, davon in zwei Fällen in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt. Die Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge Erfolg. Die Annahme des Landgerichts, der Angeklagte sei bei Begehung der Taten – zumal uneingeschränkt – schuldfähig gewesen, hält sachlichrechtlicher Nachprüfung nicht
  22. stand.
  23. 1. Der – zudem stark sehbehinderte – Angeklagte leidet nach dem
  24. Gutachten des psychiatrischen Sachverständigen unter einer “paranoidhalluzinatorischen Psychose mit episodischem Verlauf und residualer
  25. Wahnsymptomatik”. Eine erste Manifestation der psychischen Erkrankung
  26. des zur Tatzeit 37jährigen Angeklagten, der seit 1986 bindungslos in
  27. Deutschland lebt, früher Betäubungsmittelmißbrauch betrieben hat, zuletzt
  28. -3-
  29. nichtseßhaft war und weder Sozialhilfe noch sonstige bekannte Einkünfte
  30. bezog, ist für die Zeit seiner letzten Strafverbüßung im Jahre 1999 gesichert.
  31. Das Schwurgericht hat konkrete Wahnvorstellungen des Angeklagten
  32. festgestellt. So hätten Ärzte mit Mitteln auf ihn eingewirkt; dies habe zur
  33. Verdunkelung seiner Haut, zu seiner massiven Sehschwäche und zu Erkrankungen in der Jugendzeit geführt. Er habe zwölf Kinder, die von Leuten
  34. “in einen Sumpf gebracht” worden seien. Während der letzten Haft hatte der
  35. Angeklagte akustische Halluzinationen; er litt unter Vergiftungsangst und
  36. Waschzwang.
  37. Zur Tat hat das Schwurgericht folgendes festgestellt: Am frühen Morgen des 9. April 2001 wärmte sich der Angeklagte, der keine Schuhe und
  38. Strümpfe besaß und die Nacht, wie häufig, im Freien verbracht hatte, in einer fahrenden U-Bahn auf. Als ein uniformierter Schaffner im Kontrolldienst
  39. ihn aufforderte, die Füße von der gegenüberliegenden Sitzbank zu nehmen,
  40. reagierte der Angeklagte, der indes “das Geschehen realitätsverkennend als
  41. bedrohlich” auffaßte, zunächst nicht. Als der Kontrolleur nach der zweiten
  42. vergeblichen Aufforderung ankündigte, mit seinem Mobiltelefon den Ordnungsdienst oder die Polizei zu alarmieren, sprang der Angeklagte auf, stieß
  43. einen Schrei aus und versetzte dem Kontrolleur mit einem mitgeführten
  44. Messer einen wuchtigen Stich in den Rücken. Das Opfer sackte verletzt zu
  45. Boden. Der Angeklagte wandte sich in dem fahrenden Zug einem weiteren
  46. Schaffner zu, er zielte mit seinem Messer auf dessen linke Brust. Der Stich
  47. wurde durch eine Flasche, die der Mann in der Innentasche seiner Uniformjacke trug, aufgefangen. Nunmehr griff der Angeklagte eine uniformierte
  48. Schaffnerin an. Er zielte mit dem Messer auf ihren Unterkörper; sie konnte
  49. den Stich mit einer Tasche abfangen. Unmittelbar darauf brachte der Angeklagte ihr eine längere, sofort blutende Schnittverletzung an der linken Halsseite bei. Das Schwurgericht ist überzeugt, daß der Angeklagte bei sämtlichen Messerattacken mit direktem Tötungsvorsatz handelte.
  50. -4-
  51. Weitere U-Bahn-Insassen griff der Angeklagte nicht an. Er verhielt sich
  52. in dem U-Bahn-Waggon während der weiteren Fahrt hektisch, entfernte sich
  53. am nächsten Bahnhof jedoch ruhigen Schrittes, warf das Messer, das später
  54. nicht gefunden wurde, weg, fiel aber durch sein verwirrt wirkendes Erscheinungsbild einem Passanten auf, der ihn verfolgte und seine Festnahme veranlassen konnte. Der Angeklagte ließ sich widerstandslos festnehmen,
  55. “brabbelte” jedoch vor sich hin, wirkte weiterhin “irgendwie verwirrt” und
  56. wurde von Polizeibeamten – die indes seine Sehschwäche nicht registrierten
  57. – und dem Blutentnahmearzt zu Unrecht für stark alkoholisiert gehalten. Bei
  58. Vernehmungen verhielt er sich unwillig; er wirkte gestört. Die Psychiaterin
  59. W
  60. , die ihn explorierte, dabei freilich keine Hinweise für eine gravie-
  61. rende psychische Erkrankung diagnostizierte, beschimpfte er “mit sexuellem
  62. Hintergrund”, zudem berichtete er ihr von “seinen Kindern im Puff” und beklagte, daß Ärzte ihn nach seiner Festnahme mit Flüssigkeit überschüttet
  63. hätten. In der Hauptverhandlung bezeichnete sich der Angeklagte, der während der Untersuchungshaft in einer psychiatrischen Abteilung der Justizvollzugsanstalt untergebracht ist und dort medikamentös behandelt wird, als
  64. zur Tatzeit stark berauscht, was objektiv widerlegt ist. Er gab an, daß er sich
  65. mit dem harmlosen Messer gegen Schläge gewehrt habe und auch von der
  66. Polizei geschlagen worden sei; auch seine Schuhe seien ihm weggenommen worden; jeden Tag passiere solch ein Vorfall.
  67. 2. Vor dem Hintergrund dieser Feststellungen zur Person des Angeklagten und zu seinem Tat- und Nachtatverhalten ist der Befund des
  68. Schwurgerichts, der Angeklagte habe die Taten mit Unrechtseinsicht und
  69. ungetrübtem Steuerungsvermögen begangen, nicht nachvollziehbar, obgleich er in Übereinstimmung mit der Beurteilung durch den psychiatrischen
  70. Sachverständigen
  71. P
  72. steht.
  73. -5-
  74. Allein die Feststellungen zu den beim Angeklagten vorhandenen
  75. krankheitsbedingten Wahnvorstellungen machen die Annahme eines Ausschlusses, mindestens aber einer erheblichen Verminderung seiner
  76. Schuldfähigkeit wahrscheinlich (vgl. BGHR StGB § 20 Psychose 1 und 2).
  77. Es kommt hinzu, daß das Schwurgericht ein wahnhaftes Erleben des Angeklagten in der den Taten vorangegangenen Phase selbst für wahrscheinlich
  78. erachtet (UA S. 27). Die Taten stellten sich – zumal wenn sie, wie das
  79. Schwurgericht meint, mit direktem Tötungsvorsatz begangen wurden – als
  80. objektiv gänzlich unverständliche Überreaktion auf ein als belästigend oder
  81. kränkend empfundenes – oder eben wahnhaft als gefährdend angesehenes
  82. – Verhalten des ersten Opfers dar; noch weniger objektiv nachvollziehbar
  83. sind die Attacken gegen die weiteren Opfer. Der psychiatrische Sachverständige hat ausgeführt, daß erfahrungsgemäß nach dem ersten etwa zwei
  84. Jahre vor der Tatbegehung festgestellten Aufflammen der Wahnerkrankung
  85. typischerweise eine längere beschwerdearme Phase folgt; ferner sei der
  86. Umstand bedeutsam, daß der Angeklagte seit der letzten Haftentlassung im
  87. Oktober 1999 nicht mehr drastisch aufgefallen sei. Dies läßt nach Meinung
  88. des Sachverständigen auf einen “autistischen Rückzug” des Angeklagten in
  89. seine “wahnhaft gefärbte Gedankenwelt” schließen. All das bietet schon tatsächlich kaum eine hinreichende Grundlage, die geeignet wäre, um ein bei
  90. Tatbegehung erneut zum Durchbruch gelangtes massives Wahngeschehen
  91. auszuschließen. Dies gilt umso mehr angesichts wenig präziser Feststellungen zu den aktuellen Lebensbedingungen des Angeklagten unmittelbar vor
  92. Tatbegehung. Vielmehr begründen insbesondere die Tat- und Begleitumstände als solche ein gewichtiges Indiz für ein mit der Tat zusammenhängendes Wahngeschehen, das vom Schwurgericht, welches das Handeln des
  93. Angeklagten schwer verständlich als “vernünftig und situationsbezogen” bezeichnet (UA S. 26), ersichtlich unterbewertet wird. Unauffälliges Verhalten
  94. vor der Konfrontation mit den Kontrolleuren, in mancher Beziehung noch
  95. differenzierte Reaktionen und Verhaltensweisen und eine zur Tatzeit vorhandene Erkenntnis des Angeklagten, daß seine Taten von der Allgemein-
  96. -6-
  97. heit als Unrecht angesehen wurden (s. UA S. 25 f.), sind ebensowenig wie
  98. zweifelhafte ärztliche Diagnosen nach seiner Festnahme tragfähige Beweisanzeichen
  99. für
  100. eine
  101. – zumal, wie das Schwurgericht meint, umfassend – intakte Einsichts- und
  102. Steuerungsfähigkeit (vgl. auch Tröndle/Fischer, StGB 50. Aufl. § 20 Rdn. 17;
  103. Lenckner/Perron in Schönke/Schröder, StGB 26. Aufl. § 20 Rdn. 26; jeweils
  104. m. w. N.).
  105. 3. Der neue Tatrichter wird die Frage der Schuldfähigkeit des Angeklagten erneut zu prüfen haben, naheliegend nach einem Bemühen um nähere Aufklärung seiner letzten Lebensumstände und nach Konsultation eines anderen psychiatrischen Sachverständigen, der gegebenenfalls auch
  106. die Anwendung weitergehender Untersuchungsmethoden als bislang (s. UA
  107. S. 27) zu erwägen haben wird. Dabei ist der neue Tatrichter gemäß § 358
  108. Abs. 2 Satz 2 StPO durch das Verschlechterungsverbot nicht gehindert, die
  109. Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus nach
  110. § 63 StGB anzuordnen. Der dafür erforderliche dauerhafte psychische Defekt ist schon bislang festgestellt worden, eine abweichende Beurteilung
  111. seiner Kausalität für die Taten liegt, wie dargetan, außerordentlich nahe.
  112. Eine Aufrechterhaltung von Feststellungen zum Tatgeschehen erschien schon im Blick darauf nicht zweckmäßig, daß insoweit wegen der
  113. Rückschlüsse auf den Zustand des Angeklagten eine sorgfältige umfassende Aufklärung unerläßlich sein wird, welche die erneute kritische Überprüfung der Frage des Tötungsvorsatzes einzuschließen haben wird. Zudem
  114. wird der neue Tatrichter einen – für die Frage der Unterbringung nach § 63
  115. StGB freilich kaum relevanten – Rücktritt vom unbeendeten Versuch in
  116. sämtlichen Fällen – insbesondere aber im zweiten Fall – über die bislang
  117. nicht
  118. zurei-
  119. -7-
  120. chenden Erwägungen (UA S. 23 f.) hinaus auch unter Berücksichtigung von
  121. BGHSt 35, 184, 186 f.; 39, 221, 230 f. (vgl. dazu auch Tröndle/Fischer aaO
  122. § 24 Rdn. 9, 15, 19 m. w. N.) neu zu überprüfen haben.
  123. Harms
  124. Basdorf
  125. Brause
  126. Gerhardt
  127. Schaal