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1 year ago
  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. BESCHLUSS
  3. 1 StR 93/11
  4. vom
  5. 10. Januar 2013
  6. in der Strafsache
  7. gegen
  8. wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern u.a.
  9. hier: Verfahren gemäß § 275a StPO
  10. -2-
  11. Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 10. Januar 2013 beschlossen:
  12. Die Revision des Verurteilten gegen das Urteil des Landgerichts
  13. Deggendorf vom 18. November 2010 wird verworfen.
  14. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.
  15. Gründe:
  16. 1
  17. I. Der Entscheidung liegt folgender Verfahrensgang zu Grunde:
  18. 2
  19. 1. Die Jugendkammer verurteilte den Angeklagten am 22. Februar 2008
  20. wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in zwei Fällen, versuchter
  21. Vergewaltigung in drei Fällen und Verstoßes gegen ein Berufsverbot in drei Fällen zu sieben Jahren Gesamtfreiheitsstrafe. Die Anordnung von Sicherungsverwahrung blieb vorbehalten. Seine Revision hat der Senat am 9. September
  22. 2008 gemäß § 349 Abs. 2 StPO verworfen (1 StR 449/08). Durch Urteil vom 18.
  23. November 2010 hat die Jugendkammer die (ursprünglich vorbehaltene) Sicherungsverwahrung des Verurteilten angeordnet. Seine hiergegen gerichtete Revision hat der Senat am 29. März 2011 gemäß § 349 Abs. 2 StPO verworfen (1
  24. StR 93/11).
  25. 3
  26. 2. Auf die Verfassungsbeschwerde des Verurteilten hat das Bundesverfassungsgericht durch Beschluss vom 20. Juni 2012 festgestellt, die Entscheidungen des Landgerichts vom 18. November 2010 und des Bundesgerichtshofs vom 29. März 2011 verletzten ihn in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2
  27. -3-
  28. Satz 2 GG i.V.m. Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG (2 BvR 1048/11). Der Beschluss
  29. des Bundesgerichtshofs wurde aufgehoben; die Sache wurde an den Bundesgerichtshof zurückverwiesen.
  30. 4
  31. a) Das Bundesverfassungsgericht hat ausgeführt, § 66a StGB i.d.F. des
  32. Gesetzes vom 21. August 2002 (BGBl. I S. 3344) verletze nur aus den Gründen
  33. seines Urteils vom 4. Mai 2011 (2 BvR 2365/09 u.a., NJW 2011, 1931 ff.) das
  34. Grundgesetz. (Auch) § 66a StGB sei daher nach Maßgabe des genannten Urteils bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber - längstens bis 31. Mai
  35. 2013 - weiterhin anwendbar, jedoch nur unter Beachtung eines strikten Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Dieser sei, wie bereits im Urteil vom 4. Mai 2011
  36. ausgeführt, regelmäßig nur gewahrt, wenn aus konkreten Umständen in der
  37. Person oder dem Verhalten des Betroffenen die Gefahr „schwerer Gewalt- oder
  38. Sexualdelikte“ abzuleiten sei. Diese nur noch eingeschränkte Anwendbarkeit
  39. von § 66a StGB berücksichtigten die Entscheidungen vom 18. November 2010
  40. und 29. März 2011 nicht. Es sei unerheblich, dass sie vor dem Urteil vom
  41. 4. Mai 2011 ergangen seien.
  42. 5
  43. b) Das Urteil des Landgerichts vom 18. November 2010 hat das Bundesverfassungsgericht nicht aufgehoben. Der Bundesgerichtshof habe in einer
  44. erneuten Revisionsentscheidung zu prüfen, ob die Feststellungen des Landgerichts unter Anwendung der Maßgaben des Urteils vom 4. Mai 2011 (Nr. III 1
  45. des Tenors i.V.m. den Urteilsgründen) eine abschließende Entscheidung über
  46. die Anordnung von Sicherungsverwahrung ermöglichen oder ob ergänzende
  47. Feststellungen erforderlich seien.
  48. -4-
  49. 6
  50. II. Die Revision bleibt erfolglos (§ 349 Abs. 2 StPO).
  51. 7
  52. 1. Nach der Aufhebung der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom
  53. 29. März 2011 war nicht nur über die Sachrüge - also über die Anordnung der
  54. Sicherungsverwahrung - neu zu befinden, sondern auch über die ursprünglich
  55. angebrachten Verfahrensrügen. Gründe, aus denen jetzt, anders als bei der
  56. Entscheidung vom 29. März 2011, eine Verfahrensrüge Erfolg hätte, sind aber
  57. nicht ersichtlich. Dies gilt auch für die Rüge, die Jugendkammer hätte hier nicht
  58. in reduzierter Besetzung (§ 33b Abs. 2 JGG, in der zum Zeitpunkt des Urteils
  59. geltenden Fassung) entscheiden dürfen. Die Auffassung, durch die Mitwirkung
  60. von nur zwei Berufsrichtern sei das Grundrecht auf den gesetzlichen Richter
  61. (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) verletzt worden, hat das Bundesverfassungsgericht
  62. (B III der Gründe des Beschlusses vom 20. Juni 2012) zurückgewiesen. Allerdings sollen nach dem am 1. Januar 2012 in Kraft getretenen Gesetz über die
  63. Besetzung der großen Straf- und Jugendkammern vom 6. Dezember 2011
  64. (BGBl. I 2011 S. 2554) diese (unter anderem) dann „zwingend mit drei Berufsrichtern besetzt sein, wenn die Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung … zu erwarten ist“ (so zusammenfassend BT-Drucks.
  65. 17/6905 S. 9), jedoch gilt für vor dem 1. Januar 2012 beim Landgericht anhängig gewordene Verfahren die frühere Rechtslage fort (§ 121 Abs. 2 JGG für
  66. große Jugendkammern, ebenso § 41 Abs. 1 EGGVG für große Strafkammern).
  67. Diese sah auch bei möglicher Sicherungsverwahrung nicht zwingend drei Berufsrichter vor.
  68. 8
  69. 2. Die Sachrüge bleibt ebenfalls erfolglos.
  70. 9
  71. Die Maßstäbe, die sich aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts
  72. vom 4. Mai 2011 ergeben, betreffen die Erheblichkeit der künftig zu erwarten-
  73. -5-
  74. den Straftaten und die Wahrscheinlichkeit ihrer Begehung (vgl. BGH, Urteil vom
  75. 25. September 2012 - 1 StR 160/12; Beschluss vom 24. Juli 2012 - 1 StR
  76. 57/12; Urteil vom 4. August 2011 - 3 StR 175/11 jew. mwN).
  77. 10
  78. a) Im Ausgangsverfahren wurden schwere Sexualstraftaten abgeurteilt.
  79. Ihnen liegen folgende Feststellungen zu Grunde:
  80. 11
  81. (1) In drei Fällen hat der Angeklagte versucht, gewaltsam mit seinem erigierten Penis in den After eines 16 Jahre alten Jungen einzudringen.
  82. 12
  83. (2) In zwei Fällen waren der Angeklagte und ein Mittäter gemeinsam mit
  84. einem Mädchen, das mindestens neun und keinesfalls älter als zwölf Jahre alt
  85. war und deren etwa drei Jahre jüngeren Bruder in der Kapelle eines Schlosses.
  86. Auf Aufforderung entkleideten sich die Kinder völlig, der Angeklagte und sein
  87. Mittäter waren am Unterleib entblößt. Während das Mädchen an dem Mittäter
  88. unter anderem Oralverkehr vornahm, musste der Junge mit seiner Hand am
  89. Glied des Angeklagten manipulieren. Einmal manipulierte auch das Mädchen
  90. auf Aufforderung mit der Hand am Glied des Angeklagten bis zum Samenerguss.
  91. 13
  92. Die zusätzliche Verurteilung wegen Verstoßes gegen ein Berufsverbot
  93. (der Angeklagte hatte sich wiederholt über das im Rahmen eines Urteils wegen
  94. sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen rechtskräftig ausgesprochene
  95. Verbot der Ausbildung, Betreuung und Beaufsichtigung von Jugendlichen unter
  96. 15 Jahren hinweggesetzt) kann in diesem Zusammenhang außer Betracht bleiben.
  97. -6-
  98. 14
  99. b) Bei den hier abgeurteilten Sexualstraftaten handelt es sich um
  100. schwerwiegende Sexualstraftaten.
  101. 15
  102. (1) Ob Gewalttaten schwerwiegend sind, wird sich - unbeschadet der
  103. letztlich stets entscheidenden Umstände des Einzelfalls - regelmäßig aus einer
  104. Gesamtschau ergeben, die insbesondere das Motiv der Gewaltanwendung,
  105. ihre Art und ihr Maß sowie die durch sie verursachten oder zumindest konkret
  106. drohenden physischen und/oder psychischen Folgen beim Opfer umfasst.
  107. Wendet der Täter Gewalt an, um den sexuellen Handlungen entgegenstehenden Willen des Opfers zu brechen, insbesondere auch, um in dessen Körper
  108. einzudringen (Vergewaltigung), wird in aller Regel eine Tat vorliegen, die so
  109. schwer wiegt, dass sie nach Maßgabe der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 Grundlage einer Sicherungsverwahrung sein
  110. kann (BGH, Urteil vom 4. August 2011 - 3 StR 175/11). Für die hier abgeurteilten wiederholten Versuche, einen Jugendlichen zu vergewaltigen, gilt nichts
  111. anderes.
  112. 16
  113. (2) Sexualstraftaten zum Nachteil von Kindern lassen regelmäßig eine
  114. schwerwiegende Beeinträchtigung von deren sexueller Entwicklung besorgen.
  115. Auch wenn sie - wie häufig - statt mit Gewalt durch den Missbrauch von - etwa
  116. erzieherischen - Einwirkungsmöglichkeiten (zu Sexualstraftaten zum Nachteil
  117. von Jugendlichen vgl. insoweit § 174 StGB), letztlich meist unter Ausnutzung
  118. altersbedingt noch unzureichender Verstandes- bzw. Widerstandskräfte begangen werden, weisen sie einen erheblichen Schuld- und Unrechtsgehalt auf
  119. (BGH, Urteil vom 28. August 2007 - 1 StR 268/07 mwN). Dementsprechend
  120. wäre es rechtsfehlerhaft, von Sicherungsverwahrung trotz eines Hanges zum
  121. sexuellen Missbrauch von Kindern maßgeblich deswegen abzusehen, weil gewaltsamer Missbrauch nicht zu befürchten sei (BGH, Urteil vom 24. März 2010
  122. -7-
  123. - 2 StR 10/10; Urteil vom 28. August 2007 - 1 StR 268/07 jew. mwN). Dieser
  124. Ansatz gilt trotz der nur noch eingeschränkten Anwendbarkeit der Bestimmungen über Sicherungsverwahrung unverändert fort. Nach der Entscheidung des
  125. Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 können Grundlage von Sicherungsverwahrung schwerwiegende Gewalt-
  126. oder
  127. Sexualdelikte sein, nicht
  128. nur (etwa als beispielhafte Erläuterung schwerwiegender Gewaltdelikte) gewaltsam begangene Sexualdelikte.
  129. 17
  130. Seelische Schäden bei kindlichen Opfern sexuellen Missbrauchs liegen
  131. zwar meist nahe, sie sind aber nicht immer ohne weiteres leicht festzustellen.
  132. Überhaupt nicht möglich ist eine prognostisch zuverlässige Bestimmung des
  133. Maßes seelischer Schäden bei nicht individualisierbaren Opfern zu erwartender
  134. Sexualstraftaten (BGH aaO). Ob eine Sexualstraftat zum Nachteil eines Kindes
  135. im Sinne der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011
  136. schwer wiegt, ist daher jedenfalls regelmäßig im Wesentlichen nach dem Tatbild zu beurteilen.
  137. 18
  138. Daran, dass es sich danach bei den hier festgestellten, gleichzeitig von
  139. mehreren Tätern zum Nachteil mehrerer Kinder begangenen Taten um
  140. schwerwiegende Sexualstraftaten handelt, können insgesamt keine Zweifel
  141. bestehen, auch wenn der Angeklagte weder Gewalt anwendete, noch in den
  142. Körper der Kinder eindrang. Diese Bewertung ist vom Alter der Kinder unabhängig, sie wird aber noch weiter dadurch verstärkt, dass der vom Angeklagten
  143. selbst öfter noch als das Mädchen missbrauchte Junge noch keine zehn Jahre
  144. alt war.
  145. -8-
  146. 19
  147. c) Entsprechende, jedenfalls in ihrem kriminellen Gewicht mit den abgeurteilten Taten vergleichbare Taten sind im Ergebnis ausweislich der Feststellungen der Jugendkammer aus konkreten, in der Person des Angeklagten und
  148. seinem Verhalten liegenden Gründen mit dem für eine solche Prognoseentscheidung erforderlichen Maß an hochgradiger Wahrscheinlichkeit (zum Maßstab vgl. BGH, Urteil vom 25. September 2012 - 1 StR 160/12 mwN) zu erwarten.
  149. 20
  150. (1) Die hierfür erforderlichen konkreten Umstände aus dem Verhalten
  151. des Verurteilten ergeben sich - von dem hier nicht einschlägigen Fall des erstmals bestraften Mehrfachtäters abgesehen - regelmäßig aus Anzahl, Frequenz
  152. und Tatbildern von Vorverurteilungen (vgl. BGH, Beschluss vom 24. Januar
  153. 2012 - 5 StR 535/11). Hierzu ist von der Jugendkammer detailliert und rechtsfehlerfrei dargelegt, dass der Angeklagte seit Jahrzehnten im In- und Ausland
  154. wegen immer wieder gleichartiger oder ähnlicher Taten in Erscheinung getreten
  155. und mehrfach bestraft worden ist. So wurde er etwa vom Appellationsgericht
  156. Trient zu über fünf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt, weil er, wiederholt gemeinsam mit Mittätern, männliche Kinder und Jugendliche immer wieder sexuell
  157. missbraucht und diese dabei häufig zum Oralverkehr veranlasst hatte; zumindest ein Teil der Taten hing mit seiner Tätigkeit als Gymnasiallehrer zusammen; damit vergleichbar war er sowohl zuvor als auch danach in Deutschland
  158. wegen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen verurteilt worden, die ihm in
  159. einem Internat oder in Jugendgruppen anvertraut waren.
  160. 21
  161. (2) Ebenfalls rechtsfehlerfrei geht die Jugendkammer davon aus, dass
  162. mit derartigem Verhalten des Verurteilten, wie es sich seit langer Zeit verfestigt
  163. hat, auch künftig mit höchster Wahrscheinlichkeit gerechnet werden muss. Dies
  164. schließt sie, ebenfalls rechtsfehlerfrei, aus der von ihr eingeholten sachverstän-
  165. -9-
  166. digen Beratung, die auf der Grundlage sämtlicher Erkenntnisse erfolgte, die
  167. über den Angeklagten vorhanden waren, wobei dieser - wozu er berechtigt
  168. war - ebenso wie schon im Verfahren, das zur Anlassverurteilung führte, keinerlei Angaben gegenüber dem Sachverständigen machte (vgl. BGH, Beschluss
  169. vom 9. September 2008 - 1 StR 449/08). Sie hat dabei festgestellt, dass beim
  170. Angeklagten eine Präferenzstörung im Sinne einer Pädophilie vom ausschließlichen Typus (Kern-Pädophilie: ICD-10: F65.4) vorliegt, die auch den Bereich
  171. der Ephebophilie (sexuelle Reizbarkeit nicht nur durch vorpubertäre Kinder,
  172. sondern auch durch pubertierende Jugendliche) umfasst. Freilich könnte eine
  173. Prognose höchster Wahrscheinlichkeit gleichartiger Taten nicht allein auf nur
  174. abstrakte, (wenngleich hier hohe) statistische Wahrscheinlichkeiten gestützt
  175. werden, die sich aus diesen Feststellungen ergeben (vgl. BVerfGE 109, 190,
  176. 242; BGH, Urteil vom 11. Mai 2005 - 1 StR 37/05). Die Strafkammer hat der
  177. genannten Prognose vielmehr zutreffend sämtliche Erkenntnisse über den Lebensweg des Verurteilten zu Grunde gelegt, der dadurch gekennzeichnet ist,
  178. dass der Verurteilte schon seit sehr langer Zeit systematisch die Nähe von
  179. dann häufig missbrauchten Kindern und Jugendlichen sucht.
  180. 22
  181. d) Ebenso hat sie sämtliche hierbei zu beachtende Gesichtspunkte (z.B.
  182. das inzwischen fortgeschrittene Alter des [1944 geborenen] Verurteilten, seine
  183. familiären Verhältnisse, die im Rahmen bisherigen Strafvollzugs angefallenen
  184. Erkenntnisse und die von künftigem Strafvollzug zu erwartenden Auswirkungen) rechtsfehlerfrei sowohl bei der Bewertung der Gefährlichkeit des Verurteilten als auch innerhalb des von ihr gemäß § 66a StGB auszuübenden Ermessens gegeneinander abgewogen.
  185. - 10 -
  186. 23
  187. e) Nach alledem ist nicht erkennbar, dass die Anordnung von Sicherungsverwahrung von zusätzlichen Feststellungen abhinge, die erst nach der
  188. Klärung bisher nicht behandelter Fragen getroffen werden könnten. Die Entscheidung der Jugendkammer entspricht (auch) den Maßstäben, die sich aus
  189. dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 für die Anordnung
  190. von Sicherungsverwahrung ergeben.
  191. Nack
  192. Wahl
  193. Cirener
  194. Jäger
  195. Sander