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1 year ago
  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. BESCHLUSS
  3. 1 StR 607/99
  4. vom
  5. 8. März 2000
  6. in der Strafsache
  7. gegen
  8. wegen versuchten Totschlags u.a.
  9. -2-
  10. Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 8. März 2000 gemäß § 349
  11. Abs. 1 StPO beschlossen:
  12. Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts
  13. München I vom 29. April 1999 wird als unzulässig verworfen.
  14. Der Angeklagte trägt die Kosten seines Rechtsmittels und die der
  15. Nebenklägerin im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen
  16. Auslagen.
  17. Gründe:
  18. 1. Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags
  19. in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung unter Einbeziehung der Strafen
  20. aus einem früheren Urteil zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren drei
  21. Monaten und wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln zu einer weiteren Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt; daneben wurde die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt und die Sicherungsverwahrung angeordnet. Der Angeklagte hat unmittelbar nach der Verkündung
  22. des Urteils am 29. April 1999 nach Belehrung durch den Vorsitzenden und
  23. nach Rücksprache mit seinem Verteidiger erklärt, er nehme das Urteil an und
  24. verzichte auf Rechtsmittel. Am 4. Mai 1999 legte er jedoch zu Protokoll der Geschäftsstelle Revision ein und ließ sie durch seinen Verteidiger begründen. Zu
  25. dem erklärten Rechtsmittelverzicht macht er geltend, der Verzicht sei Gegenstand einer Absprache gewesen. Das Landgericht habe Zweifel gehabt, ob sich
  26. eine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt begründen lasse, da der dazu
  27. -3-
  28. gehörte Sachverständige Zweifel an der Erfolgsaussicht der Maßnahme geäußert habe. Der Vorsitzende habe die Verhängung der Maßnahme, die als im
  29. Interesse des Angeklagten liegend dargestellt wurde, davon abhängig gemacht, daß er einen Rechtsmittelverzicht zusage. Die Absprache sei unwirksam, weil sie außerhalb der Hauptverhandlung und ohne Mitwirkung der - weiteren - Berufsrichter und der Schöffen erfolgt sei; ferner sei die Absprache und
  30. ihr Ergebnis nicht in öffentlicher Hauptverhandlung erörtert worden.
  31. Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg. Die Revision war als unzulässig zu
  32. verwerfen, weil der Rechtsmittelverzicht wirksam ist.
  33. 2. Entgegen dem Vorbringen der Revision wurden sämtliche Berufsrichter und wohl auch die Schöffen an der Absprache beteiligt; denn in einer
  34. dienstlichen Erklärung der Berufsrichter wird hervorgehoben, der Verteidiger
  35. habe "die Kammer" aufgesucht. Die getroffene Absprache leidet hier indessen
  36. insoweit an einem Mangel, als das Ergebnis des geführten Gesprächs nicht in
  37. der Hauptverhandlung erörtert wurde.
  38. Zur Frage, wie sich verfahrensrechtliche Mängel einer Absprache auf einen damit zusammenhängenden Rechtsmittelverzicht auswirken, hat der
  39. 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs am 30. Juli 1997(NStZ 1997, 2691;
  40. ebenso BGHR StPO § 302 Abs. 1 Satz 1 Rechtsmittelverzicht 12) entschieden,
  41. die Unzulässigkeit einer Absprache berühre nicht die Wirksamkeit eines absprachegemäß erklärten Rechtsmittelverzichts. Eine andere Beurteilung käme
  42. nur in Betracht, wenn diejenigen Gründe, die allgemein oder im Einzelfall der
  43. Zulässigkeit einer solchen Absprache entgegenstehen, zugleich auch zur
  44. rechtlichen Mißbilligung des abgesprochenen Rechtsmittelverzichts führen
  45. würden. In späteren Entscheidungen zu ähnlich gelagerten Fällen haben der 5.
  46. und der 4. Strafsenat diese Grundsätze nicht in Frage gestellt, sind jedoch im
  47. -4-
  48. jeweils konkreten Fall zu einer Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts gekommen. Der 5. Strafsenat (NJW 1999, 2449, 2452) hat einen Rechtsmittelverzicht für unwirksam erklärt, weil die Führung der Verständigungsgespräche
  49. unter Verletzung der von der Rechtsprechung aufgestellten Verfahrensgrundsätze einen Dissens zwischen Gericht und Staatsanwaltschaft über die Reichweite des Angebots der Staatsanwaltschaft zur Folge hatte, der vom Angeklagten schwer durchschaubar war und bei ihm unrealistische Erwartungen
  50. erweckte. Im Falle des 4. Strafsenats (NStZ 2000, 98 - zur Veröffentlichung in
  51. BGHSt vorgesehen) war gleichfalls aufgrund nicht ordnungsgemäßer Verfahrensführung ein Dissens, hier zwischen Verteidigung und Angeklagtem auf der
  52. einen Seite, Gericht und Staatsanwaltschaft auf der anderen Seite, entstanden.
  53. Dadurch war das berechtigte und offengelegte Verteidigungsinteresse des Angeklagten benachteiligt, weil für den Verteidiger und den Angeklagten das Risiko, die prozessuale Lage falsch einzuschätzen, erhöht wurde.
  54. 3. Der 1. Strafsenat schließt sich den vom 2. Strafsenat festgelegten und
  55. vom 4. und 5. Strafsenat nicht infrage gestellten Grundsätzen zum Verhältnis
  56. von Absprache und Rechtsmittelverzicht an. Die Verletzung der für die Führung
  57. der Verhandlungsgespräche aufgestellten Vorgaben kann nur dann zur Unwirksamkeit eines abgesprochenen und tatsächlich erklärten Rechtsmittelverzichts führen, wenn der Verfahrensmangel zu einer unzulässigen Willensbeeinflussung bei Abgabe der Verzichtserklärung geführt hat. Der Angeklagte
  58. kann nämlich ungeachtet solcher Mängel seine Interessen unbeeinflußt und
  59. sachgerecht wahrgenommen haben. Es ist daher kein Grund erkennbar, warum
  60. sämtliche Verfahrensmängel im Zusammenhang mit einer Absprache zur Unwirksamkeit eines Rechtsmittelverzichts führen müßten. Entscheidend kann nur
  61. sein, ob eine unzulässige Beeinflussung der freien Willensbildung vorliegt. Ist
  62. das nicht der Fall, muß dem Angeklagten die Möglichkeit offenstehen, auch vor
  63. -5-
  64. Ablauf der Revisionseinlegungsfrist einen wirksamen Rechtsmittelverzicht zu
  65. erklären, etwa weil er mit dem gefundenen Ergebnis zufrieden ist oder weil er
  66. jedenfalls das Verfahren beendet sehen will.
  67. 4. Ob die angeführten Entscheidungen des 4. und 5. Strafsenats mit der
  68. Grundsatzentscheidung des 2. Strafsenats in allen Punkten übereinstimmen,
  69. ist angezweifelt worden (Weigend StV 2000, 63; Rieß NStZ 2000, 96), kann
  70. aber hier dahinstehen, denn im zu entscheidenden Fall liegt weder ein einen
  71. möglichen Irrtum des Angeklagten auslösender Dissens noch eine Verletzung
  72. seiner Verteidigungsinteressen vor.
  73. Auch wenn das Verständigungsgespräch nicht in jeder Hinsicht den vorgegebenen Regeln entsprach, war doch den Beteiligten klar, um was es ging.
  74. Das Landgericht hat auch so entschieden wie besprochen; ein Dissens scheidet daher aus und wird auch vom Angeklagten nicht behauptet. Im Ergebnis
  75. das gleiche gilt für eine mögliche Beeinträchtigung des Verteidigungsinteresses im Sinne der Entscheidung des 4. Strafsenats. Zwar wäre eine Absprache,
  76. in der das Gericht eine Rechtsfolge zusagt, die gesetzlich nicht vorgesehen ist
  77. oder deren Voraussetzungen nicht gegeben sind, unzulässig; daraus könnte
  78. sich auch unter Umständen eine unzulässige Willensbeeinflussung des Angeklagten bei seiner Entscheidung über den Rechtsmittelverzicht ergeben. Das
  79. wird aber vom Angeklagten nicht geltend gemacht und war auch nicht so. Das
  80. Landgericht hat dem Angeklagten und seinem Verteidiger offengelegt, daß die
  81. Erfolgsaussichten einer Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach den
  82. Ausführungen des Sachverständigen schlechter seien, als es nach seinem
  83. schriftlichen Gutachten zu erwarten war. In dieser Situation wurde ein Konsens
  84. dahin gefunden, die Unterbringung für den Fall der Zusage eines Rechtsmittelverzichts anzuordnen, wobei die Maßnahme von allen Beteiligten als "Chance"
  85. -6-
  86. für den Angeklagten eingestuft wurde. Ob eine solche Absprache den von der
  87. Rechtsprechung aufgestellten Grundsätzen entspricht, steht freilich nicht völlig
  88. außer Frage; jedenfalls führte sie nicht zu einer unzulässigen Willensbeeinflussung des Angeklagten, denn sie enthielt keine Aspekte der Drohung oder
  89. Täuschung, worin die Rechtsprechung allgemein den Grund sieht, aus dem ein
  90. Rechtsmittelverzicht unwirksam sein kann (vgl. Ruß in KK 4. Aufl. § 302
  91. Rdn. 13).
  92. Schäfer
  93. Maul
  94. Wahl
  95. Granderath
  96. Schluckebier