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1 year ago
  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. IM NAMEN DES VOLKES
  3. URTEIL
  4. 1 StR 442/07
  5. vom
  6. 20. November 2007
  7. in der Strafsache
  8. gegen
  9. wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern u.a.
  10. -2-
  11. Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 20. November
  12. 2007, an der teilgenommen haben:
  13. Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
  14. Nack
  15. und die Richter am Bundesgerichtshof
  16. Dr. Wahl,
  17. Dr. Boetticher,
  18. Dr. Kolz,
  19. Dr. Graf,
  20. Staatsanwalt
  21. als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
  22. Rechtsanwalt
  23. als Verteidiger,
  24. Rechtsanwalt
  25. als Vertreter des Nebenklägers S.
  26. der Nebenkläger
  27. S.
  28. ,
  29. persönlich,
  30. Rechtsanwalt
  31. als Vertreter des Nebenklägers M.
  32. ,
  33. Rechtsanwalt
  34. als Vertreter des Nebenklägers Ma.
  35. ,
  36. Justizangestellte
  37. als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
  38. für Recht erkannt:
  39. -3-
  40. 1. Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts München II vom 20. März 2007 wird verworfen.
  41. 2. Die Staatskasse trägt die Kosten des Rechtsmittels und die
  42. hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen des Angeklagten.
  43. Von Rechts wegen
  44. Gründe:
  45. 1
  46. Dem heute 54 Jahre alten, nicht vorbestraften Angeklagten liegt zur Last,
  47. in dem Zeitraum von 1995 bis 2006 zahlreiche Straftaten gegen die sexuelle
  48. Selbstbestimmung zum Nachteil von vier Jungen begangen zu haben. Nach
  49. den Feststellungen des Landgerichts führte er unter Ausnutzung von Vertrauensverhältnissen an den in den meisten Fällen unter 14 Jahre alten Jungen sexuelle Handlungen durch und ließ solche von den Jungen an sich vornehmen.
  50. In den überwiegenden Fällen handelte es sich um Oral- und/oder Analverkehr.
  51. Zum Teil stellte er Fotografien von den sexuellen Handlungen her und speicherte diese auf seinem Laptop. Das Landgericht hat ihn wegen
  52. - sexuellen Missbrauchs von Kindern in 156 tatmehrheitlichen Fällen
  53. - schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in 84 tatmehrheitlichen Fällen
  54. -4-
  55. - Verbreitung pornografischer Schriften
  56. - sexuellen Missbrauchs von Kindern in 100 tatmehrheitlichen Fällen
  57. - Verbreitung pornografischer Schriften in drei tatmehrheitlichen Fällen
  58. - sexuellen Missbrauchs von Jugendlichen
  59. - schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in zwei tatmehrheitlichen Fällen
  60. - Besitzes kinderpornografischer Schriften
  61. - sexuellen Missbrauchs von Kindern in zwei tatmehrheitlichen Fällen
  62. zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt. Vom Tatvorwurf der
  63. Vergewaltigung in 15 tatmehrheitlichen Fällen hat es ihn freigesprochen.
  64. 2
  65. Die Staatsanwaltschaft hat ihre zu Ungunsten des Angeklagten eingelegte und auf die Sachrüge gestützte Revision ausweislich der Revisionsbegründung auf den Teilfreispruch und die Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung
  66. beschränkt. Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.
  67. 3
  68. 1. Die Angriffe der Beschwerdeführerin gegen den Teilfreispruch sind
  69. unbegründet.
  70. 4
  71. Das Landgericht hat es nicht als erwiesen erachtet, dass der Angeklagte
  72. sein zwischen 14 und 15 Jahre altes Opfer
  73. B.
  74. in 15 Fällen
  75. unter Androhung von Schlägen zu sexuellen Handlungen veranlasst habe, obwohl der Angeklagte in dem über seinen Verteidiger abgegebenen - im Übrigen
  76. glaubhaften - Geständnis auch einräumte, entsprechende Äußerungen gemacht
  77. zu haben. Der Geschädigte B.
  78. berichtete jedoch weder von sich aus
  79. noch auf Nachfrage von Androhungen von Schlägen. Als Erklärung, warum er
  80. bei diesen sexuellen Handlungen mitgemacht habe, gab er nachvollziehbar an,
  81. das Modellfliegen und das Helfen bei Hausmeistertätigkeiten seien bei dem An-
  82. -5-
  83. geklagten interessant gewesen; er sei hierdurch "käuflich" gewesen. Der Angeklagte hatte zudem in allen sonstigen Fällen nicht mit Gewalt gedroht und gelegentlich sogar den Geschädigten B.
  84. nach Hause gefahren, wenn
  85. dieser bei den sexuellen Handlungen nicht mitmachen wollte (UA S. 9). Unter
  86. diesen Umständen konnte das Landgericht - zumal angesichts des eher pauschal gehaltenen Geständnisses des Angeklagten - rechtsfehlerfrei von verbleibenden Zweifeln am Vorliegen von Drohungen mit Gewalt ausgehen.
  87. Dass das Landgericht hinsichtlich des insoweit verbleibenden Sachver-
  88. 5
  89. halts eine Strafbarkeit auch wegen sexuellen Missbrauchs von Jugendlichen
  90. gemäß § 182 Abs. 1 Nr. 1 StGB verneint hat, ist ebenfalls nicht zu beanstanden. Die unter dem Gesichtspunkt "Ausnutzung einer Zwangslage" allein in Betracht kommenden Äußerungen des Angeklagten, er werde den Geschädigten
  91. B.
  92. oder seine Mutter "schlecht machen", reicht mangels jeglicher
  93. näherer Konkretisierung dieser Äußerung, um die die Kammer sich vergeblich
  94. bemüht hat, nicht aus.
  95. 6
  96. 2. Die Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung hält rechtlicher Nachprüfung stand.
  97. 7
  98. Als Grundlage für deren Anordnung kamen § 66 Abs. 2 StGB und § 66
  99. Abs. 3 Satz 2 StGB in Betracht. Nach beiden Bestimmungen liegt die Unterbringung im pflichtgemäßen Ermessen des Tatrichters.
  100. 8
  101. Bei der Ausübung des Ermessens ist der Tatrichter "strikt an die Wertund Zweckvorstellungen des Gesetzes" gebunden (BGH NStZ 1985, 261).
  102. Nach der Vorstellung des Gesetzgebers soll er die Möglichkeit haben, sich ungeachtet der festgestellten Gefährlichkeit des Täters zum Zeitpunkt der Urteilsfällung auf die Verhängung einer Freiheitsstrafe zu beschränken, sofern erwartet werden kann, dass sich dieser die Strafe hinreichend zur Warnung dienen
  103. -6-
  104. lässt. Damit kann der Tatrichter dem Ausnahmecharakter der beiden Vorschriften Rechnung tragen, der sich daraus ergibt, dass Abs. 2 und Abs. 3 Satz 2
  105. - im Gegensatz zu Abs. 1 und Abs. 3 Satz 1 - eine frühere Verurteilung und eine
  106. frühere Strafverbüßung des Täters nicht voraussetzen (vgl. Hanack in LK 11.
  107. Aufl. § 66 Rdn. 173, 50 f. unter Hinweis auf die Gesetzesmaterialien). Die Wirkungen eines langjährigen Strafvollzugs sowie die mit dem Fortschreiten des
  108. Lebensalters erfahrungsgemäß eintretenden Haltungsänderungen sind deshalb
  109. im Rahmen der § 66 Abs. 2, § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB wichtige Kriterien, die
  110. nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs im Rahmen der Ermessensentscheidung zu berücksichtigen sind (BGH NStZ 2004, 438 m.w.N.). Es besteht freilich keine Vermutung dafür, dass langjährige Strafverbüßung zu einer
  111. Verhaltensänderung führen wird. Die Entscheidung des Tatrichters ist (wie jede
  112. Prognose) vom Revisionsgericht nur im begrenzten Umfang nachprüfbar (BGH
  113. NStZ 2005, 211, 212).
  114. 9
  115. Gemessen an diesen Grundsätzen ist die Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falles
  116. rechtsfehlerfrei. Es liegt zwar eine lange Tatserie mit einer Vielzahl einzelner
  117. Taten zugrunde. Das Landgericht hat jedoch im Einzelnen dargelegt, dass der
  118. Angeklagte keine Erfahrung mit Vorverurteilungen hat, erst Recht nicht mit dem
  119. Vollzug einer Freiheitsstrafe, und dass die erstmalige Inhaftierung des sozial
  120. voll integrierten Angeklagten im Alter von 53 Jahren eine erhöhte Strafempfindlichkeit nahe legt. Er wird angesichts der langjährigen Gesamtfreiheitsstrafe
  121. auch bei einer vorzeitigen Entlassung knapp 60 Jahre alt sein. Ferner steht die
  122. von dem Sachverständigen bei dem Angeklagten diagnostizierte partielle Triebstörung einer günstigen Prognose hinsichtlich der Wiederholungsgefahr einschlägiger Taten nicht entgegen, auch wenn eine Therapie erforderlich ist (UA
  123. S. 19). Der Angeklagte ist in der Lage, langjährige sexuelle Beziehungen zu
  124. Frauen zu unterhalten, und hat auch während des Zeitraums der abgeurteilten
  125. -7-
  126. Taten nicht immer seine sexuellen Interessen durchgesetzt. So hat er bei Gelegenheiten wie einem gemeinsamen Urlaub mit einem der Geschädigten von
  127. sexuellen Handlungen abgesehen. Aus alldem konnte die Kammer die Erwartung ableiten, dass der Angeklagte nach seiner Entlassung keine vergleichbaren Taten mehr begehen wird. Sie hat sich dabei auf Gesichtspunkte gestützt,
  128. die über die bloße Möglichkeit künftiger Besserung oder die Hoffnung auf positive Veränderungen hinausgehen und eine Haltungsänderung durchaus erwarten lassen.
  129. 10
  130. Zu Unrecht stellt die Beschwerdeführerin eine positive Prognose im Hinblick auf das Aussageverhalten des Angeklagten in Frage, aus dem sie einen
  131. fehlenden Gesinnungswandel ableitet. Wenn der Angeklagte etwa erst nach
  132. umfangreichen Angaben von Belastungszeugen ein Geständnis abgelegt hat,
  133. so handelt es sich um ein zulässiges Verteidigungsverhalten, das nicht zum
  134. Nachteil des Angeklagten berücksichtigt werden darf (vgl. BGH, Beschl. vom
  135. 25. Juni 2002 - 5 StR 202/02 - m.w.N.).
  136. -8-
  137. 3. Mit der Möglichkeit der Anordnung der vorbehaltenen Sicherungsver-
  138. 11
  139. wahrung nach § 66a StGB setzt sich das angefochtene Urteil zu Recht nicht
  140. auseinander. § 66a StGB setzt voraus, dass eine erhebliche, nahe liegende
  141. Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass der Täter für die Allgemeinheit im Sinne
  142. von § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB gefährlich ist und dies auch zum Zeitpunkt einer
  143. möglichen Entlassung aus dem Strafvollzug sein wird (vgl. Tröndle/Fischer,
  144. StGB 54. Aufl. § 66a Rdn. 8). Diese zweite Voraussetzung ist hier nicht festgestellt.
  145. Nack
  146. Wahl
  147. Kolz
  148. Boetticher
  149. Graf