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1 year ago
  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. BESCHLUSS
  3. IV ZR 272/06
  4. vom
  5. 29. Oktober 2008
  6. in dem Rechtsstreit
  7. -2-
  8. Der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat durch den Vorsitzenden Richter Terno, die Richter Dr. Schlichting, Wendt, Felsch und
  9. Dr. Franke
  10. am 29. Oktober 2008
  11. beschlossen:
  12. Auf die Beschwerde des Klägers wird die Revision gegen
  13. das Urteil des 8. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Celle
  14. vom 12. Oktober 2006 zugelassen.
  15. Das vorbezeichnete Urteil wird gemäß § 544 Abs. 7 ZPO
  16. aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und
  17. Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
  18. Streitwert: 50.000 €
  19. Gründe:
  20. 1
  21. Das Berufungsgericht hat dem Kläger Deckungsschutz aus der bei
  22. der Beklagten gehaltenen Privathaftpflichtversicherung nach § 4 II Nr. 1
  23. Satz 1 der dem Versicherungsvertrag zugrunde liegenden Allgemeinen
  24. Haftpflichtversicherungsbedingungen (AHB) und § 152 VVG a.F. versagt,
  25. weil er die dem Zeugen S.
  26. mittels zweier körperlicher Angriffe zuge-
  27. fügten Verletzungen (u.a. Schultereckgelenkssprengung mit Abriss meh-
  28. -3-
  29. rerer Bänder, HWS-Distorsion, Becken- und Gesäßprellung) vorsätzlich
  30. herbeigeführt habe. Es hat dabei das Recht des Klägers auf rechtliches
  31. Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt, soweit sich dieser unter Beweisantritt darauf berufen hat, er habe den Geschädigten im Vollrausch, mithin
  32. in einem die freie Willensbetätigung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit i.S. von § 827 BGB angegriffen.
  33. 2
  34. 1. Der Kläger hatte behauptet, am 19. April 2003 gegen 19.00 Uhr
  35. das Osterfeuer in A.
  36. aufgesucht und fortan bis 23.30 Uhr stündlich
  37. fünf bis sechs, insgesamt ca. 25 Gläser Bier, ferner zahlreiche Schnäpse
  38. getrunken zu haben. Zum Beweis für diese Behauptung hatte er sich auf
  39. das Zeugnis seiner damaligen Begleiter, der Zeugen Wi.
  40. und W.
  41. , berufen. Er hatte weiter die Einholung eines Sachverständigengutachtens zum Beweis der Tatsache beantragt, dass der behauptete Alkoholkonsum bei ihm zu einem Vollrausch geführt habe.
  42. 3
  43. Die Vorinstanzen haben den beantragten Beweis nicht erhoben.
  44. 4
  45. Das Berufungsgericht hat dazu ausgeführt, da dem Kläger seinerzeit keine Blutprobe entnommen worden sei, stehe seine Blutalkoholkonzentration zur Tatzeit nicht fest. Die Rechtsprechung nehme eine alkoholbedingte Zurechnungsunfähigkeit etwa ab einem BAK-Wert von
  46. 3,0 Promille an. Entscheidend seien letztlich aber immer die Umstände
  47. des Einzelfalles. Gegen die Trinkmengenbehauptung oder aber für eine
  48. erhebliche Alkoholgewöhnung des Klägers spreche, dass er etwa eineinhalb Stunden vor den tätlichen Angriffen noch in der Lage gewesen sei,
  49. sich in einem Gespräch mit dem Geschädigten über seinen früheren Arbeitgeber zu unterhalten und sich dabei noch gut verständlich auszudrücken. Dass der Kläger nach diesem Gespräch noch besonders viel Alko-
  50. -4-
  51. hol getrunken habe, habe er selbst nicht behauptet. Die Tatausführung
  52. spreche gegen eine Zurechnungsunfähigkeit des Klägers. Er habe den
  53. Geschädigten auf dem Nachhauseweg verfolgt und ihn - jeweils gezielt
  54. und mit erheblicher Wucht - zweimal hintereinander angegriffen. Zwar sei
  55. er nach dem ersten Angriff infolge seiner Alkoholisierung zunächst am
  56. Boden liegen geblieben und habe dort auch unkontrolliert um sich geschlagen, weil er stark betrunken gewesen sei; er sei aber immerhin
  57. noch in der Lage gewesen, gegenüber dem Opfer den Satz "ich reiß dich
  58. nieder" zu äußern. Insgesamt könne das Verhalten des Klägers damit als
  59. willensgesteuert und logisch nachvollziehbar eingestuft werden.
  60. 5
  61. Für eine sachverständige Begutachtung der Trunkenheit des Klägers fehle es an verlässlichen Anknüpfungstatsachen. Der Kläger selbst
  62. berufe sich auf eine Amnesie (einen "Filmriss"); dass die von ihm benannten beiden Zeugen sich die gesamte Zeit über bei ihm befunden und
  63. seinen gesamten Alkoholkonsum beobachtet hätten, sei nicht ersichtlich
  64. und in Anbetracht des Ablaufs solcher Feste lebensfremd. Mithin sei offen, welche Menge Bier mit welchem Alkoholgehalt der Kläger getrunken
  65. habe, um welche Art Schnaps es sich gehandelt habe und in welcher genauen zeitlichen Abfolge der Alkohol konsumiert worden sei. Ferner sei
  66. über die körperliche Konstitution und eine mögliche Alkoholgewöhnung
  67. des Klägers nichts bekannt. Unbekannt sei schließlich auch, ob und inwieweit er am fraglichen Abend Nahrung zu sich genommen habe. Ergänzenden Vortrag des Klägers im Berufungsverfahren dazu, dass es
  68. sich jeweils um 0,3-Liter-Gläser Bier und beim fraglichen Schnaps um
  69. Apfelkorn gehandelt habe, hat das Berufungsgericht nach § 531 Abs. 2
  70. Ziff. 3 ZPO als verspätet zurückgewiesen.
  71. -5-
  72. 6
  73. 3. Das verletzt den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör.
  74. 7
  75. a) Die Vernehmung der beiden vom Kläger benannten Zeugen zu
  76. seinem Alkoholkonsum durfte nicht mit der Begründung verweigert werden, es sei nicht ersichtlich oder lebensfremd, dass die Zeugen die in ihr
  77. Wissen gestellten Beobachtungen gemacht hätten (vgl. dazu Zöller/Greger, ZPO 26. Aufl. vor § 284 Rdn. 10a m.w.N.). Darin liegt eine vorweggenommene Beweiswürdigung, die im Prozessrecht keine Stütze findet
  78. und Art. 103 Abs. 1 GG verletzt (vgl. Senatsbeschlüsse vom 30. Januar
  79. 2008 - IV ZR 9/06 - VersR 2008, 659 unter Tz. 3; vom 21. November
  80. 2007 - IV ZR 129/05 - VersR 2008, 382 unter Tz. 2; BVerfG NJW-RR
  81. 2001, 1006, 1007). Dafür, dass der Beweisantritt "ins Blaue hinein" erfolgt wäre, ist nichts ersichtlich. Vielmehr deuten zahlreiche Indizien,
  82. insbesondere auch die Aussagen des Geschädigten und seiner Verlobten, darauf hin, dass der Kläger am fraglichen Abend erheblich betrunken war und deutliche alkoholbedingte Ausfallerscheinungen gezeigt hatte. Ob und inwieweit die vom Kläger benannten Zeugen in der Lage waren, Beobachtungen zu seinem Trinkverhalten zu machen und zu erinnern, wäre erst durch die Vernehmung der Zeugen und die daran anschließende Würdigung ihrer Aussagen zu klären gewesen.
  83. 8
  84. b) Der Beweisantritt war auch nicht deswegen unbeachtlich, weil
  85. der Kläger zunächst nicht ausreichend konkrete Tatsachenbehauptungen
  86. aufgestellt hatte. Zwar hatte er weder die von ihm konsumierte Bier- und
  87. Schnapssorte oder wenigstens deren jeweiligen Alkoholgehalt noch die
  88. Größe der benutzten Gläser angegeben, so dass aufgrund der von ihm
  89. zunächst unter Beweis gestellten Behauptungen ein ausreichender
  90. Überblick über die aufgenommene Alkoholmenge nicht ohne Weiteres zu
  91. gewinnen war. Andererseits wären aber diese offenen Fragen durch ei-
  92. -6-
  93. nen entsprechenden gerichtlichen Hinweis oder auch eine Frage an die
  94. benannten Zeugen einfach zu klären gewesen.
  95. 9
  96. aa) Nach § 139 Abs. 1 Satz 2 ZPO hat das Gericht dahin zu wirken, dass sich die Parteien rechtzeitig und vollständig über alle erheblichen Tatsachen erklären und insbesondere auch Angaben zu geltend
  97. gemachten Tatsachen ergänzen und die sachdienlichen Anträge stellen.
  98. Beantragt eine Partei - wie hier - die Einholung eines Sachverständigengutachtens und stellt sie dazu Anknüpfungstatsachen unter Zeugenbeweis, so muss das Gericht jedenfalls dann durch einen Hinweis nach
  99. § 139 Abs. 1 Satz 2 ZPO auf Ergänzung des Tatsachenvortrags hinwirken, wenn es der Auffassung ist, die unter Beweis gestellten Anknüpfungstatsachen seien zu unbestimmt (vgl. dazu Thomas/Putzo/Reichold,
  100. ZPO 29. Aufl. § 139 Rdn. 8) und reichten deshalb für die Erstellung des
  101. Gutachtens nicht aus. Einen solchen Hinweis hatten hier weder das
  102. Landgericht noch das Berufungsgericht erteilt.
  103. 10
  104. bb) Der Kläger wurde stattdessen erstmals durch die Berufungserwiderung der Beklagten vom 25. Juli 2006 darauf aufmerksam gemacht,
  105. dass seine unter Beweis gestellten Trinkmengenangaben unvollständig
  106. waren. Er hat daraufhin seinen Beweisantritt mit Schriftsatz seiner Prozessbevollmächtigten vom 4. September 2006 dahin ergänzt, dass er
  107. das Bier aus 0,3-Liter-Gläsern und im Übrigen Apfelkorn getrunken habe.
  108. 11
  109. Diesen Vortrag hätte das Berufungsgericht nicht - wie geschehen nach § 531 Abs. 2 Nr. 3 ZPO als verspätet zurückweisen dürfen; das ist
  110. dann nicht zulässig, wenn die Verspätung des Vortrages auf einem Verfahrensfehler des Gerichts - hier dem sowohl vom Landgericht als auch
  111. vom Berufungsgericht unterlassenen Hinweis nach § 139 Abs. 1 Satz 2
  112. -7-
  113. ZPO - beruht (vgl. dazu auch BGH, Urteile vom 14. Oktober 2004 - VII
  114. ZR 180/03 - NJW-RR 2005, 213 unter II; vom 15. März 1990 - VII ZR
  115. 61/89 - NJW-RR 1990, 856 unter II 2 a).
  116. 12
  117. cc) Der Senat kann nicht ausschließen, dass das Berufungsgericht, hätte es den ergänzenden Vortrag des Klägers berücksichtigt, davon ausgegangen wäre, dass bei Erweis der unter Zeugenbeweis gestellten Trinkmengenangaben ausreichende Anknüpfungstatsachen für das
  118. beantragte Sachverständigengutachten vorgelegen hätten. Zwar hatte
  119. sich der Kläger weiterhin nicht zum Alkoholgehalt der von ihm konsumierten Getränke, zu seiner körperlichen Konstitution und Alkoholgewöhnung geäußert, insoweit stehen aber Tatsachen in Rede, die ein
  120. Sachverständiger für Blutalkoholbestimmung regelmäßig unschwer aufgrund seiner Erfahrungswerte ermitteln kann. Das gilt insbesondere auch
  121. für die Frage der Alkoholgewöhnung, weil sich hierzu besonders bei hohen Alkoholisierungsgraden aus dem verbliebenen psychischen und motorischen Leistungsvermögen des Probanden Rückschlüsse ergeben.
  122. 13
  123. 4. Die Ermittlung der vom Kläger erreichten Blutalkoholkonzentration war auch nicht deshalb entbehrlich, weil sich anhand der Gesamtschau aller wesentlichen objektiven und subjektiven Tatumstände ein
  124. Vollrausch des Klägers ohnehin sicher ausschließen ließe. Zwar ist die
  125. Blutalkoholkonzentration nicht das allein maßgebliche oder vorrangige
  126. Beweisanzeichen für das Vorliegen eines alkoholbedingten, die freie Willensbetätigung ausschließenden Zustandes krankhafter Störung der
  127. Geistestätigkeit i.S. von § 827 BGB. Es gibt insbesondere keinen
  128. Rechts- oder Erfahrungssatz, wonach ab einer bestimmten Höhe der
  129. Blutalkoholkonzentration regelmäßig bestimmte Beeinträchtigungsgrade
  130. vorliegen (vgl. zu § 21 StGB: BGH, Urteil vom 22. Oktober 2004 - 1 StR
  131. -8-
  132. 248/04 - NStZ 2005, 329 unter 3 a). Vielmehr können aussagekräftige
  133. psychodiagnostische Beweisanzeichen im Einzelfall selbst bei hohen Alkoholisierungsgraden der Annahme einer krankhaften Störung der Geistestätigkeit i.S. von § 827 BGB entgegenstehen. Umgekehrt gewinnt der
  134. Beweiswert der Blutalkoholkonzentration aber dort an Gewicht, wo solche anderweitigen Beweisanzeichen weitgehend fehlen.
  135. 14
  136. So liegt der Fall hier. Anders als das Berufungsgericht meint, kann
  137. weder dem Umstand, dass der Kläger etwa eineinhalb Stunden vor den
  138. Angriffen auf den Geschädigten noch in der Lage war, mit diesem ein
  139. verständliches Gespräch zu führen und dabei gerade zu stehen, noch
  140. der eigentlichen Tatausführung und dem Umstand, dass er beim zweiten
  141. Angriff auf den Geschädigten den Satz "ich reiß dich nieder" hervorbrachte, ausreichend sicher entnommen werden, dass der Kläger nicht
  142. im Vollrausch handelte. Die Gesamtwürdigung des Berufungsgerichts
  143. lässt wesentliche Fallumstände außer Acht und erscheint insgesamt lückenhaft. Sie begründet im Übrigen die Besorgnis, dass das Berufungsgericht ohne sachverständige Hilfe und auch ausreichende eigene Sachkunde einzelnen wenigen psychodiagnostischen Beweisanzeichen eine
  144. zu große Aussagekraft beigemessen hat.
  145. 15
  146. Sowohl der Geschädigte als auch dessen Verlobte haben übereinstimmend davon berichtet, dass der Kläger schon bei dem Gespräch eineinhalb Stunden vor den Angriffen, welches sich in einer Beschimpfung
  147. des früheren Arbeitgebers des Klägers erschöpfte, einen stark alkoholisierten Eindruck machte, mag er zu diesem Zeitpunkt auch noch gerade
  148. gestanden haben. Jedenfalls die Verlobte des Geschädigten will schon
  149. zu diesem Zeitpunkt bemerkt haben, dass der Kläger Sprachschwierigkeiten zeigte ("lallte"). Diese vom Berufungsgericht nicht erwähnte Beob-
  150. -9-
  151. achtung deutet bereits auf erhebliche alkoholbedingte Ausfallerscheinungen hin und steht nicht notwendigerweise im Widerspruch dazu, dass
  152. der Geschädigte selbst den Kläger noch gut verstehen konnte. Die Annahme des Berufungsgerichts, der Kläger selbst habe nicht behauptet,
  153. nach diesem Gespräch bis zum Angriff auf den Geschädigten noch besonders viel Alkohol getrunken zu haben, findet in den Akten keine Stütze. Nach der Behauptung des Klägers hat er stündlich bis zu sechs Gläser Bier, ferner unbekannte Mengen an Apfelkorn getrunken. Das bedeutet, dass er in den verbleibenden ca. 90 Minuten seit dem Gespräch noch
  154. ca. acht bis neun weitere Gläser Bier und auch Apfelkorn getrunken haben will. Für einen ohnehin schon stark alkoholisierten Menschen ist das
  155. ein erheblicher weiterer Alkoholkonsum.
  156. 16
  157. Die Einschätzung des Berufungsgerichts, die Tatausführung selbst
  158. spreche gegen eine Zurechnungsunfähigkeit des Klägers, weil dieser
  159. den Geschädigten auf dem Nachhauseweg verfolgt und zweimal massiv
  160. und erfolgreich von hinten attackiert habe, vermag deshalb nicht zu
  161. überzeugen, weil sie außer Acht lässt, dass ein nachvollziehbares Motiv
  162. für das äußerst aggressive Verhalten des Klägers nicht ersichtlich ist und
  163. er - obwohl selbst unverletzt - nach beiden Angriffen zunächst am Boden
  164. liegen blieb, im ersten Falle dort wild und unmotiviert um sich schlagend,
  165. weil er - wie das Berufungsgericht selbst feststellt - stark betrunken war.
  166. Dass das Berufungsgericht in alldem dennoch ein willensgesteuertes,
  167. "logisch nachvollziehbares" Verhalten erkennen will, erschließt sich auch
  168. nicht ohne Weiteres daraus, dass der Kläger noch imstande war, den
  169. Satz "ich reiß dich nieder" zu sprechen.
  170. 17
  171. Es kommt hinzu, dass das Berufungsgericht, wie seine Darlegungen zur Schwierigkeit der Ermittlung von Anknüpfungstatsachen für eine
  172. - 10 -
  173. Begutachtung zeigen, dem Kläger offensichtlich geglaubt hat, dass er an
  174. das Geschehen keine genaue Erinnerung mehr habe. Inwieweit diese
  175. Amnesie auch für das Vorliegen eines Vollrausches sprechen kann, hat
  176. das Berufungsgericht aber nicht geprüft.
  177. Terno
  178. Dr. Schlichting
  179. Felsch
  180. Wendt
  181. Dr. Franke
  182. Vorinstanzen:
  183. LG Hannover, Entscheidung vom 21.04.2006 - 8 O 292/05 OLG Celle, Entscheidung vom 12.10.2006 - 8 U 130/06 -