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1 year ago
  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. BESCHLUSS
  3. XII ZB 202/13
  4. vom
  5. 17. September 2014
  6. in der Betreuungssache
  7. Nachschlagewerk:
  8. ja
  9. BGHZ:
  10. ja
  11. BGHR:
  12. ja
  13. BGB §§ 1901 a, 1904 BGB
  14. a) Der Abbruch einer lebenserhaltenden Maßnahme bedarf dann nicht der betreuungsgerichtlichen Genehmigung nach § 1904 Abs. 2 BGB, wenn der Betroffene einen entsprechenden eigenen Willen bereits in einer wirksamen Patientenverfügung (§ 1901 a Abs. 1 BGB) niedergelegt hat und diese auf die
  15. konkret eingetretene Lebens- und Behandlungssituation zutrifft. Im Übrigen
  16. differenziert § 1901 a Abs. 2 Satz 1 BGB zwischen den Behandlungswünschen einerseits und dem mutmaßlichen Willen des Betroffenen andererseits.
  17. b) Das Vorliegen einer Grunderkrankung mit einem "irreversibel tödlichen Verlauf" ist nicht Voraussetzung für den zulässigen Abbruch lebenserhaltender
  18. Maßnahmen. Für die Verbindlichkeit des tatsächlichen oder mutmaßlichen
  19. Willens eines aktuell einwilligungsunfähigen Betroffenen kommt es nicht auf
  20. die Art und das Stadium der Erkrankung an (§ 1901 a Abs. 3 BGB).
  21. c) Für die Feststellung des behandlungsbezogenen Patientenwillens gelten
  22. strenge Beweismaßstäbe, die der hohen Bedeutung der betroffenen Rechtsgüter Rechnung zu tragen haben. Dabei ist nicht danach zu differenzieren,
  23. ob der Tod des Betroffenen unmittelbar bevorsteht oder nicht (Abgrenzung
  24. zu Senatsbeschluss BGHZ 154, 205 = FamRZ 2003, 748).
  25. BGH, Beschluss vom 17. September 2014 - XII ZB 202/13 - LG Chemnitz
  26. AG Stollberg
  27. -2-
  28. Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 17. September 2014 durch
  29. den Vorsitzenden Richter Dose und die Richter Schilling, Dr. Günter,
  30. Dr. Nedden-Boeger und Dr. Botur
  31. beschlossen:
  32. Auf die Rechtsbeschwerde der weiteren Beteiligten zu 2 und zu 3
  33. wird der Beschluss der 3. Zivilkammer des Landgerichts Chemnitz
  34. vom 11. März 2013 aufgehoben.
  35. Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch
  36. über die außergerichtlichen Kosten der Rechtsbeschwerde, an
  37. das Landgericht zurückverwiesen.
  38. Das Verfahren der Rechtsbeschwerde ist gerichtsgebührenfrei
  39. (§ 131 Abs. 5 Satz 2 KostO).
  40. Verfahrenswert: 3.000 €
  41. Gründe:
  42. I.
  43. 1
  44. Das Verfahren betrifft die betreuungsgerichtliche Genehmigung der Einwilligung des Betreuers in den Abbruch der künstlichen Ernährung einer einwilligungsunfähigen Betroffenen.
  45. 2
  46. Die 1963 geborene Betroffene erlitt am 18. September 2009 eine Gehirnblutung mit der Folge eines apallischen Syndroms im Sinne eines Wachko-
  47. -3-
  48. mas. Sie wird über eine PEG-Magensonde ernährt; eine Kontaktaufnahme mit
  49. ihr ist nicht möglich.
  50. 3
  51. Mit Beschluss vom 22. September 2009 bestellte das Amtsgericht den
  52. Ehemann und die Tochter der Betroffenen, die Beteiligten zu 2 und 3 (im Folgenden: Betreuer) im Wege der einstweiligen Anordnung zu deren Betreuern
  53. unter anderem für die Aufgabenkreise Gesundheits- und Vermögenssorge und
  54. die Vertretung gegenüber Ämtern und Behörden. Die Betreuung wurde mit Beschluss vom 12. April 2010 mit einer Überprüfungsfrist zum 1. April 2017 auch
  55. in der Hauptsache angeordnet. Am 27. Juli 2010 beantragten die Betreuer,
  56. ihnen zu genehmigen, in weitere lebenserhaltende ärztliche Maßnahmen nicht
  57. mehr einzuwilligen bzw. ihre Einwilligung in die Fortführung lebenserhaltender
  58. Maßnahmen zu widerrufen bzw. die Genehmigung zur Einstellung der künstlichen Ernährung zu erteilen. Am 29. September 2011 und am 15. Februar 2012
  59. wiederholten sie diese Anträge und beantragten weiter hilfsweise festzustellen,
  60. dass die Einstellung der künstlichen Ernährung gemäß § 1904 Abs. 4 BGB
  61. nicht genehmigungsbedürftig sei. Mit der behandelnden Ärztin der Betroffenen
  62. bestehe Einvernehmen darüber, dass die Einstellung der künstlichen Ernährung
  63. dem Willen der Betroffenen entspreche.
  64. 4
  65. Das Amtsgericht hat den Antrag und den Hilfsantrag abgelehnt. Das
  66. Landgericht hat die Beschwerde der Betreuer zurückgewiesen. Hiergegen richtet sich ihre zugelassene Rechtsbeschwerde.
  67. -4-
  68. II.
  69. 5
  70. Die Rechtsbeschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das Landgericht.
  71. 6
  72. 1. Das Landgericht hat zur Begründung ausgeführt, es habe nicht zweifelsfrei festgestellt werden können, dass die Betroffene eine Einstellung der
  73. künstlichen Ernährung im hier vorliegenden Fall gewollt hätte. In der Entscheidung, die künstliche Ernährung über die PEG-Magensonde einzustellen, liege
  74. ein Widerruf der früheren Einwilligung der Betreuer in die Behandlung und eine
  75. Verweigerung der Zustimmung in die hierauf gerichtete Behandlung. Die Genehmigung zur Nichteinwilligung oder zum Widerruf der Einwilligung in einen
  76. ärztlichen Eingriff durch die Betreuer sei nach § 1904 Abs. 3 BGB zu erteilen,
  77. wenn dies dem Willen des Betreuten entspreche. In einem Fall, in dem - wie
  78. hier - keine Patientenverfügung vorliege, habe der Betreuer den mutmaßlichen
  79. Willen des Betroffenen festzustellen und auf dieser Grundlage zu entscheiden.
  80. An die Annahme des mutmaßlichen Willens seien erhöhte Anforderungen zu
  81. stellen, wenn zwar das Grundleiden des Betroffenen unumkehrbar sei und einen tödlichen Verlauf angenommen habe, aber der Tod nicht unmittelbar bevorstehe.
  82. 7
  83. Auf der Grundlage des im Beschwerdeverfahren eingeholten Sachverständigengutachtens sei festzustellen, dass das Leiden der Betroffenen einen
  84. irreversiblen tödlichen Verlauf angenommen habe, ohne dass ihr Tod in kurzer
  85. Zeit bevorstehe. Da eine Kommunikation mit der Betroffenen aufgrund ihrer Erkrankung nicht möglich sei, sei für die vorliegend zu treffende Entscheidung auf
  86. ihren mutmaßlichen Willen abzustellen. Die Betreuer und die im Beschwerdeverfahren vernommenen Zeuginnen - die Mutter, die Schwester und die Freun-
  87. -5-
  88. din der Betroffenen - hätten grundsätzlich übereinstimmend und auch plausibel
  89. und nachvollziehbar berichtet, dass die Betroffene in der Vergangenheit mehrfach geäußert habe, keine lebenserhaltenden Maßnahmen in Anspruch nehmen, sondern für immer einschlafen zu wollen, wenn sie im Koma liege, ihren
  90. Willen nicht mehr äußern und am Leben nicht mehr aktiv teilnehmen könne. Der
  91. als Betreuer eingesetzte Ehemann der Betroffenen habe zudem dargetan, dass
  92. noch im September 2009 entsprechende Formulare für eine Patientenverfügung zu Hause gelegen hätten, man aber keine Zeit mehr gefunden habe, diese auszufüllen.
  93. 8
  94. Es sei offenbar geworden, dass sich die Betroffene in der Vergangenheit
  95. bereits ernsthaft mit dieser Thematik auseinandergesetzt habe. Anlass hierfür
  96. sei meistens eine schwere Erkrankung Dritter gewesen, etwa die der Eltern der
  97. Betroffenen, der Nichte ihrer Freundin und weiterer fremder Personen, die aufgrund einer schweren Erkrankung auf einen (Liege-)Rollstuhl angewiesen gewesen seien. Auch wenn diese Meinungsäußerungen der Betroffenen sehr
  98. ernst zu nehmen seien, hätten sie gleichwohl nicht die Qualität und Tiefe von
  99. Erklärungen, die im Rahmen einer Patientenverfügung abgegeben werden.
  100. Soweit sich die Betroffene anlässlich der schweren Erkrankung ihres Vaters,
  101. der 2001 kurzzeitig ins Koma gefallen und sodann im Alter von 72 Jahren verstorben sei, zur Frage von lebenserhaltenden Maßnahmen geäußert habe, sei
  102. diese Situation mit der der Betroffenen nicht vergleichbar. Beim Vater der Betroffenen habe Todesnähe bestanden; zudem sei er wesentlich älter gewesen
  103. als die Betroffene. Den Äußerungen der Betroffenen anlässlich schwerer
  104. Schicksalsschläge Dritter komme nicht die Wertigkeit einer konkreten Selbstbestimmtheit für die Beendigung lebensverlängernder Maßnahmen beim Eintritt
  105. der jetzigen Situation zu. Die Freundin der Betroffenen habe dargelegt, dass die
  106. Frage, ob ein Anschluss an lebenserhaltende Geräte in jedem Fall ausgeschlossen werden solle oder nur, wenn es keine Chance auf Genesung und ein
  107. -6-
  108. Wiedererwachen gebe, zwischen ihr und der Betroffenen nicht erörtert worden
  109. sei.
  110. 9
  111. Der Ehemann der Betroffenen habe erklärt, dass die Betroffene keine lebenserhaltenden Maßnahmen gewollt habe, falls sie sich in einem Zustand des
  112. Leidens und der Qual befinde. Das Gericht habe jedoch nicht den Eindruck gewonnen, dass der derzeitige Zustand von der Betroffenen selbst als leidvoll
  113. oder quälend empfunden werde. Es habe daher nicht zweifelsfrei festgestellt
  114. werden können, ob für die Betroffene in der aktuell bestehenden Lebens- und
  115. Behandlungssituation lebenserhaltende Maßnahmen akzeptabel gewesen wären oder ob sie diese abgebrochen hätte. Gegen die Annahme, dass sich die
  116. Betroffene zu der hier relevanten Lebenssituation konkret und verbindlich positioniert haben könnte, spreche zudem der Umstand, dass mit dem Ehemann
  117. noch nicht tiefergehend darüber gesprochen worden sei, welches konkrete
  118. Formular der Entwürfe von Patientenverfügungen gewählt werden sollte.
  119. 10
  120. 2. Diese Ausführungen halten nicht in allen Punkten der rechtlichen
  121. Überprüfung stand.
  122. 11
  123. a) Zutreffend ist das Beschwerdegericht zunächst davon ausgegangen,
  124. dass im vorliegenden Fall die von den Betreuern beabsichtigte Einwilligung in
  125. den Abbruch der künstlichen Ernährung der einwilligungsunfähigen Betroffenen
  126. nach § 1904 Abs. 2 BGB der betreuungsgerichtlichen Genehmigung bedarf.
  127. Denn es liegt weder eine wirksame Patientenverfügung gemäß § 1901 a Abs. 1
  128. BGB vor noch besteht zwischen den Betreuern und dem behandelnden Arzt
  129. Einvernehmen darüber, dass die Nichterteilung oder der Widerruf der Einwilligung dem nach § 1901 a BGB festgestellten Willen der Betroffenen entspricht
  130. (§ 1904 Abs. 4 BGB).
  131. -7-
  132. 12
  133. aa) Gemäß § 1904 Abs. 2 BGB bedarf die Nichteinwilligung oder der Widerruf der Einwilligung des Betreuers in einen ärztlichen Eingriff der Genehmigung des Betreuungsgerichts, wenn die Maßnahme medizinisch angezeigt ist
  134. und die begründete Gefahr besteht, dass der Betreute auf Grund des Abbruchs
  135. der Maßnahme stirbt. Die Vorschrift ist Bestandteil einer umfassenden betreuungsrechtlichen Neuregelung einer am Patientenwillen orientierten Behandlungsbegrenzung durch das Dritte Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts
  136. vom 29. Juli 2009 (BGBl. I S. 2286) - so genanntes Patientenverfügungsgesetz.
  137. Das am 1. September 2009 in Kraft getretene Gesetz führt erstmals eine gesetzliche Regelung zur Genehmigungspflicht von Entscheidungen des Betreuers ein, wenn dieser in bestimmte medizinisch angezeigte Maßnahmen entsprechend dem Willen des Betroffenen nicht einwilligen oder eine früher erteilte
  138. Einwilligung widerrufen will (§ 1904 Abs. 2 bis 4 BGB). Zutreffend ist das Beschwerdegericht davon ausgegangen, dass der Widerruf der Einwilligung in die
  139. mit Hilfe einer PEG-Magensonde ermöglichte künstliche Ernährung vom Anwendungsbereich der Vorschrift erfasst wird und grundsätzlich der betreuungsgerichtlichen Genehmigung bedarf, wenn - wie hier - durch den Abbruch der
  140. Maßnahme die Gefahr des Todes droht (NK-BGB/Heitmann 3. Aufl. § 1904
  141. Rn. 16; vgl. auch Senatsbeschluss BGHZ 154, 205 = FamRZ 2003, 748, 750).
  142. 13
  143. bb) Der Abbruch einer lebenserhaltenden Maßnahme bedarf jedoch
  144. dann nicht der betreuungsgerichtlichen Genehmigung nach § 1904 Abs. 2 BGB,
  145. wenn der Betroffene einen entsprechenden eigenen Willen bereits in einer wirksamen Patientenverfügung (§ 1901 a Abs. 1 BGB) niedergelegt hat und diese
  146. auf die konkret eingetretene Lebens- und Behandlungssituation zutrifft.
  147. 14
  148. Nach der Legaldefinition des § 1901 a Abs. 1 BGB ist eine Patientenverfügung eine schriftliche Willensbekundung eines einwilligungsfähigen Volljährigen, mit der er Entscheidungen über die Einwilligung oder Nichteinwilligung in
  149. -8-
  150. noch nicht unmittelbar bevorstehende ärztliche Maßnahmen für den Fall der
  151. späteren Einwilligungsunfähigkeit trifft. Enthält die schriftliche Patientenverfügung eine Entscheidung über die Einwilligung oder Nichteinwilligung in bestimmte ärztliche Maßnahmen, die auf die konkret eingetretene Lebens- und
  152. Behandlungssituation zutrifft, ist eine Einwilligung des Betreuers, die dem betreuungsgerichtlichen Genehmigungserfordernis unterfällt, in die Maßnahme
  153. nicht erforderlich, da der Betroffene diese Entscheidung selbst in einer alle Beteiligten bindenden Weise getroffen hat (BT-Drucks. 16/8442 S. 14; BGHZ 154,
  154. 205 = FamRZ 2003, 748, 750; Palandt/Götz BGB 73. Aufl. § 1901 a Rn. 2;
  155. Bienwald/Sonnenfeld/Hoffmann Betreuungsrecht 5. Aufl. § 1901 a BGB Rn. 50;
  156. HK-BUR/Bauer [Stand: Juli 2011] § 1901 a BGB Rn. 27 f.; a.A. Erman/Roth
  157. BGB 13. Aufl. § 1901 a BGB Rn. 8; Albrecht/Albrecht MittBayNot 2009, 426,
  158. 432 f.). Dem Betreuer obliegt es in diesem Fall nur noch, dem in der Patientenverfügung niedergelegten Willen des Betroffenen Ausdruck und Geltung zu verschaffen (§ 1901 a Abs. 1 Satz 2 BGB).
  159. 15
  160. Das Genehmigungserfordernis des § 1904 Abs. 2 BGB greift indes ein,
  161. wenn nicht sämtliche Voraussetzungen einer wirksamen Patientenverfügung
  162. nach § 1901 a Abs. 1 BGB vorliegen oder die Patientenverfügung nicht auf die
  163. konkret eingetretene Lebens- und Behandlungssituation zutrifft. Da in diesem
  164. Fall der Willensbekundung des Betreuten keine unmittelbare Bindungswirkung
  165. zukommt (BT-Drucks. 16/8442 S. 11; vgl. auch BeckOK BGB/G. Müller
  166. § 1901 a Rn. 23; Palandt/Götz BGB 73. Aufl. § 1901 a Rn. 17), hat der Betreuer
  167. nach § 1901 a Abs. 2 BGB die Entscheidung über die Einwilligung oder Nichteinwilligung in eine anstehende ärztliche Maßnahme zu treffen, wobei er den
  168. Behandlungswünschen oder dem mutmaßlichen Willen des Betroffenen Geltung zu verschaffen hat. Entschließt sich der Betreuer danach, in den Abbruch
  169. lebenserhaltender Maßnahmen einzuwilligen, bedarf diese Entscheidung
  170. -9-
  171. - vorbehaltlich der Regelung in § 1904 Abs. 4 BGB - der Genehmigung durch
  172. das Betreuungsgericht.
  173. 16
  174. Im vorliegenden Fall hat die Betroffene nach den vom Beschwerdegericht getroffenen Feststellungen eine den formellen Anforderungen des
  175. § 1901 a Abs. 1 BGB genügende schriftliche Patientenverfügung nicht erstellt.
  176. Die Betroffene und ihr Ehemann hatten sich zwar noch im September 2009 entsprechende Formulare für eine Patientenverfügung beschafft. Diese wurden
  177. jedoch nicht mehr ausgefüllt.
  178. 17
  179. cc) Eine betreuungsgerichtliche Genehmigung der Entscheidung des Betreuers ist gemäß § 1904 Abs. 4 BGB dann nicht erforderlich, wenn zwischen
  180. diesem und dem behandelnden Arzt Einvernehmen darüber besteht, dass die
  181. Nichterteilung oder der Widerruf der Einwilligung dem nach § 1901 a BGB festgestellten Willen des Betreuten entspricht.
  182. 18
  183. (1) In § 1901 b BGB findet sich nunmehr eine klarstellende gesetzliche
  184. Regelung des zur Ermittlung des Patientenwillens erforderlichen Gesprächs
  185. zwischen dem behandelnden Arzt und dem Betreuer. Liegt eine schriftliche Patientenverfügung im Sinne des § 1901 a Abs. 1 BGB vor und besteht Einvernehmen zwischen dem Betreuer und dem behandelnden Arzt darüber, dass
  186. deren Festlegungen auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zutreffen, ist eine betreuungsgerichtliche Genehmigung bereits deshalb entbehrlich,
  187. weil es wegen des Fortwirkens der eigenen Entscheidung des Betroffenen keiner Nichteinwilligung und keines Widerrufs der Einwilligung in die ärztliche
  188. Maßnahme durch den Betreuer bedarf (BT-Drucks. 16/8442 S. 11). Für den Fall
  189. des Nichtvorliegens einer bindenden Patientenverfügung kommt es auf die Behandlungswünsche oder den mutmaßlichen Willen des Betroffenen gemäß
  190. § 1901 a Abs. 2 BGB an. Soweit der Betreuer und der behandelnde Arzt Ein-
  191. - 10 -
  192. vernehmen darüber erzielen können, dass die Erteilung, die Nichterteilung oder
  193. der Widerruf der Einwilligung dem nach § 1901 a Abs. 2 BGB festgestellten Willen des Betroffenen entsprechen, werden die Entscheidungen des Betreuers
  194. nach § 1904 Abs. 4 BGB von der Genehmigungspflicht des Betreuungsgerichts
  195. ausgenommen (BT-Drucks. 16/8442 S. 18; vgl. auch BGHSt 55, 191 = FamRZ
  196. 2010, 1551 Rn. 17 sowie Bienwald/Sonnenfeld/Hoffmann Betreuungsrecht
  197. 5. Aufl. § 1904 BGB Rn. 137; Jurgeleit/Kieß Betreuungsrecht 3. Aufl. § 1904
  198. BGB Rn. 97; Palandt/Götz BGB 73. Aufl. § 1904 Rn. 22; HK-BUR/Bauer [Stand:
  199. Juni 2013] § 1904 BGB Rn. 96; a.A. BtKomm/Roth E Rn. 24, demzufolge eine
  200. gerichtliche Genehmigung auch dann erforderlich ist, wenn Arzt und Betreuer
  201. übereinstimmend von einem mutmaßlichen Willen des Betroffenen ausgehen).
  202. Damit soll nach dem Willen des Gesetzgebers sichergestellt sein, dass eine
  203. gerichtliche Genehmigung nur in Konfliktfällen erforderlich ist. Liegt kein Verdacht auf einen Missbrauch vor, soll die Umsetzung des Patientenwillens nicht
  204. durch ein sich gegebenenfalls durch mehrere Instanzen hinziehendes betreuungsgerichtliches Verfahren belastet werden. Die Durchsetzung des Patientenwillens würde erheblich verzögert oder unmöglich gemacht, da für die Dauer
  205. des Verfahrens die in Rede stehenden ärztlichen Maßnahmen in der Regel
  206. fortgeführt werden müssten und damit gegebenenfalls massiv in das Selbstbestimmungsrecht des Betroffenen eingegriffen wird. Dem Schutz des Patienten
  207. vor einem etwaigen Missbrauch der Betreuerbefugnisse wird zum einen
  208. dadurch Rechnung getragen, dass eine wechselseitige Kontrolle zwischen Arzt
  209. und Betreuer bei der Entscheidungsfindung stattfindet. Zum anderen kann jeder
  210. Dritte, insbesondere der Ehegatte, Lebenspartner, Verwandte oder Vertrauenspersonen des Betreuten, aufgrund des Amtsermittlungsprinzips im Betreuungsverfahren jederzeit eine betreuungsgerichtliche Kontrolle der Betreuerentscheidung in Gang setzen (BT-Drucks. 16/8442 S. 19).
  211. - 11 -
  212. 19
  213. Angesichts des schwerwiegenden Eingriffs ist allerdings die Schwelle für
  214. ein gerichtliches Einschreiten nicht zu hoch anzusetzen (Jurgeleit/Kieß Betreuungsrecht 3. Aufl. § 1904 BGB Rn. 13). Das Betreuungsgericht muss das Genehmigungsverfahren nach § 1904 Abs. 2 BGB immer dann durchführen, wenn
  215. einer der Handelnden Zweifel daran hat, ob das geplante Vorgehen dem Willen
  216. des Betroffenen entspricht (vgl. MünchKommBGB/Schwab 6. Aufl. § 1904
  217. Rn. 53; Jürgens/Marschner Betreuungsrecht 5. Aufl. § 1904 BGB Rn. 14; vgl.
  218. auch BT-Drucks. 16/8442 S. 19). Das Verfahren bietet einen justizförmigen
  219. Rahmen, innerhalb dessen die rechtlichen Grenzen des Betreuerhandelns geklärt und der wirkliche oder mutmaßliche Wille des Betroffenen - im Rahmen
  220. des Möglichen - ermittelt werden kann. Dies vermittelt der Entscheidung des
  221. Betreuers damit eine Legitimität, die geeignet ist, den Betreuer subjektiv zu entlasten sowie seine Entscheidung objektiv anderen Beteiligten zu vermitteln, und
  222. die ihn vor dem Risiko einer abweichenden strafrechtlichen ex-post-Beurteilung
  223. schützen kann (Senatsbeschluss BGHZ 154, 205 = FamRZ 2003, 748, 755
  224. mwN; vgl. Spickhoff Medizinrecht § 1901 a BGB Rn. 14). Daher ist die Prüfungskompetenz des Betreuungsgerichts auch dann eröffnet, wenn zwar ein
  225. Einvernehmen zwischen Betreuer und behandelndem Arzt besteht, aber
  226. gleichwohl ein Antrag auf betreuungsgerichtliche Genehmigung gestellt wird
  227. (Jurgeleit/Kieß Betreuungsrecht 3. Aufl. § 1904 BGB Rn. 77 f.).
  228. 20
  229. Stellt das Gericht dieses Einvernehmen im Sinne von § 1904 Abs. 4 BGB
  230. fest, hat es den Antrag auf betreuungsgerichtliche Genehmigung ohne weitere
  231. gerichtliche Ermittlungen abzulehnen und ein sogenanntes Negativattest zu
  232. erteilen, aus dem sich ergibt, dass eine gerichtliche Genehmigung nicht erforderlich ist (LG Kleve FamRZ 2010, 1841, 1843; AG Nordenham FamRZ 2011,
  233. 1327, 1328; vgl. auch LG Oldenburg FamRZ 2010, 1470, 1471; MünchKommBGB/Schwab 6. Aufl. § 1904 Rn. 56; Jürgens/Marschner Betreuungsrecht 4. Aufl. § 1904 Rn. 13; HK-BUR/Bauer [Stand: Juni 2013] § 1904 Rn. 106;
  234. - 12 -
  235. a.A. Jurgeleit/Kieß Betreuungsrecht 3. Aufl. § 1904 BGB Rn. 11; Palandt/Götz
  236. BGB 73. Aufl. § 1904 Rn. 22, wonach die Erteilung eines Negativattests nicht
  237. angezeigt sei). Gleiches gilt, wenn das Gericht trotz Einvernehmens zunächst
  238. einen Anlass für die Ermittlung des Patientenwillens mit den ihm zur Verfügung
  239. stehenden Ermittlungsmöglichkeiten sieht, aber nach der Prüfung zu dem Ergebnis gelangt, dass die Erteilung, die Nichterteilung oder der Widerruf der
  240. Einwilligung dem nach § 1901 a BGB festgestellten Willen entspricht. Bei unterschiedlichen Auffassungen oder bei Zweifeln des behandelnden Arztes und des
  241. Betreuers über den Behandlungswillen des Betreuten muss das Betreuungsgericht hingegen nach der Kontrolle, ob die Entscheidung des Betreuers über die
  242. Nichteinwilligung oder den Widerruf der Einwilligung tatsächlich dem ermittelten
  243. Patientenwillen entspricht, eine Genehmigung nach § 1904 Abs. 2 BGB erteilen
  244. oder versagen.
  245. 21
  246. (2) Danach hat sich das Beschwerdegericht im vorliegenden Fall zu
  247. Recht nicht lediglich auf eine Prüfung nach § 1904 Abs. 4 BGB beschränkt, obwohl die Betreuer mit ihrem Antrag vom 15. Februar 2012 eine gemeinsame
  248. schriftliche Erklärung mit der behandelnden Ärztin der Betroffenen vorgelegt
  249. haben, wonach Einvernehmen darüber bestehe, dass die Nichterteilung oder
  250. der Widerruf der Einwilligung in die künstliche Ernährung dem Willen der Betroffenen entspreche. Nachdem ein Einvernehmen zwischen Betreuern und behandelnder Ärztin zunächst nicht vorgelegen hatte und die Gerichte Zweifel an
  251. einem entsprechenden Willen der Betroffenen hatten, waren sie aufgrund des
  252. Amtsermittlungsgrundsatzes gehalten, diesen im gerichtlichen Verfahren zu
  253. ermitteln (a.A. MünchKommBGB/Schwab 6. Aufl. § 1901 a Rn. 56, wonach das
  254. Gericht auch bei eigenem Missbrauchsverdacht ein Negativattest zu erstellen
  255. und dann ein Kontrollverfahren nach § 1908 i Abs. 1 S. 1 i.V.m. § 1837 Abs. 2
  256. bis 4 BGB einzuleiten habe). Jedenfalls im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung konnte darüber hinaus ein Einvernehmen zwischen Betreuern und behan-
  257. - 13 -
  258. delnder Ärztin nicht mehr festgestellt werden, nachdem die Betroffene in ein
  259. anderes Pflegeheim verlegt worden war und sich die Person der behandelnden
  260. Ärztin geändert hatte.
  261. 22
  262. b) Ebenfalls zu Recht ist das Beschwerdegericht noch unter Bezugnahme auf den zur früheren Rechtslage ergangenen Senatsbeschluss vom
  263. 17. März 2003 (BGHZ 154, 205 = FamRZ 2003, 748, 751) zu dem Ergebnis
  264. gelangt, dass das Vorliegen einer Grunderkrankung mit einem „irreversibel tödlichen Verlauf“ nicht Voraussetzung für den zulässigen Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen ist. Nach neuer Rechtslage ist in § 1901 a Abs. 3 BGB
  265. klargestellt, dass es für die Verbindlichkeit des tatsächlichen oder mutmaßlichen Willens eines aktuell einwilligungsunfähigen Betroffenen nicht auf die Art
  266. und das Stadium der Erkrankung ankommt (BT-Drucks. 16/8442 S. 16; BGHSt
  267. 55, 191 = FamRZ 2010, 1551 Rn. 14 ff.; Fröschle/Guckes/Kuhrke/Locher Betreuungs- und Unterbringungsverfahren § 298 FamFG Rn. 19). Auch wenn die
  268. Grunderkrankung noch keinen unmittelbar zum Tod führenden Verlauf genommen hat, d.h. der Sterbevorgang noch nicht eingesetzt hat, ist das verfassungsrechtlich verbürgte Selbstbestimmungsrecht des Betroffenen zu achten, gegen
  269. dessen Willen eine ärztliche Behandlung weder eingeleitet noch fortgesetzt
  270. werden darf. Der Abbruch einer lebenserhaltenden Maßnahme ist bei entsprechendem Willen des Betroffenen als Ausdruck der allgemeinen Entscheidungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) und des Rechts auf körperliche
  271. Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG) grundsätzlich zulässig. Der Betroffene darf
  272. eine Heilbehandlung auch dann ablehnen, wenn sie seine ohne Behandlung
  273. zum Tod führende Krankheit besiegen oder den Eintritt des Todes weit hinausschieben könnte (BT-Drucks. 16/8442 S. 9).
  274. 23
  275. c) Soweit das Beschwerdegericht auf der Grundlage der von ihm getroffenen Feststellungen zu der Würdigung gelangt ist, dass der Abbruch der
  276. - 14 -
  277. künstlichen Ernährung nicht dem mutmaßlichen Willen der Betroffenen entspricht, ist dies dagegen nicht frei von Rechtsfehlern. Zudem hat es sich nicht
  278. mit der vorrangigen Frage befasst, ob ein entsprechender Behandlungswunsch
  279. der Betroffenen vorliegt.
  280. 24
  281. aa) Die betreuungsgerichtliche Genehmigung nach § 1904 Abs. 2 BGB
  282. ist zu erteilen, wenn die Nichteinwilligung oder der Widerruf der Einwilligung
  283. dem Willen des Betreuten entspricht, § 1904 Abs. 3 BGB. Das Betreuungsgericht hat die Entscheidung des Betreuers zum Schutz des Betreuten dahingehend zu überprüfen, ob diese Entscheidung tatsächlich dem ermittelten Patientenwillen entspricht. Gerichtlicher Überprüfungsmaßstab ist der individuelle Patientenwille, wobei für die Ermittlung des mutmaßlichen Willens die in § 1901 a
  284. Abs. 2 BGB genannten Anhaltspunkte heranzuziehen sind (BT-Drucks. 16/8442
  285. S. 18). Dabei differenziert § 1901 a Abs. 2 Satz 1 BGB zwischen den Behandlungswünschen einerseits und dem mutmaßlichen Willen des Betroffenen andererseits.
  286. 25
  287. (1) Behandlungswünsche im Sinne des § 1901 a Abs. 2 BGB können etwa alle Äußerungen eines Betroffenen sein, die Festlegungen für eine konkrete
  288. Lebens- und Behandlungssituation enthalten, aber den Anforderungen an eine
  289. Patientenverfügung im Sinne des § 1901 a Abs. 1 BGB nicht genügen, etwa
  290. weil sie nicht schriftlich abgefasst wurden, keine antizipierenden Entscheidungen treffen oder von einem minderjährigen Betroffenen verfasst wurden. Auch
  291. eine Patientenverfügung im Sinne des § 1901 a Abs. 1 BGB, die jedoch nicht
  292. sicher auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation des Betroffenen passt
  293. und deshalb keine unmittelbare Wirkung entfaltet, kann als Behandlungswunsch Berücksichtigung finden (Bienwald/Sonnenfeld/Hoffmann Betreuungsrecht 5. Aufl. § 1901 a BGB Rn. 57; Palandt/Götz BGB 73. Aufl. § 1901 a
  294. Rn. 28; Jürgens/Jürgens Betreuungsrecht 5. Aufl. § 1901 a BGB Rn. 16; HK-
  295. - 15 -
  296. BUR/Bauer [Stand: Juli 2011] § 1901 a BGB Rn. 71). Behandlungswünsche
  297. sind insbesondere dann aussagekräftig, wenn sie in Ansehung der Erkrankung
  298. zeitnah geäußert worden sind, konkrete Bezüge zur aktuellen Behandlungssituation aufweisen und die Zielvorstellungen des Patienten erkennen lassen
  299. (MünchKommStGB/Schneider 2. Aufl. Vorbem. zu §§ 211 ff. Rn. 156). An die
  300. Behandlungswünsche des Betroffenen ist der Betreuer nicht nur nach § 1901 a
  301. Abs. 2 BGB, sondern bereits nach § 1901 Abs. 3 BGB gebunden (a.A. wohl
  302. Kutzer FS Rissing-van Saan 2011, 337, 353, wonach der lediglich mündlich
  303. geäußerte Behandlungswunsch den Betreuer nicht unmittelbar binde, sondern
  304. nur in die Würdigung der Gesamtsituation durch den Betreuer miteinzubeziehen
  305. sei).
  306. 26
  307. (2) Auf den mutmaßlichen Willen des Betroffenen ist demgegenüber abzustellen, wenn sich ein auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation bezogener Wille des Betroffenen nicht feststellen lässt. Der mutmaßliche Wille ist
  308. anhand konkreter Anhaltspunkte zu ermitteln, insbesondere anhand früherer
  309. mündlicher oder schriftlicher Äußerungen (die jedoch keinen Bezug zur aktuellen Lebens- und Behandlungssituation aufweisen), ethischer oder religiöser
  310. Überzeugungen und sonstiger persönlicher Wertvorstellungen des Betroffenen
  311. (§ 1901 a Abs. 2 Satz 2 und 3). Der Betreuer stellt letztlich eine These auf, wie
  312. sich der Betroffene selbst in der konkreten Situation entschieden hätte, wenn er
  313. noch über sich selbst bestimmen könnte (Bienwald/Sonnenfeld/Hoffmann Betreuungsrecht § 1901 a BGB Rn. 67 ff.).
  314. 27
  315. Allerdings kommt die Berücksichtigung eines solchen mutmaßlichen Willen des Betroffenen nur hilfsweise in Betracht, wenn und soweit der wirkliche
  316. vor Eintritt der Einwilligungsunfähigkeit geäußerte Wille des Betroffenen nicht
  317. zu ermitteln ist (Senatsbeschluss BGHZ 154, 205 = FamRZ 2003, 748, 752;
  318. BGHSt 55, 191 = FamRZ 2010, 1551 Rn. 17). Liegt eine Willensbekundung des
  319. - 16 -
  320. Betroffenen vor, bindet sie als Ausdruck des fortwirkenden Selbstbestimmungsrechts den Betreuer. Der Wille des Patienten muss stets beachtet werden, unabhängig von der Form, in der er geäußert wird (BT-Drucks. 16/13314 S. 22 zu
  321. § 1901 b BGB). Die Willensbekundung für oder gegen bestimmte medizinische
  322. Maßnahmen darf vom Betreuer nicht durch einen "Rückgriff auf den mutmaßlichen Willen" des Betroffenen korrigiert werden (BGHZ 154, 205 = FamRZ 2003,
  323. 748, 752).
  324. 28
  325. (3) Ebenso wie bei Vorliegen einer schriftlichen Patientenverfügung im
  326. Sinne des § 1901 a Abs. 1 BGB genügt auch der ermittelte Behandlungswunsch nicht, wenn sich dieser auf allgemein gehaltene Inhalte beschränkt.
  327. 29
  328. Unmittelbare Bindungswirkung entfaltet eine Patientenverfügung im Sinne des § 1901 a Abs. 1 BGB nur dann, wenn ihr konkrete Entscheidungen des
  329. Betroffenen über die Einwilligung oder Nichteinwilligung in bestimmte, noch
  330. nicht unmittelbar bevorstehende ärztliche Maßnahmen entnommen werden
  331. können. Von vornherein nicht ausreichend sind allgemeine Anweisungen, wie
  332. die Aufforderung, ein würdevolles Sterben zu ermöglichen oder zuzulassen,
  333. wenn ein Therapieerfolg nicht mehr zu erwarten ist (HK-BUR/Bauer [Stand: Juli
  334. 2011] § 1901 a BGB Rn. 39; Spickhoff Medizinrecht § 1901 a BGB Rn. 7). Die
  335. Anforderungen an die Bestimmtheit einer Patientenverfügung dürfen aber auch
  336. nicht überspannt werden. Vorausgesetzt werden kann nur, dass der Betroffene
  337. umschreibend festlegt, was er in einer bestimmten Lebens- und Behandlungssituation will und was nicht. Maßgeblich ist nicht, dass der Betroffene seine eigene Biografie als Patient vorausahnt und die zukünftigen Fortschritte in der Medizin vorwegnehmend berücksichtigt (vgl. Palandt/Götz BGB 73. Aufl. § 1901 a
  338. Rn. 18). Insbesondere kann nicht ein gleiches Maß an Präzision verlangt werden, wie es bei der Willenserklärung eines einwilligungsfähigen Kranken in die
  339. Vornahme einer ihm angebotenen Behandlungsmaßnahme erreicht werden
  340. - 17 -
  341. kann (vgl. Spickhoff FamRZ 2014, 1848 f.). Andernfalls wären nahezu sämtliche
  342. Patientenverfügungen unverbindlich, weil sie den Anforderungen an die Bestimmtheit nicht genügten (vgl. auch MünchKommStGB/Schneider 2. Aufl. Vorbem. zu §§ 211 ff. Rn. 146; Jürgens/Jürgens Betreuungsrecht 5. Aufl. § 1901 a
  343. BGB Rn. 8).
  344. 30
  345. Ein vergleichbares Maß an Bestimmtheit ist auch bei der Beurteilung eines Behandlungswunsches im Sinn des § 1901 a Abs. 2 BGB zu verlangen.
  346. Wann eine Maßnahme hinreichend bestimmt benannt ist, kann nur im Einzelfall
  347. beurteilt werden. Ebenso wie eine schriftliche Patientenverfügung sind auch
  348. mündliche Äußerungen des Betroffenen der Auslegung zugänglich.
  349. 31
  350. (4) Maßgeblich ist weiter, ob die entsprechenden Anweisungen, welche
  351. zu einem Zeitpunkt erteilt wurden, als ein bestimmter ärztlicher Eingriff noch
  352. nicht unmittelbar bevorstand, auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zugeschnitten sind (sog. Kongruenz von Patientenverfügung und ärztlich
  353. erforderlichem Eingriff).
  354. 32
  355. bb) Diesen Grundsätzen wird die angegriffene Entscheidung nicht in vollem Umfang gerecht.
  356. 33
  357. (1) Nachdem eine schriftliche Patientenverfügung im Sinn des § 1901 a
  358. Abs. 1 BGB nicht vorlag, hat das Beschwerdegericht zur Ermittlung des Willens
  359. der Betroffenen zutreffend auf § 1901 a Abs. 2 BGB abgestellt. Allerdings ist
  360. das Beschwerdegericht ohne weitere Differenzierung zwischen Behandlungswunsch einerseits und mutmaßlichem Willen andererseits davon ausgegangen,
  361. dass der mutmaßliche Wille der Betroffenen zu ermitteln sei. Hierbei hat das
  362. Beschwerdegericht, wie die Rechtsbeschwerde insoweit zu Recht rügt, die Bekundungen der Zeugin L.
  363. nicht hinreichend berücksichtigt.
  364. - 18 -
  365. 34
  366. Das Beschwerdegericht hätte Anlass zur Prüfung gehabt, ob es sich bei
  367. der mündlichen Äußerung der Betroffenen gegenüber der Zeugin L.
  368. um
  369. einen Behandlungswunsch im Sinne des § 1901 a Abs. 2 Satz 1 BGB handelte,
  370. mit dem sie Festlegungen für eine konkrete Lebens- und Behandlungssituation
  371. getroffen hat, welche mit der aktuellen Lebens- und Behandlungssituation übereinstimmt. Ein Rückgriff auf den mutmaßlichen Willen der Betroffenen wäre in
  372. Anbetracht dessen ausgeschlossen (vgl. auch BGHSt 55, 191 = FamRZ 2010,
  373. 1551 Rn. 5, 17).
  374. 35
  375. Die Betroffene hatte sich nach den Angaben der Zeugin L.
  376. auch
  377. anlässlich der Erkrankung von deren Nichte geäußert, die im Alter von 39 Jahren ins Wachkoma gefallen war. Ausweislich des Vermerks über die Anhörung
  378. der Zeugin L.
  379. hat die Betroffene angegeben, dass sie selbst, sollte sie
  380. sich in einem Zustand wie die Nichte befinden, nicht künstlich am Leben erhalten bleiben wolle. Nach Auffassung des Beschwerdegerichts haben zudem beide Betreuer sowie die Zeuginnen übereinstimmend, plausibel und nachvollziehbar erklärt, dass die Betroffene in der Vergangenheit mehrfach geäußert habe,
  381. keine lebensverlängernden Maßnahmen in Anspruch nehmen zu wollen, wenn
  382. sie im Koma liege, ihren Willen nicht mehr äußern und am Leben nicht mehr
  383. aktiv teilnehmen könne.
  384. 36
  385. (2) Die angegriffene Entscheidung begegnet zudem rechtlichen Bedenken, weil sie darüber hinaus erhöhte Anforderung an die Ermittlung und Annahme des mutmaßlichen Willens stellt, wenn der Tod des Betroffenen - wie
  386. hier - nicht unmittelbar bevorsteht.
  387. 37
  388. Diese Auffassung steht nicht im Einklang mit § 1901 a Abs. 3 BGB, der in
  389. erster Linie klarstellen will, dass es für die Beachtung und Durchsetzung des
  390. Patientenwillens nicht auf die Art und das Stadium der Erkrankung ankommt.
  391. - 19 -
  392. Aus § 1901 a Abs. 3 BGB folgt aber zugleich, dass keine höheren Anforderungen an die Ermittlung und die Annahme von Behandlungswünschen oder des
  393. mutmaßlichen Willens zu stellen sind, wenn der Tod des Betroffenen nicht unmittelbar bevorsteht. Für die Feststellung des behandlungsbezogenen Patientenwillens gelten beweismäßig strenge Maßstäbe, die der hohen Bedeutung der
  394. betroffenen Rechtsgüter - dem aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und Art. 2 Abs. 1 in
  395. Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG folgenden Selbstbestimmungsrecht einerseits
  396. (vgl. insoweit auch BVerfG FamRZ 2011, 1927 Rn. 35 f.) und dem in Art. 2
  397. Abs. 2 Satz 1 GG garantierten Schutz des Lebens andererseits - Rechnung zu
  398. tragen haben. Dies hat insbesondere zu gelten, wenn es beim Fehlen einer
  399. schriftlichen Patientenverfügung um die Feststellung eines in der Vergangenheit
  400. mündlich geäußerten Patientenwillens geht (vgl. auch BGHSt 55, 191 = FamRZ
  401. 2010, 1551 Rn. 38; BGH Beschluss vom 10. November 2010 - 2 StR 320/10 FamRZ 2011, 108 Rn. 12). Insbesondere bei der Ermittlung des mutmaßlichen
  402. Willens des Betroffenen ist darauf zu achten, dass nicht die Werte und Vorstellungen des Betreuers zum Entscheidungsmaßstab werden. Die bei der Ermittlung und der Annahme des mutmaßlichen Willens zu stellenden strengen Anforderungen gelten aber unabhängig davon, ob der Tod des Betroffenen unmittelbar bevorsteht oder nicht (a.A. LG Kleve FamRZ 2010, 1841, 1843; AG
  403. Nordenham FamRZ 2011, 1327, 1328; MünchKommBGB/Schwab 6. Aufl.
  404. § 1901 a Rn. 50; Kutzer FS Rissing-van Saan, 2011, 337, 354; zur früheren
  405. Rechtslage: Senatsbeschluss BGHZ 154, 205 = FamRZ 2003, 748, 751 unter
  406. Bezugnahme auf BGH Urteil vom 13. September 1994 - 1 StR 357/94 - NJW
  407. 1995, 204).
  408. 38
  409. Das Beschwerdegericht geht demgegenüber von einem falschen Maßstab aus, wenn es ausführt, an die Ermittlung und Annahme des mutmaßlichen
  410. Willens seien höhere Anforderungen zu stellen, wenn der Tod des Betroffenen
  411. noch nicht unmittelbar bevorsteht.
  412. - 20 -
  413. 39
  414. 3. Die Entscheidung des Beschwerdegerichts kann demnach keinen Bestand haben. Bei seiner erneuten Prüfung wird das Beschwerdegericht etwaige
  415. Behandlungswünsche und gegebenenfalls den mutmaßlichen Willen der Betroffenen unter Berücksichtigung der Angaben der Zeugin L.
  416. und unter
  417. Anlegung des korrekten Prüfungsmaßstabs erneut zu ermitteln haben. Der Senat weist dazu auf Folgendes hin:
  418. 40
  419. a) Die Äußerung der Betroffenen ist auch nicht deswegen unbeachtlich,
  420. weil sie bei ihrem Gespräch mit der Zeugin L.
  421. nicht im Einzelnen danach
  422. differenziert hat, ob lebenserhaltende Maßnahmen für alle Fälle ausgeschlossen werden sollten oder nur, wenn es keine Chance auf Genesung und ein
  423. Wiedererwachen gebe. Denn das Beschwerdegericht hat sich dem im Beschwerdeverfahren eingeholten Sachverständigengutachten angeschlossen,
  424. wonach das Leiden der Betroffenen einen irreversiblen tödlichen Verlauf angenommen habe. Weiter haben die Sachverständigen ausgeführt, dass - auch
  425. wenn es immer wieder vereinzelte Fallberichte zu klinischen Besserungen nach
  426. langer Zeit gebe - die Wahrscheinlichkeit für ein bewusstes, unabhängiges Leben bei 0 % liege, wenn der fortdauernde vegetative Status eines Patienten,
  427. wie bei der Betroffenen, länger als sechs Monate andauere.
  428. 41
  429. b) Die mündlichen Äußerungen der Betroffenen werden nicht dadurch relativiert, dass die Betroffene keine schriftliche Patientenverfügung angefertigt
  430. hatte, obwohl entsprechende Vordrucke bei ihr zu Hause gelegen hatten. Diesem Umstand kann weder entnommen werden, dass die Betroffene von der
  431. Errichtung einer Patientenverfügung (vorerst) Abstand nehmen wollte, weil sie
  432. sich noch nicht konkret und verbindlich positionieren wollte, noch dass sie
  433. schon inhaltlich festgelegt wäre. Nach den Feststellungen des Beschwerdegerichts kann lediglich als sicher angenommen werden, dass die Betroffene zu
  434. einem Zeitpunkt, als ihre Erkrankung noch gänzlich ungewiss war, eine Patien-
  435. - 21 -
  436. tenverfügung erstellen wollte, aber noch keines der unterschiedlichen Formulare ausgewählt hatte, bevor sie unvorhersehbar erkrankte.
  437. Dose
  438. Schilling
  439. Nedden-Boeger
  440. Günter
  441. Botur
  442. Vorinstanzen:
  443. AG Stollberg, Entscheidung vom 22.03.2012 - XVII 280/09 LG Chemnitz, Entscheidung vom 11.03.2013 - 3 T 205/12 -