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1 year ago
  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. IM NAMEN DES VOLKES
  3. URTEIL
  4. VI ZR 55/05
  5. Verkündet am:
  6. 27. März 2007
  7. Holmes,
  8. Justizangestellte
  9. als Urkundsbeamtin
  10. der Geschäftsstelle
  11. in dem Rechtsstreit
  12. Nachschlagewerk:
  13. ja
  14. BGHZ:
  15. ja
  16. BGHR:
  17. ja
  18. BGB § 823 Aa
  19. Zur Arzthaftung wegen Behandlungs- und Aufklärungsfehlern im Zusammenhang mit
  20. einem Heilversuch mit einem neuen, erst im Laufe der Behandlung zugelassenen
  21. Arzneimittel.
  22. BGH, Urteil vom 27. März 2007 - VI ZR 55/05 - OLG Karlsruhe
  23. LG Offenburg
  24. -2-
  25. Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
  26. vom 27. März 2007 durch die Vizepräsidentin Dr. Müller und die Richter
  27. Dr. Greiner, Wellner, Pauge und Stöhr
  28. für Recht erkannt:
  29. Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 13. Zivilsenats
  30. des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 2. Februar 2005 aufgehoben.
  31. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch
  32. über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
  33. Von Rechts wegen
  34. Tatbestand:
  35. 1
  36. Der Kläger, der seit seiner frühen Kindheit an Epilepsie leidet, nimmt die
  37. Beklagten auf Schadensersatz wegen Behandlungs- und Aufklärungsfehlern im
  38. Zusammenhang mit der Verabreichung eines neuen Medikaments der Streithelferin der Beklagten in Anspruch, weil dieses bei ihm zu irreparablen Augenschäden geführt habe.
  39. -3-
  40. 2
  41. Die Beklagte zu 1 ist Trägerin eines Epilepsiezentrums, in dem der Kläger seit 1985 von dem dort als Arzt angestellten Beklagten zu 2 medikamentös
  42. behandelt wurde. Nachdem der Kläger 1989 eine ihm vorgeschlagene neurologische Operation zur Reduzierung der Zahl seiner Anfälle (monatlich etwa 4 bis
  43. 10) abgelehnt hatte, schlug ihm der Beklagte zu 2 Ende September 1991 vor,
  44. neben dem bisher verabreichten Medikament P. zur Reduzierung der Anfallsneigung ein neues, in den USA entwickeltes Medikament V. einzunehmen. Dieses war zu diesem Zeitpunkt weder in den USA noch in Deutschland, jedoch in
  45. einigen anderen europäischen Staaten als Arzneimittel zugelassen. Eine bei
  46. der Beklagten zu 1 laufende klinische Prüfung mit den Phasen I bis IV, in welche der Kläger nicht einbezogen wurde, befand sich zu diesem Zeitpunkt in der
  47. Phase III. Durch die Einnahme des neuen Medikaments, dem weder ein Beipackzettel beigefügt noch auf dessen Verpackung Hersteller oder Inhaltsstoffe
  48. vermerkt waren, reduzierte sich die Zahl der epileptischen Anfälle beim Kläger
  49. deutlich. Am 19. Dezember 1991 erfolgte die Zulassung des Medikaments in
  50. Deutschland, wo es die Streithelferin der Beklagten inzwischen unter dem Namen S. vertreibt. In der Anlage zum Zulassungsbescheid ("Wortlaut der für die
  51. Verpackungsbeilage vorgesehenen Angaben") wurde unter anderem darauf
  52. hingewiesen, dass Langzeitauswirkungen von V. auf das visuelle System und
  53. okulomotorische Leistungen (Sehfunktion) beim Menschen noch nicht untersucht worden seien, weshalb periodische (z.B. monatliche) Kontrollen des Sehvermögens angezeigt seien.
  54. 3
  55. Ende März/Anfang April 1992 stellte der Kläger eine Beeinträchtigung
  56. seines Sehvermögens fest und begab sich deshalb in die Behandlung eines
  57. Augenarztes. Als sich die Beeinträchtigung nach einem Anfall am 10. April 1992
  58. verschlimmerte, überwies ihn der Augenarzt an die Universitäts-Augenklinik F.,
  59. wo der Kläger vom 16. bis 27. April 1992 ambulant behandelt wurde. Vor Beginn der ambulanten Behandlung rief der Kläger den Beklagten zu 2 am
  60. -4-
  61. 15. April 1992 an und berichtete ihm von den seit dem 13. April 1992 aufgetretenen Sehstörungen auf dem linken Auge sowie von der bevorstehenden Untersuchung in der Universitäts-Augenklinik. Der Beklagte zu 2 bat den Kläger
  62. daraufhin, ihn am 21. April 1992 telefonisch über das Ergebnis der Untersuchungen zu benachrichtigen. Mit Schreiben vom 4. Mai 1992 an Dr. D., den
  63. damaligen Mitarbeiter des Beklagten zu 2, berichtete die UniversitätsAugenklinik über die Untersuchungen und Behandlung des Klägers, teilte als
  64. Diagnose eine "AION" (anteriore ischämische Opticusneuropathie) mit und äußerte den Verdacht, dass diese medikamenteninduziert sei.
  65. 4
  66. Der Kläger wurde anschließend vom 28. April 1992 bis zum 9. Juli 1992
  67. stationär im Epilepsiezentrum der Beklagten zu 1 behandelt. Dabei erhielt er
  68. zunächst weiter das Medikament V. und wegen der Sehstörungen Cortison. Der
  69. Beklagte zu 2 veranlasste - nach einem Telefonat mit dem medizinischen Leiter
  70. der Streithelferin der Beklagten - die Durchführung eines Lymphozytentransformationstests (LTT) an der Universitätsklinik T., wo eine dafür erforderliche
  71. Blutprobe des Klägers am 8. Mai 1992 einging. Nach einer telefonischen Information über das Ergebnis wurde am 27. Mai 1992 die Verabreichung des Medikaments V. beendet und auch auf einen in den Krankenakten unter dem 2. Juli
  72. 1992 dokumentierten Wunsch des Klägers, wieder das Medikament S. zu erhalten, nicht mehr fortgesetzt.
  73. 5
  74. Der Kläger führt seine bleibende Augenschädigung und den damit verbundenen Verlust seines Arbeitsplatzes als Lagerist auf schädliche Nebenwirkungen des ihm verabreichten Medikaments V. (S.) zurück und behauptet, weder vor Beginn der Behandlung über die fehlende Zulassung des Medikaments,
  75. noch während der Behandlung über dessen Risiken, insbesondere nach dem
  76. Eintreten von Sehstörungen, aufgeklärt worden zu sein. Hätte er von Anfang
  77. gewusst, dass eine Zulassung des Medikaments noch nicht vorgelegen habe,
  78. -5-
  79. hätte er von einer Einnahme Abstand genommen. Des Weiteren wirft der Kläger
  80. dem Beklagten zu 2 einen für seine Augenschädigung ursächlichen (groben)
  81. Behandlungsfehler vor, weil dieser das Medikament nach dem Auftreten von
  82. Sehstörungen nicht sofort abgesetzt habe.
  83. 6
  84. Das Landgericht hat die auf Schmerzensgeld in vorgestellter Größenordnung
  85. von
  86. 35.790,43 €,
  87. Verdienstausfall
  88. vom
  89. 1. April
  90. 1993
  91. bis
  92. zum
  93. 31. Dezember 2004 in Höhe von 65.942,84 € und Feststellung der Ersatzpflicht
  94. für künftige Schäden gerichtete Klage abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat
  95. die hiergegen gerichtete Berufung des Klägers zurückgewiesen. Mit seiner vom
  96. erkennenden Senat zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegehren weiter.
  97. Entscheidungsgründe:
  98. I.
  99. 7
  100. Das Berufungsgericht ist der Auffassung, es spreche zwar viel dafür,
  101. dass die Einnahme des Medikaments V. die Augenschäden des Klägers verursacht habe. Dies könne jedoch letztlich offen bleiben, weil sich auch bei unterstellter Ursächlichkeit keine Haftung der Beklagten wegen Behandlungs- und
  102. Aufklärungsfehlern ergebe. Bei der Entscheidung Ende September 1991, dem
  103. Kläger das zu diesem Zeitpunkt noch nicht zugelassene Medikament V. zu verabreichen, habe der Beklagte zu 2 lediglich gewusst, dass Langzeitauswirkungen dieses Mittels auf das visuelle System und okulomotorische Leistungen
  104. (Sehvermögen) beim Menschen noch nicht untersucht gewesen seien. Dagegen hätten keine Anhaltspunkte dafür bestanden, dass ihm irgendetwas über
  105. aufgetretene Gesichtsfeldstörungen nach Einnahme des Medikaments bekannt
  106. -6-
  107. gewesen sei oder hätte sein müssen. Der Beklagte zu 2 habe es zwar fehlerhaft
  108. unterlassen, nach etwa 6 Monaten eine - erst dann erforderliche - Kontrolle des
  109. Sehvermögens des Klägers anzuordnen. Dies sei jedoch folgenlos geblieben,
  110. weil der Kläger sich zu diesem Zeitpunkt wegen der aufgetretenen Sehstörungen selbst in augenärztliche Behandlung begeben habe. Ob nach dem Schreiben der Universitäts-Augenklinik F. vom 4. Mai 1992 in der Weitergabe des
  111. Medikaments ein einfacher Behandlungsfehler zu sehen sei, könne ebenfalls
  112. offen bleiben. Denn der Kläger habe nicht nachgewiesen, dass ein entsprechend früheres Absetzen des Medikaments die Augenschädigung verhindert
  113. hätte. Der Sachverständige Prof. Dr. A. habe keine Aussage dazu machen können, wie die Entwicklung gewesen wäre, wenn man das Medikament schon
  114. früher abgesetzt hätte. Eine Umkehr der Beweislast komme dem Kläger nicht
  115. zu Gute, weil insoweit kein grober Behandlungsfehler vorliege. Der Entscheidung des Beklagten zu 2, die Medikamententherapie fortzusetzen, liege eine
  116. Güterabwägung zugrunde, die zum damaligen Zeitpunkt vertretbar gewesen
  117. sei, weil das Medikament die Anfallshäufigkeit beim Kläger reduziert habe. Jedenfalls aber sei die Entscheidung kein Fehler gewesen, der einem Arzt
  118. schlechterdings nicht unterlaufen dürfe. Was die Aufklärungspflichten anbelange, habe der Beklagte zu 2 diese zwar sowohl vor Beginn der Verabreichung
  119. des Medikaments als auch nach Erhalt des Arztbriefes vom 4. Mai 1992 verletzt. Der Kläger hätte jedoch der Einnahme des Medikaments im Sinne einer
  120. hypothetischen Einwilligung auch zugestimmt, wenn er zuvor darauf hingewiesen worden wäre, dass dieses in Deutschland noch nicht zugelassen und
  121. grundsätzlich mit Nebenwirkungen unbekannter Art zu rechnen sei. Der Kläger
  122. habe bei seiner Anhörung diesbezüglich nicht plausibel gemacht, dass er in
  123. einen Entscheidungskonflikt geraten wäre. Soweit es um die Verletzung der
  124. Aufklärungspflichten nach dem Auftreten der Sehstörungen des Klägers gehe,
  125. scheitere eine Haftung der Beklagten wiederum daran, dass der Kläger den
  126. -7-
  127. Nachweis der Kausalität einer Fortsetzung der Medikation für die bei ihm eingetretenen Augenschäden nicht habe führen können.
  128. II.
  129. 8
  130. Das Berufungsurteil hält revisionsrechtlicher Nachprüfung nicht stand.
  131. 9
  132. A. Das Berufungsgericht hat rechtsfehlerhaft eine Haftung der Beklagten
  133. wegen eines Behandlungsfehlers verneint.
  134. 10
  135. 1. Das Berufungsgericht geht allerdings ohne Rechtsfehler davon aus,
  136. dass allein die Verabreichung des noch nicht in Deutschland zugelassenen Medikaments im September 1991 noch keinen Behandlungsfehler darstellte.
  137. 11
  138. a) Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats (vgl. Urteil vom
  139. 13. Juni 2006 - VI ZR 323/04 - VersR 2006, 1073) darf die Anwendung einer
  140. neuen Behandlungsmethode erfolgen, wenn die verantwortliche medizinische
  141. Abwägung und ein Vergleich der zu erwartenden Vorteile dieser Methode und
  142. ihrer abzusehenden und zu vermutenden Nachteile mit der standardgemäßen
  143. Behandlung unter Berücksichtigung des Wohles des Patienten die Anwendung
  144. der neuen Methode rechtfertigt. Anhaltspunkte für eine in diesem Sinne fehlerhafte oder ungenügende Abwägung durch die Behandlungsseite zum Zeitpunkt
  145. des Beginns der Medikation macht die Revision selbst nicht geltend und sind
  146. auch nicht ersichtlich. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts reduzierte sich die Zahl der epileptischen Anfälle des Klägers nach der Einnahme des
  147. Medikaments deutlich; gefährliche Nebenwirkungen, insbesondere eine Beeinträchtigung des Sehvermögens, waren damals noch nicht bekannt.
  148. -8-
  149. 12
  150. b) Die Tatsache, dass das Medikament nicht nur neu, sondern auch in
  151. Deutschland noch nicht zugelassen war, vermag unter den Umständen des
  152. Streitfalles keine abweichende Beurteilung zu rechtfertigen. Die Zulassung eines Medikaments gibt lediglich ein Verkehrsfähigkeitsattest und löst eine Vermutung für die Verordnungsfähigkeit in der konkreten Therapie aus (vgl. Hart
  153. MedR 1991, 300, 304 f.). Der individuelle Heilversuch mit einem zulassungspflichtigen, aber noch nicht zugelassenen Medikament wird durch das Arzneimittelgesetz nicht verboten. Seine Zulässigkeit ist deshalb arzthaftungsrechtlich
  154. nach allgemeinen Grundsätzen zu beurteilen. Danach begegnet es keinen
  155. rechtlichen Bedenken, dass das Berufungsgericht auf Grundlage der von ihm
  156. getroffenen Feststellungen, dass sich die klinische Prüfung in Phase III befand
  157. und das Medikament kurz vor seiner Zulassung in Deutschland stand, in der
  158. Verabreichung des noch nicht zugelassenen Medikaments als solcher im September 1991 noch keinen Behandlungsfehler gesehen hat.
  159. 13
  160. 2. Die Beurteilung des Berufungsgerichts ist jedoch rechtsfehlerhaft, soweit es meint, für eine Haftung wegen des weiteren Verhaltens des Beklagten
  161. zu 2 während der Medikation wäre ein grober Behandlungsfehler mit einer Umkehr der Beweislast dahingehend erforderlich, dass ein früherer Abbruch der
  162. Medikation den Eintritt der Augenschäden verhindert hätte.
  163. 14
  164. a) Das Berufungsgericht sieht es nach dem Ergebnis seiner Beweisaufnahme als nahe liegend an, dass die Verabreichung des Medikaments V. für
  165. die beim Kläger eingetretenen Augenschäden ursächlich gewesen sei. Dabei
  166. geht es auch zutreffend davon aus, dass nach den Umständen des Streitfalles
  167. nach den vom Senat im so genannten Lues-Fall (BGHZ 11, 227) entwickelten
  168. Grundsätzen ein Anscheinsbeweis für die Kausalität sprechen könnte. Kann ein
  169. festgestelltes Krankheitsbild (theoretisch) die Folge verschiedener Ursachen
  170. sein, liegen aber nur für eine dieser möglichen Ursachen konkrete Anhaltspunk-
  171. -9-
  172. te vor, so spricht der Beweis des ersten Anscheins für diese Ursache, selbst
  173. wenn sie im Vergleich zu den anderen möglichen Ursachen relativ selten ist
  174. und das festgestellte Krankheitsbild nur eine zwar mögliche, aber keine typische Folge dieser Ursache ist. Da das Berufungsgericht die Kausalitätsfrage
  175. letztlich offen gelassen hat, ist für die revisionsrechtliche Prüfung zu Gunsten
  176. des Klägers zu unterstellen, dass die Verabreichung des Medikaments insgesamt ursächlich für die bei ihm festgestellten Augenschäden war.
  177. 15
  178. b) Das Berufungsgericht lässt es weiter dahinstehen, ob in der Zeit ab
  179. dem 5. Mai 1992 nach Eingang des Arztbriefes der Universitäts-Augenklinik
  180. vom 4. Mai 1992 mit dem darin geäußerten Verdacht eines medikamenteninduzierten "AION" ein einfacher Behandlungsfehler zu sehen sei. Ein solcher ist
  181. mithin für die revisionsrechtliche Überprüfung ebenfalls zu unterstellen.
  182. 16
  183. c) Bei dieser Sachlage ist die Auffassung des Berufungsgerichts rechtsfehlerhaft, eine Haftung der Beklagten scheitere jedenfalls daran, dass kein
  184. grober Behandlungsfehler in der weiteren Verabreichung des Medikaments ab
  185. dem 5. Mai 1992 vorliege. Denn bei feststehender Kausalität zwischen der Verabreichung des Medikaments und den eingetretenen Augenschäden des Klägers würde grundsätzlich auch ein einfacher Behandlungsfehler zur Begründung einer Haftung der Beklagten ausreichen. Soweit das Berufungsgericht
  186. dies mit der Erwägung verneint, der Kläger könne den Nachweis nicht führen,
  187. dass ein Abbruch der Medikation ab dem 5. Mai 1992 etwas an Art und Ausmaß der Augenschäden geändert hätte, verkennt es die Beweislast die sich
  188. ergäbe, wenn - wie im Streitfall - ein neues Medikament mit unbekannten Risiken verabreicht wird und ein solches Risiko sich tatsächlich verwirklicht. Stünde
  189. nämlich fest, dass die behandlungsfehlerhafte Verabreichung des Medikaments
  190. ein Behandlungsfehler war und dass sie im Ergebnis zu einem Gesundheitsschaden des Patienten geführt hat, so hätte die Behandlungsseite zu beweisen,
  191. - 10 -
  192. dass der Gesundheitsschaden nach Art und Ausmaß auch bei rechtzeitigem
  193. Absetzen des Medikaments eingetreten wäre.
  194. 17
  195. 3. Durchgreifenden rechtlichen Bedenken unterliegt auch die Beurteilung
  196. des Berufungsgerichts, mit der es einen Behandlungsfehler im Zusammenhang
  197. mit der Verabreichung des Medikaments vor dem 5. Mai 1992 verneint. Die Beurteilung, ob ein Behandlungsfehler vorliegt, ist zwar grundsätzlich Sache des
  198. Tatrichters und revisionsrechtlicher Überprüfung nur eingeschränkt zugänglich.
  199. Das Berufungsgericht ist jedoch bei seiner Beurteilung unter den besonderen
  200. Umständen des Streitfalles von einem fehlerhaften, weil zu geringen Sorgfaltsmaßstab ausgegangen.
  201. 18
  202. a) Die Anwendung neuer Behandlungsmethoden bzw. - wie hier - die
  203. Vornahme von Heilversuchen an Patienten mit neuen Medikamenten unterscheidet sich von herkömmlichen, bereits zum medizinischen Standard gehörenden Therapien vor allem dadurch, dass in besonderem Maße mit bisher unbekannten Risiken und Nebenwirkungen zu rechnen ist. Deshalb erfordert die
  204. verantwortungsvolle medizinische Abwägung einen - im Verhältnis zur standardgemäßen Behandlung - besonders sorgfältigen Vergleich zwischen den zu
  205. erwartenden Vorteilen und ihren abzusehenden oder zu vermutenden Nachteilen unter besonderer Berücksichtigung des Wohles des Patienten (vgl. Senatsurteil vom 13. Juni 2006 - VI ZR 323/04 - aaO). Diese Abwägung ist kein einmaliger Vorgang bei Beginn der Behandlung, sondern muss jeweils erneut vorgenommen werden, sobald neue Erkenntnisse über mögliche Risiken und Nebenwirkungen vorliegen, über die sich der behandelnde Arzt ständig zu informieren hat. Dabei muss er unverzüglich Kontrolluntersuchungen vornehmen,
  206. wenn sich Risiken für den Patienten abzeichnen, die zwar nach Ursache, Art
  207. und Umfang noch nicht genau bekannt sind, jedoch bei ihrem Eintreten zu
  208. schweren Gesundheitsschäden führen können.
  209. - 11 -
  210. 19
  211. b) Diese Grundsätze hat das Berufungsgericht nicht beachtet, soweit es
  212. einen Behandlungsfehler wegen Nichtbefolgens der Empfehlung zu Kontrollen
  213. des Sehvermögens in der mit dem Zulassungsbescheid herausgegebenen
  214. Fachinformation erst nach einem halben Jahr in Erwägung zieht.
  215. 20
  216. Das Berufungsgericht geht zwar zutreffend davon aus, dass es zu den
  217. Sorgfaltspflichten eines Arztes bei einem Heilversuch mit einem noch nicht zugelassenen Medikament gehört, sich nach erfolgter Zulassung (hier: am 19.
  218. Dezember 1991) über die vom Hersteller bzw. vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte empfohlenen Vorsichtsmaßnahmen zu informieren.
  219. Diese bestanden im Streitfall insbesondere in dem Hinweis, dass Langzeitauswirkungen von V. auf das visuelle System und okulomotorische Leistungen
  220. (Sehfunktion) beim Menschen noch nicht untersucht worden seien, weshalb
  221. periodische (z.B. monatliche) Kontrollen des Sehvermögens angezeigt seien.
  222. Der Auffassung des Berufungsgerichts, aus dieser Formulierung werde deutlich, dass solche Vorsichtsmaßnahmen nicht als zwingend geboten anzusehen
  223. gewesen seien und schon gar nicht Kontrollen in monatlichen Abständen, kann
  224. aus Rechtsgründen nicht gefolgt werden.
  225. 21
  226. Durch den Hinweis in der Gebrauchsinformation wurden die Möglichkeit
  227. und die Stoßrichtung bisher unbekannter Risiken hinreichend deutlich, nämlich
  228. eine Schädigung des Sehvermögens. Werden hierbei vom Bundesinstitut für
  229. Arzneimittel und Medizinprodukte als Vorsichtsmaßnahme regelmäßige "z.B.
  230. monatliche" Kontrollen des Sehvermögens für angezeigt erachtet, so liegt auf
  231. der Hand, dass der behandelnde Arzt dies sofort zu beachten hat und nicht erst
  232. nach sechs Monaten. Darüber hinaus setzen regelmäßige Kontrollen des Sehvermögens sinnvollerweise voraus, dass zu Beginn der Behandlung ein Augenstatus erhoben wird, um spätere Veränderungen überhaupt feststellen zu können. Da der Kläger im Streitfall das Medikament bereits seit Ende September
  233. - 12 -
  234. 1991 erhalten hatte, ohne dass zu Beginn der Behandlung ein Augenstatus erhoben und weitere Kontrollen des Sehvermögens durchgeführt worden waren,
  235. hätte der Beklagte zu 2 dies bei Bekanntwerden der entsprechenden Empfehlung zum Zeitpunkt der Zulassung des Medikaments nachholen müssen. Keinesfalls durfte er sich über die empfohlenen Vorsichtsmaßnahmen und noch
  236. dazu über einen Zeitraum von sechs Monaten hinwegsetzen und das Medikament unkontrolliert weiter verabreichen.
  237. 22
  238. Eine andere Beurteilung rechtfertigt sich auch nicht - wie das Berufungsgericht meint - aus der aktuellen Gebrauchsinformation (Stand 2002), die nunmehr lediglich Kontrollen des Sehvermögens in sechsmonatigen Abständen
  239. vorsieht. Zum einen wird dabei übersehen, dass darin auch Gesichtsfelduntersuchungen vor Behandlungsbeginn empfohlen werden. Darüber hinaus wird
  240. nicht hinreichend berücksichtigt, dass zum damaligen Zeitpunkt der Zeitablauf
  241. bis zu einer Realisierung des möglichen Risikos noch nicht bekannt war und
  242. deshalb die in der Gebrauchsinformation zum Zulassungsbescheid vorgeschlagenen Vorsichtsmaßnahmen maßgebend waren. Schließlich kommt es entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts auch nicht darauf an, ob nach dem
  243. zwischenzeitlichen Wissensstand nicht beweisbar wäre, dass die Augenschäden beim Kläger schon früher aufgetreten und feststellbar gewesen wären.
  244. Denn bei der unkontrollierten Weitergabe des Medikaments von der Bekanntgabe des Zulassungsbescheides im Dezember 1991 an handelt es sich um einen Behandlungsfehler und nicht nur um einen Befunderhebungsfehler. Muss
  245. aber revisionsrechtlich unterstellt werden, dass die Verabreichung des Medikaments für die beim Kläger eingetretenen Augenschäden ursächlich war, kann
  246. auch ein einfacher Behandlungsfehler zu diesem früheren Zeitpunkt eine Haftung der Beklagten rechtfertigen.
  247. - 13 -
  248. 23
  249. 4. Die Begründung, mit der das Berufungsgericht einen groben Behandlungsfehler in der Weiterverabreichung des Medikaments ab dem 5. Mai 1992
  250. verneint, hält den Angriffen der Revision ebenfalls nicht stand.
  251. 24
  252. a) Zwar richtet sich die Einstufung eines ärztlichen Fehlverhaltens als
  253. grob nach den gesamten Umständen des Einzelfalls, deren Würdigung weitgehend im tatrichterlichen Bereich liegt. Revisionsrechtlich ist jedoch sowohl
  254. nachzuprüfen, ob das Berufungsgericht den Begriff des groben Behandlungsfehlers verkannt, als auch, ob es bei der Gewichtung dieses Fehlers erheblichen Prozessstoff außer Betracht gelassen oder verfahrensfehlerhaft gewürdigt
  255. hat (st. Rspr.; vgl. etwa Senatsurteil vom 28. Mai 2002 - VI ZR 42/01 VersR 2002, 1026 m.w.N.).
  256. 25
  257. b) Das Berufungsgericht ist zwar zutreffend davon ausgegangen, dass
  258. ein grober Behandlungsfehler neben einem eindeutigen Verstoß gegen bewährte ärztliche Behandlungsregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnisse die
  259. Feststellung voraussetzt, dass der Arzt einen Fehler begangen hat, der aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil er einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf (vgl. etwa Senat BGHZ 159, 48, 53). Soweit es jedoch weiter meint, es gehöre auch zum Wesen eines solchen Fehlers, dass er
  260. die Aufklärung des Behandlungsverlaufs besonders erschwert habe, so steht
  261. dies nicht im Einklang mit der Rechtsprechung des erkennenden Senats. Wie
  262. der Senat in seinem Urteil BGHZ 159, 48 klargestellt hat, handelt es sich bei
  263. dieser Erwägung lediglich um das Motiv für eine Beweislastumkehr bei Vorliegen eines groben Behandlungsfehlers, nicht jedoch um eine zusätzliche Voraussetzung im konkreten Einzelfall. Ein grober Behandlungsfehler, der geeignet
  264. ist, einen Schaden der tatsächlich eingetretenen Art herbeizuführen, führt
  265. grundsätzlich zu einer Umkehr der objektiven Beweislast für den ursächlichen
  266. Zusammenhang zwischen dem Behandlungsfehler und dem Gesundheitsscha-
  267. - 14 -
  268. den. Dafür reicht aus, dass der grobe Behandlungsfehler geeignet ist, den eingetretenen Schaden zu verursachen; nahe legen oder wahrscheinlich machen
  269. muss der Fehler den Schaden hingegen nicht.
  270. 26
  271. c) Des Weiteren hat das Berufungsgericht - wie bereits ausgeführt - den
  272. erhöhten Sorgfaltsmaßstab bei einem Heilversuch mit einem noch nicht zugelassenen bzw. in der Zulassungsphase befindlichen neuen Medikament nicht
  273. beachtet, durch den sich auch geringere Anforderungen an die Bejahung eines
  274. groben Behandlungsfehlers ergeben.
  275. 27
  276. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts musste der Beklagte
  277. zu 2 spätestens seit der Zulassung des Medikaments am 19. Dezember 1991
  278. mit Auswirkungen des Medikaments auf das visuelle System und die Sehfunktion beim Menschen rechnen, denn in dem "Wortlaut der für die Packungsbeilage
  279. vorgesehenen Angaben" wurde diesbezüglich zur Vorsicht und zur Durchführung periodischer Kontrollen des Sehvermögens aufgefordert. Nachdem beim
  280. Kläger nach etwa einem halben Jahr Ende März/Anfang April 1992 tatsächlich
  281. Sehstörungen auftraten und aus dem Schreiben der Universitäts-Augenklinik F.
  282. vom 4. Mai 1992 hervorging, dass eine dort diagnostizierte anteriore ischämische Opticusneuropathie (AION) möglicherweise medikamenteninduziert sei,
  283. bestand der hinreichende Verdacht, dass beim Kläger eine in ihren Auswirkungen noch nicht überschaubare, bislang unbekannte Nebenwirkung des Medikaments aufgetreten sein könnte, die bei einer Fortsetzung der Medikation eine
  284. schwere Schädigung des Sehvermögens befürchten ließ.
  285. 28
  286. Das Berufungsgericht führt hierzu aus, der gerichtliche Sachverständige
  287. habe bei seiner mündlichen Anhörung zu der Diagnose "AION" erklärt, diese
  288. beinhalte die Gefahr einer Erblindung, und zwar könne dabei auch ohne eine
  289. weitere allmähliche Entwicklung schlagartig "das Licht ausgehen". Aus diesem
  290. - 15 -
  291. Grunde würde man bei einer Güterabwägung, wenn Behandlungsalternativen
  292. bestünden, ein neues Medikament absetzen und lieber eine erhöhte Anfallshäufigkeit in Kauf nehmen, wenn der Verdacht bestehe, dass die Erkrankung im
  293. Zusammenhang mit dem Mittel stehe. Soweit dann der Sachverständige nach
  294. weiterer Befragung meinte, die festgestellten Symptome seien gar nicht so gravierend gewesen und die Abklärung der üblichen in Betracht kommenden Risikofaktoren für die im Allgemeinen sehr schwierigen Ursachenfeststellungen bei
  295. einer "AION" sei im Sinne eines Standardscreenings angesprochen, ohne dass
  296. schon irgendein Zusammenhang mit dem Medikament hergestellt worden sei,
  297. war diese Äußerung nicht geeignet, die Güterabwägung zu Gunsten einer Fortsetzung der Medikation entscheidend zu beeinflussen. Die Revision weist in
  298. diesem Zusammenhang zutreffend darauf hin, dass es nicht um die Schwere
  299. der bereits festgestellten Symptome und die genauere Abklärung ihrer Ursachen ging, sondern um die Vermeidung möglicher irreparabler Schäden durch
  300. eine fortgesetzte Verabreichung des Medikaments.
  301. 29
  302. Da es sich um einen Heilversuch mit einem neuen Medikament handelte,
  303. bei dem mit unbekannten Gefahren und Risiken gerechnet werden musste, hätte der von einer Universitäts-Augenklinik geäußerte Verdacht auf die ernstzunehmende Möglichkeit eines medikamenteninduzierten Eintritts irreparabler
  304. Schäden für das Sehvermögen des Klägers grundsätzlich im Rahmen der erneut erforderlichen Güterabwägung dazu führen müssen, aus Sicherheitsgründen im Interesse der Gesundheit des Patienten vorrangig einen zumindest vorläufigen sofortigen Abbruch der Medikation bis zum Vorliegen weiterer Untersuchungsergebnisse in Betracht zu ziehen. Insbesondere lässt das Berufungsurteil eine Begründung dafür vermissen, weshalb es nicht zumindest eine Aussetzung der Weiterbehandlung mit dem neuen Medikament bis zum Vorliegen des
  305. in Auftrag gegebenen Lymphozytenstimulationstests (LTT), von dem man sich
  306. weitere Aufklärung versprach und der schließlich zum endgültigen Absetzen
  307. - 16 -
  308. des Medikaments führte, angesichts der erheblichen Gesundheitsrisiken für das
  309. Sehvermögen des Klägers zwingend für geboten hielt. Dies gilt umso mehr, als
  310. nach den Feststellungen des Berufungsgerichts dieser Test offensichtlich in
  311. gleicher Weise hätte durchgeführt werden können, wenn das Medikament nach
  312. der Entnahme der ersten Blutprobe vorläufig abgesetzt worden wäre. Im Hinblick auf die Tatsache, dass dessen Ergebnis schon drei bis vier Wochen später
  313. vorlag, bedurfte es mithin besonderer Umstände, die eine Fortsetzung der Medikation für diesen Zeitraum verständlich erscheinen ließen. Das Berufungsgericht führt hierfür lediglich allgemein die deutlich reduzierte Anfallshäufigkeit
  314. beim Kläger auf, ohne - wie die Revision mit Recht rügt - Stellung dazu genommen zu haben, welche alternative Behandlungsmöglichkeiten mit anderen
  315. Medikamenten in Betracht kamen, um die Anfälle bzw. die Häufigkeit ihres Auftretens beim Kläger in vertretbaren Grenzen zu halten. Das Berufungsgericht
  316. wird - falls es auf das Vorliegen eines groben Behandlungsfehlers noch ankommen sollte - erneut mit sachverständiger Hilfe zu prüfen haben, ob es aus
  317. objektiver Sicht noch verständlich ist, dass das Medikament nach Vorliegen des
  318. Schreibens der Universitäts-Augenklinik vom 4. Mai 1992 nicht zumindest vorläufig bis zum Vorliegen des Untersuchungsergebnisses des in Auftrag gegebenen Lymphozytenstimulationstests abgesetzt wurde.
  319. 30
  320. B. Auch die Begründung, mit der das Berufungsgericht eine Haftung der
  321. Beklagten wegen Verletzung der Aufklärungspflicht verneint hat, ist nicht frei
  322. von Rechtsfehlern.
  323. 31
  324. 1. Das Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass der
  325. Arzt, der eine neue und noch nicht allgemein eingeführte Behandlung mit einem
  326. neuen, noch nicht zugelassenen Medikament mit ungeklärten Risiken anwenden will, den Patienten nicht nur über die noch fehlende Zulassung, sondern
  327. auch darüber aufzuklären hat, dass unbekannte Risiken derzeit nicht auszu-
  328. - 17 -
  329. schließen sind (vgl. Senatsurteil vom 13. Juni 2006 - VI ZR 323/04 - aaO
  330. m.w.N.). Dies ist erforderlich, um den Patienten in die Lage zu versetzen, für
  331. sich sorgfältig abzuwägen, ob er sich nach der herkömmlichen Methode mit
  332. bekannten Risiken behandeln lassen möchte oder nach der neuen Methode
  333. unter besonderer Berücksichtigung der in Aussicht gestellten Vorteile und der
  334. noch nicht in jeder Hinsicht bekannten Gefahren.
  335. 32
  336. Nach dem damaligen Kenntnisstand musste zwar der Kläger noch nicht
  337. speziell auf das Risiko einer Augenschädigung hingewiesen werden; es fehlte
  338. aber nach den Feststellungen des Berufungsgerichts der Hinweis, dass das
  339. einzunehmende Medikament noch keine arzneimittelrechtliche Zulassung besaß und deshalb mit unbekannten Risiken zu rechnen war.
  340. 33
  341. 2. Die Revision wendet sich jedoch mit Recht dagegen, dass das Berufungsgericht eine hypothetische Einwilligung des Klägers in die Verabreichung
  342. des noch nicht zugelassenen Medikaments angenommen hat.
  343. 34
  344. a) Das Berufungsgericht ist insoweit zwar im Ansatz von der Rechtsprechung des erkennenden Senats ausgegangen, wonach sich die Behandlungsseite - allerdings nur unter strengen Voraussetzungen - darauf berufen kann,
  345. dass der Patient auch bei Erteilung der erforderlichen Aufklärung in die Behandlung eingewilligt hätte (vgl. etwa Urteil vom 15. März 2005 - VI ZR 289/03 VersR 2005, 834, 835 f. m.w.N.). Hat sie dies substantiiert dargelegt, muss der
  346. Kläger nachvollziehbar plausibel machen, warum er auch bei zureichender Aufklärung in einen Entscheidungskonflikt geraten wäre. Dazu hat das Berufungsgericht im Streitfall den Kläger auch - wie dies grundsätzlich erforderlich ist persönlich angehört.
  347. 35
  348. b) Gleichwohl halten seine Ausführungen zur hypothetischen Einwilligung
  349. der revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand, weil es zu hohe Anforderun-
  350. - 18 -
  351. gen an die Plausibilität eines Entscheidungskonflikts bei der Verabreichung eines noch nicht zugelassenen Medikaments gestellt hat.
  352. 36
  353. An die Voraussetzungen einer hypothetischen Einwilligung sind schon
  354. bei der "normalen Standardbehandlung" strenge Anforderungen zu stellen, damit das Aufklärungs- bzw. Selbstbestimmungsrecht des Patienten nicht unterlaufen wird (Senat, Urteile vom 5. Februar 1991 - VI ZR 108/90 - VersR 1991,
  355. 547, 548; vom 14. Juni 1994 - VI ZR 260/93 - VersR 1994, 1302; vom 17. März
  356. 1998 - VI ZR 74/97 - VersR 1998, 766, 767, jeweils m.w.N.). Da es sich bei einem Heilversuch mit einem noch nicht zugelassenen Medikament letztlich um
  357. einen medizinischen Versuch - wenngleich zu individuell-therapeutischen Zwecken - handelt, sind für das Vorliegen einer hypothetischen Einwilligung besonders strenge Maßstäbe anzulegen (ähnlich Hart MedR 1994, 94, 102; Bender
  358. aaO, 512 Fn. 9; Giesen aaO, S. 23, Fischer in FS für Deutsch, S. 545, 556 ff.).
  359. Dies wird dadurch bestätigt, dass die §§ 40 ff. AMG bei einer klinischen Prüfung
  360. eines neuen, noch nicht zugelassenen Medikaments grundsätzlich eine schriftliche Einwilligungserklärung des Patienten vorsehen. Das Arzneimittelgesetz
  361. war zwar im vorliegenden Fall nicht unmittelbar anwendbar, weil der Einsatz
  362. des Medikaments außerhalb einer im Haus der Beklagten zu 1 durchgeführten
  363. klinischen Prüfung erfolgte (vgl. zur damaligen Fassung des AMG vom
  364. 24. August 1976 nach dem Vierten Gesetz zur Änderung des Arzneimittelgesetzes vom 11. April 1990 - Laufs NJW 1993, 1497, 1498 Fn. 29; so auch heute: vgl. Kloesel/Cyran, AMG, 101. Akt.-Lief. 2006, § 40 RN 25; Deutsch VersR
  365. 2005, 1009 ff.). Dies darf jedoch nicht dazu führen, dass das Selbstbestimmungsrecht des Patienten und die erhöhten Anforderungen an eine wirksame
  366. tatsächliche Einwilligung über die (vorschnelle) Annahme einer hypothetischen
  367. Einwilligung in einen Heilversuch außerhalb des klinischen Prüfungsverfahrens
  368. umgangen werde.
  369. - 19 -
  370. 37
  371. Nach den Ausführungen des Berufungsgerichts hat sich der Kläger
  372. darauf berufen, dass er dann, wenn er gewusst hätte, dass das Medikament
  373. noch nicht zugelassen gewesen sei und deshalb die Gefahr noch nicht bekannter Nebenwirkungen bestanden hätte, dieses Mittel nicht genommen hätte bzw.
  374. in einen ernsten Entscheidungskonflikt geraten wäre, weil er wegen seiner bereits vorhandenen schweren Erkrankung nicht bereit gewesen sei, das Risiko
  375. einer weiteren Schädigung einzugehen. Dies genügte grundsätzlich, um einen
  376. Entscheidungskonflikt bei einem Heilversuch mit einem noch nicht zugelassenen Medikament plausibel zu machen und der Behandlungsseite die Beweislast
  377. dafür aufzubürden, dass sich der Patient bei hinreichender Aufklärung gleichwohl für den Heilversuch entschieden hätte. Soweit das Berufungsgericht darüber hinaus weitere Plausibilitätsüberlegungen anstellt, verkennt es, dass bei
  378. der Plausibilität des Entscheidungskonflikts auf die persönliche Entscheidungssituation des jeweiligen Patienten abzustellen ist. Was aus ärztlicher Sicht sinnvoll und erforderlich gewesen wäre und wie ein "vernünftiger Patient" sich verhalten haben würde, ist hingegen grundsätzlich nicht entscheidend (vgl. etwa
  379. Senatsurteil vom 17. März 1998 - VI ZR 74/97 - VersR 1998, 766). Der Tatrichter darf seine eigene Beurteilung des Konflikts nicht an die Stelle derjenigen des
  380. Patienten setzen (vgl. Senatsurteil vom 1. Februar 2005 - VI ZR 174/03 - VersR
  381. 2005, 694).
  382. - 20 -
  383. III.
  384. 38
  385. Nach alledem war das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache zur
  386. neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, damit es die noch erforderlichen Feststellungen nachholen kann.
  387. Müller
  388. Greiner
  389. Pauge
  390. Wellner
  391. Stöhr
  392. Vorinstanzen:
  393. LG Offenburg, Entscheidung vom 11.07.1995 - 3 O 490/94 OLG Karlsruhe in Freiburg, Entscheidung vom 02.02.2005 - 13 U 134/95 -