Search on legal documents using Tensorflow and a web_actix web interface
You can not select more than 25 topics Topics must start with a letter or number, can include dashes ('-') and can be up to 35 characters long.

190 lines
9.4 KiB

1 year ago
  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. BESCHLUSS
  3. V ZB 180/16
  4. vom
  5. 20. September 2017
  6. in der Abschiebungshaftsache
  7. Nachschlagewerk:
  8. ja
  9. BGHZ:
  10. nein
  11. BGHR:
  12. ja
  13. FamFG § 426 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1
  14. Im Haftaufhebungsverfahren darf sich das Gericht nicht auf die von dem
  15. Betroffenen vorgebrachten Gründe beschränken, sondern muss auch prüfen, ob der Grund für die Freiheitsentziehung aus anderen Erwägungen
  16. entfallen ist. Ergibt die gebotene Sachaufklärung im Haftaufhebungsverfahren (§ 26 FamFG), dass die Abschiebung nicht innerhalb des angeordneten
  17. Zeitraums durchführbar ist, ist die Haft nach § 426 Abs. 1 Satz 1
  18. FamFG von Amts wegen aufzuheben.
  19. BGH, Beschluss vom 20. September 2017 - V ZB 180/16 - LG Köln
  20. AG Köln
  21. ECLI:DE:BGH:2017:200917BVZB180.16.0
  22. -2-
  23. Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 20. September 2017 durch die
  24. Vorsitzende Richterin Dr. Stresemann, die Richterin Prof. Dr. Schmidt-Räntsch,
  25. den Richter Dr. Kazele, die Richterin Haberkamp und den Richter Dr. Hamdorf
  26. beschlossen:
  27. Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen werden der Beschluss der
  28. 34. Zivilkammer des Landgerichts Köln vom 18. November 2016 und
  29. der Beschluss des Amtsgerichts Köln vom 7. März 2016 aufgehoben.
  30. Es wird festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts Köln vom
  31. 7. März 2016 den Betroffenen im Haftzeitraum vom 9. März 2016 bis
  32. zum 7. April 2016 in seinen Rechten verletzt hat.
  33. Gerichtskosten werden nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden
  34. Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen werden der
  35. Stadt Köln auferlegt.
  36. Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt
  37. 5.000 €.
  38. Gründe:
  39. 1
  40. Der Betroffene, ein algerischer Staatsangehöriger, reiste zu einem nicht
  41. festgestellten Zeitpunkt in das Bundesgebiet ein. Am 8. Januar 2016 wurde er
  42. von Beamten der Bundespolizei am Hauptbahnhof in Köln ohne Ausweisdokumente angetroffen und vorläufig festgenommen. Die Abschiebung nach Algerien wurde ihm angedroht.
  43. -3-
  44. 2
  45. Auf Antrag der beteiligten Behörde hat das Amtsgericht mit Beschluss
  46. vom 9. Januar 2016 Haft zur Sicherung der Abschiebung bis zum 8. April 2016
  47. angeordnet. Einen Asylantrag hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
  48. mit Bescheid vom 18. Februar 2016 als offensichtlich unbegründet abgelehnt.
  49. Eine für den 25. Februar 2016 geplante Vorführung des Betroffenen bei dem
  50. algerischen Generalkonsulat in München wurde wegen eines Zellenbrandes in
  51. der Zentralen Abschiebungseinrichtung in Mühldorf (nachfolgend: ZAE Mühldorf) abgesagt. Am 1. März 2016 hat der Betroffene die Aufhebung der Haft
  52. beantragt. Das Amtsgericht hat den Antrag durch Beschluss vom 7. März 2016
  53. zurückgewiesen. Dagegen hat der Betroffene Beschwerde eingelegt und beantragt, im Falle einer Haftentlassung festzustellen, dass der Beschluss vom
  54. 7. März 2016 ihn ab dem 9. März 2016 in seinen Rechten verletzt hat. Die Beschwerde ist erfolglos gewesen. Mit der Rechtsbeschwerde verfolgt der Betroffene, der am 7. April 2016 aus der Haft entlassen worden ist, seinen Feststellungsantrag weiter.
  55. II.
  56. 3
  57. Das Beschwerdegericht meint, der Haftantrag sei zulässig und die Haft
  58. zu Recht auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5
  59. AufenthG gestützt worden. Es hätten keine Anhaltspunkte bestanden, dass eine
  60. Abschiebung innerhalb der Frist undurchführbar sei. Das Beschleunigungsgebot sei gewahrt. Die Vorführung des Betroffenen sei wegen des Zellenbrandes
  61. in der ZAE Mühldorf auf den 5., 6. oder 7. April 2016 verschoben worden. Dies
  62. sei hinzunehmen. Es sei der beteiligten Behörde nicht zuzumuten gewesen, auf
  63. das unvorhergesehene Hindernis durch sofortige Ersatztermine und Ausweichquartiere zu reagieren.
  64. III.
  65. -4-
  66. 4
  67. 1. Die Rechtsbeschwerde ist zulässig. Sie ist insbesondere gemäß § 70
  68. Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 FamFG statthaft. Sie bedarf auch dann keiner Zulassung,
  69. wenn bereits das Beschwerdegericht - wie hier - über einen Feststellungsantrag
  70. nach § 62 Abs. 1 FamFG entschieden hat und der Betroffene im Rechtsbeschwerdeverfahren die Überprüfung der Entscheidung verlangt (Senat, Beschluss vom 30. August 2012 - V ZB 12/12, InfAuslR 2013, 37 Rn. 4 mwN; Beschluss vom 2. Dezember 2015 - V ZB 143/13, InfAuslR 2016, 149 Rn. 2). Sie
  71. ist ferner statthaft mit dem Ziel, die Rechtsverletzung des Betroffenen durch die
  72. Zurückweisung des Antrags auf Haftaufhebung nach § 426 Abs. 2
  73. Satz 1 FamFG festzustellen (st. Rspr., vgl. nur Senat, Beschluss vom
  74. 28. April 2011 - V ZB 292/10, FGPrax 2011, 200 Rn. 7 f.; Beschluss vom
  75. 15. Dezember 2011 - V ZB 302/10, juris Rn. 12).
  76. 5
  77. Ist - wie hier - die Haftanordnung formell rechtskräftig geworden, kann
  78. die Rechtswidrigkeit der Haft erst ab dem Zeitpunkt des Eingangs des Haftaufhebungsantrags bei Gericht festgestellt werden (Senat, Beschluss vom
  79. 29. November 2012 - V ZB 170/12, InfAuslR 2013, 157 Rn. 7; Beschluss vom
  80. 1. Juni 2017 - V ZB 39/17, juris Rn. 7). Das ist hier beachtet.
  81. 6
  82. 2. Es kann dahin stehen, ob - worauf der Betroffene seinen Haftaufhebungsantrag in zulässiger Weise gestützt hat (vgl. dazu Senat, Beschluss vom
  83. 1. Juni 2017 - V ZB 39/17, juris Rn. 7 f.) - die Haftanordnung bereits nicht hätte
  84. ergehen dürfen, weil es an einem zulässigen Haftantrag fehlte bzw. der Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 AufenthG nicht vorlag.
  85. Die Rechtsbeschwerde ist schon deswegen begründet, weil das Amtsgericht
  86. die Haft unabhängig von dem Antrag des Betroffenen von Amts wegen hätte
  87. aufheben müssen (§ 426 Abs. 2 Satz 1 FamFG). Für das Amtsgericht haben
  88. sich in dem Haftaufhebungsverfahren hinreichende Anhaltspunkte ergeben,
  89. -5-
  90. dass eine Abschiebung des Betroffenen nach Algerien innerhalb des angeordneten Zeitraums nicht mehr durchgeführt werden konnte.
  91. 7
  92. a) Nach § 426 Abs. 1 Satz 1 FamFG ist der Beschluss, durch den eine
  93. Freiheitsentziehung angeordnet wird, von Amts wegen aufzuheben, wenn der
  94. Grund für die Freiheitsentziehung weggefallen ist. Da die Haft nach § 62 Abs. 3
  95. Satz 1 AufenthG der Sicherung der Abschiebung dient, darf sie nicht aufrechterhalten werden, wenn die gebotene Sachaufklärung ergibt, dass eine Abschiebung innerhalb des angeordneten Haftzeitraums nicht mehr durchgeführt werden kann (vgl. Senat, Beschluss vom 10. April 2014 - V ZB 110/13, juris Rn. 7
  96. zur Zurückschiebung; Beschluss vom 15. September 2016 - V ZB 43/16, NVwZ
  97. 2016, 1824 Rn. 4). Ergeben sich nach Anordnung der Haft für das Gericht hinreichende Anhaltspunkte, dass die Voraussetzungen der Freiheitsentziehung
  98. möglicherweise nicht (mehr) vorliegen, hat es deshalb gemäß § 26 FamFG den
  99. Sachverhalt aufzuklären (Senat, Beschluss vom 30. Oktober 2013 - V ZB 69/13,
  100. Asylmagazin 2014, 138 Rn. 7).
  101. 8
  102. b) Das gilt nicht nur im Beschwerdeverfahren (vgl. dazu Senat, Beschluss vom 10. April 2014 - V ZB 110/13, juris Rn. 7; Beschluss vom 15. September 2016 - V ZB 43/16, NVwZ 2016, 1824 Rn. 5), sondern auch im Haftaufhebungsverfahren. Dessen Zweck ist es zu verhindern, dass der Betroffene auf
  103. Grund einer Haftanordnung inhaftiert bleibt, die jedenfalls objektiv nicht (mehr)
  104. gerechtfertigt ist (vgl. Senat, Beschluss vom 1. Juni 2017 - V ZB 39/17, juris
  105. Rn. 7). Deshalb darf sich im Haftaufhebungsverfahren das Gericht nicht auf die
  106. von dem Betroffenen vorgebrachten Gründe beschränken, sondern muss auch
  107. prüfen, ob der Grund für die Freiheitsentziehung aus anderen Erwägungen entfallen ist. Ergibt die gebotene Sachaufklärung im Haftaufhebungsverfahren
  108. (§ 26 FamFG), dass die Abschiebung nicht innerhalb des angeordneten Zeit-
  109. -6-
  110. raums durchführbar ist, ist die Haft nach § 426 Abs. 1 Satz 1 FamFG von Amts
  111. wegen aufzuheben.
  112. 9
  113. c) So ist es hier. Die beteiligte Behörde hat dem Amtsgericht im Haftaufhebungsverfahren mitgeteilt, dass die für den 25. Februar 2016 vorgesehene
  114. Vorführung des Betroffenen beim algerischen Generalkonsulat in München wegen eines Zellenbrandes in der ZEA Mühldorf auf den 5., 6. oder 7. April 2016
  115. verlegt worden war. Das Amtsgericht hätte daraufhin die Grundlagen für die
  116. Fortdauer der Haft überprüfen müssen. Die Prognose hätte ergeben, dass die
  117. Abschiebung des Betroffenen nicht mehr innerhalb der bis zum 8. April 2016
  118. befristeten Haftdauer erfolgen konnte.
  119. 10
  120. d) Eine mögliche, aber (noch) nicht angeordnete Haftverlängerung ist
  121. dabei nicht zu berücksichtigen. Die Aufrechterhaltung der angeordneten Sicherungshaft bis zu der Entscheidung über eine Haftverlängerung ist nämlich nicht
  122. zulässig. Sie diente nicht mehr unmittelbar der Sicherung der Abschiebung. Eine nur mittelbare Sicherung dieses Zwecks sieht das Gesetz nicht vor (vgl. Senat, Beschluss vom 21. März 2013 - V ZB 122/12, juris Rn. 9; Beschluss vom
  123. 10. April 2014 - V ZB 110/13, juris Rn. 7). Das Gericht hat gleichwohl vor der
  124. beabsichtigten Aufhebung der Haft die Behörde anzuhören (§ 426 Abs. 2
  125. FamFG) und ihr eine - kurz bemessene - Stellungnahmefrist einzuräumen. Die
  126. Behörde kann dann ggf. einen neuen Haftantrag stellen.
  127. 11
  128. Ist ein Sachverhalt entstanden, aufgrund dessen sich der Schluss aufdrängt, dass die Voraussetzungen für die Freiheitsentziehung nicht mehr vorliegen, ist die Behörde ohnehin verpflichtet, das für die Beendigung der Abschiebungshaft Erforderliche zu veranlassen (OLG Düsseldorf, InfAuslR 2007, 454;
  129. OLG München, OLGR 2008, 107; OLG Zweibrücken, InfAuslR 2008, 456; Keidel/Budde, FamFG, 19. Aufl., § 426 Rn. 2; MüKoFamFG/Wendtland, 2. Aufl.,
  130. § 426 Rn. 3, 4).
  131. -7-
  132. 12
  133. 3. Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 74 Abs. 7 FamFG).
  134. Stresemann
  135. Schmidt-Räntsch
  136. Haberkamp
  137. Kazele
  138. Hamdorf
  139. Vorinstanzen:
  140. AG Köln, Entscheidung vom 07.03.2016 - 507c XIV 5/16 (B) LG Köln, Entscheidung vom 18.11.2016 - 34 T 71/16 -