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1 year ago
  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. BESCHLUSS
  3. V ZB 163/15
  4. vom
  5. 1. Juni 2017
  6. in der Abschiebungshaftsache
  7. Nachschlagewerk:
  8. ja
  9. BGHZ:
  10. nein
  11. BGHR:
  12. ja
  13. AufenthG § 62 Abs. 3 Satz 3
  14. a) Die Haftfähigkeit des Betroffenen zu prüfen, ist Aufgabe des Haftrichters.
  15. b) Ob die fehlende oder eingeschränkte Reisefähigkeit eine Aussetzung der Abschiebung (vgl. etwa § 60a Abs. 2 AufenthG) oder begleitende Maßnahmen erforderlich macht, haben dagegen die beteiligte Behörde und die Verwaltungsgerichte
  16. zu
  17. prüfen.
  18. Der
  19. Haftrichter
  20. hat
  21. nach
  22. §
  23. 62
  24. Abs.
  25. 3
  26. Satz
  27. 3
  28. AufenthG nur festzustellen, ob die Abschiebung nach den von der beteiligten Behörde ergriffenen Maßnahmen und im Hinblick auf etwaige von dem Betroffenen
  29. bei den Verwaltungsgerichten eingeleitete Verfahren voraussichtlich durchgeführt
  30. werden kann.
  31. BGH, Beschluss vom 1. Juni 2017 - V ZB 163/15 - LG Münster
  32. AG Borken
  33. ECLI:DE:BGH:2017:010617BVZB163.15.0
  34. -2-
  35. Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 1. Juni 2017 durch die
  36. Vorsitzende Richterin Dr. Stresemann, die Richterinnen Prof. Dr. SchmidtRäntsch und Dr. Brückner, den Richter Dr. Göbel und die Richterin Haberkamp
  37. beschlossen:
  38. Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 5. Zivilkammer
  39. des Landgerichts Münster vom 30. Oktober 2015 wird auf Kosten
  40. des Betroffenen zurückgewiesen.
  41. Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt
  42. 5.000 €.
  43. Gründe:
  44. I.
  45. 1
  46. Der Betroffene reiste am 26. September 1996 erstmals nach Deutschland ein und wurde nach einem erfolglosen Asylverfahren am 20. Juni 2006 in
  47. sein Heimatland Guinea abgeschoben. Am 24. November 2011 reiste er erneut
  48. nach Deutschland ein und stellte wiederum einen Asylantrag, den das zuständige Bundesamt mit Bescheid vom 10. Januar 2012 ablehnte. Eine für den
  49. 2. April 2012 angekündigte Abschiebung scheiterte daran, dass der Betroffene
  50. in
  51. seiner
  52. Unterkunft
  53. nicht
  54. angetroffen
  55. wurde
  56. und
  57. untertauchte.
  58. Am
  59. 13. August 2015 wurde er aus den Niederlanden nach Deutschland rücküberstellt.
  60. -3-
  61. 2
  62. Auf Antrag der beteiligten Behörde hat das Amtsgericht mit Beschluss
  63. vom 13. August 2015 gegen den Betroffenen Haft zur Sicherung von dessen
  64. Abschiebung nach Guinea bis zum 13. November 2015 angeordnet. Die Beschwerde des Betroffenen ist ohne Erfolg geblieben. Mit der Rechtsbeschwerde
  65. möchte er nach Auslaufen der Haft die Feststellung ihrer Rechtswidrigkeit erreichen.
  66. II.
  67. 3
  68. Nach Ansicht des Beschwerdegerichts war die angeordnete Haft rechtmäßig. Der Haftantrag sei zulässig gewesen. Der Haftgrund nach § 62 Abs. 3
  69. Satz 1 Nr. 3 AufenthG habe vorgelegen. Der Betroffene habe sich der Abschiebung am 2. April 2012 entzogen und sei dann untergetaucht. Er habe im Beschwerdeverfahren seine Reiseunfähigkeit nicht glaubhaft gemacht. Sie liege
  70. auch eher fern, weil er vor Beginn der Haft aus den Niederlanden rücküberstellt
  71. worden sei.
  72. III.
  73. 4
  74. Diese Erwägungen halten im Ergebnis einer rechtlichen Prüfung stand.
  75. 5
  76. 1. Das Beschwerdegericht musste den Betroffenen im Beschwerdeverfahren nicht erneut persönlich anhören. Etwas anderes ergibt sich entgegen
  77. dessen Ansicht nicht daraus, dass er Zweifel an seiner Reisefähigkeit dargelegt
  78. und die Notwendigkeit einer begleiteten Abschiebung geltend gemacht hat.
  79. 6
  80. a) Allerdings verletzt die Aufrechterhaltung der angeordneten Sicherungshaft durch das Beschwerdegericht die Rechte des Betroffenen nach
  81. Art. 104 Abs. 1 GG, wenn dessen zwingend gebotene erneute persönliche Anhörung unterbleibt; es kommt in diesem Fall auch nicht darauf an, ob die Haft in
  82. der Sache zu Recht aufrechterhalten worden ist. Das Beschwerdegericht ist
  83. -4-
  84. indessen im Unterschied zum Haftrichter nicht in jedem Fall verpflichtet, den
  85. Betroffenen vor seiner Entscheidung (erneut) persönlich anzuhören. Es darf
  86. davon vielmehr unter den in § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG genannten Voraussetzungen absehen. Zu einer Verletzung der Rechte des Betroffenen nach Art. 2
  87. Abs. 2 Satz 2, Art. 104 Abs. 1 GG führt ein Absehen von der erneuten persönlichen Anhörung des Betroffenen im Beschwerdeverfahren deshalb nur, wenn
  88. diese Voraussetzungen nicht vorlagen und die Anhörung auch im Beschwerdeverfahren zwingend geboten war (Senat, Beschluss vom 14. April 2016
  89. - V ZB 112/15, juris Rn. 12 mwN).
  90. 7
  91. b) Das war hier nicht der Fall.
  92. 8
  93. aa) Im Verlauf des Beschwerdeverfahrens hat der Betroffene allerdings
  94. unter Vorlage eines ärztlichen Attestes bezweifelt, ob er im Hinblick auf eine
  95. posttraumatische Belastungsstörung reisefähig sei. Die posttraumatische Belastungsstörung eines Betroffenen kann zwar auch im Verfahren der Freiheitsentziehung Bedeutung erlangen. Uneingeschränkt gilt das aber nur, wenn sie dessen Haftfähigkeit in Frage stellt. Denn diese zu prüfen ist Aufgabe des Haftrichters. Anders liegt es dagegen, wenn Bedenken gegen die Reisefähigkeit des
  96. Betroffenen erhoben und begleitende Maßnahmen gefordert werden. Ob die
  97. fehlende oder eingeschränkte Reisefähigkeit eine Aussetzung der Abschiebung
  98. (vgl. etwa § 60a Abs. 2 AufenthG) oder begleitende Maßnahmen erforderlich
  99. macht, haben die beteiligte Behörde und die Verwaltungsgerichte zu prüfen.
  100. Der Haftrichter hat nach § 62 Abs. 3 Satz 3 AufenthG nur festzustellen, ob die
  101. Abschiebung nach den von der beteiligten Behörde ergriffenen Maßnahmen
  102. und im Hinblick auf etwaige von dem Betroffenen bei den Verwaltungsgerichten
  103. eingeleitete Verfahren voraussichtlich durchgeführt werden kann. Dazu hat er
  104. eigene Ermittlungen anzustellen; insbesondere muss er sich über den Stand
  105. und die Erfolgsaussichten eines behördlichen oder verwaltungsgerichtlichen
  106. -5-
  107. Verfahrens erkundigen, in dem über das Vorliegen etwaiger Abschiebungshindernisse oder die Notwendigkeit begleitender Maßnahmen entschieden wird
  108. (zum Ganzen: Senat, Beschluss vom 14. April 2016 - V ZB 112/15, juris
  109. Rn. 16).
  110. 9
  111. bb) Danach bestimmt sich auch, wann das Beschwerdegericht den Betroffenen gemäß § 68 Abs. 3, § 420 FamFG erneut anzuhören hat. Das ist nicht
  112. schon dann der Fall, wenn sich im Beschwerdeverfahren Anzeichen für das
  113. Vorliegen eines Abschiebungshindernisses ergeben, sondern nur, wenn sich
  114. entweder neue Anhaltspunkte für die Haftunfähigkeit des Betroffenen oder ausreichende neue Anhaltspunkte dafür ergeben, dass es aufgrund des möglichen
  115. Abschiebungshindernisses zu einem Abbruch oder einer im angeordneten Haftzeitraum nicht zu bewältigenden Verzögerung der geplanten Abschiebung
  116. kommen könnte. Fehlt es an solchen Anhaltspunkten, kann das Beschwerdegericht nach § 68 Abs. 3 FamFG von einer erneuten Anhörung des Betroffenen
  117. absehen (Senat, Beschlüsse vom 10. Oktober 2012 - V ZB 274/11, FGPrax
  118. 2013, 40 Rn. 11 und vom 14. April 2016 - V ZB 112/15, juris Rn. 14).
  119. 10
  120. cc) Danach musste das Beschwerdegericht den Betroffenen nicht persönlich anhören.
  121. 11
  122. (1) Anhaltspunkte dafür, dass der Betroffene haftunfähig sein könnte bestanden nicht. Dieser hatte seine Reisefähigkeit bezweifelt und in der ergänzenden Stellungnahme vom 26. Oktober 2015 nur die Ansicht vertreten, die
  123. beteiligte Behörde habe zu prüfen, ob er derart krank sei, dass er nicht reisefähig oder gar haftunfähig sei, was aber auf dasselbe hinauslaufe. Er hat aber im
  124. Beschwerdeverfahren nicht einmal behauptet, dass er nicht haftfähig sei, oder
  125. dass er dies während der zu diesem Zeitpunkt schon etwa zwei Monate dauernden Sicherungshaft der Vollzugsverwaltung gegenüber geltend gemacht
  126. habe. Im Rechtsbeschwerdeverfahren macht er auch nur geltend, das Be-
  127. -6-
  128. schwerdegericht habe seiner Reisefähigkeit und der Notwendigkeit einer begleiteten Abschiebung nachgehen müssen.
  129. 12
  130. (2) Dazu war das Beschwerdegericht indessen nicht verpflichtet. Es hatte
  131. der Frage der Reisefähigkeit nicht nachzugehen, sondern nur zu prüfen, ob die
  132. beteiligte Behörde das Vorbringen des Betroffenen zum Anlass nahm, dieser
  133. Frage nachzugehen und von der Abschiebung vorerst abzusehen oder eine
  134. begleitete Abschiebung vorzusehen oder ob der Betroffene selbst wegen der
  135. Zweifel an seiner Reisefähigkeit und der Notwendigkeit einer begleiteten Abschiebung die Verwaltungsgerichte anrufen würde. Entsprechendes gilt für die
  136. weitere Frage, ob die posttraumatische Belastungsstörung, die der Betroffene
  137. geltend gemacht hatte, eine begleitete Abschiebung erforderlich machte. In diesem eingeschränkten Prüfungsrahmen zu berücksichtigende Umstände lagen
  138. nicht vor. Der Betroffene hatte weder mitgeteilt, die Verwaltungsgerichte angerufen zu haben, noch, dies noch tun zu wollen. Die beteiligte Behörde hat in
  139. ihrer Stellungnahme mitgeteilt, der Betroffene werde erforderlichenfalls vor der
  140. Abschiebung noch einmal medizinisch untersucht. Es erscheine aber nicht
  141. plausibel, dass er reiseunfähig sei, zumal er kürzlich erst aus den Niederlanden
  142. rücküberstellt worden sei. Es sei Sache des Betroffenen, gegebenenfalls bei
  143. den Verwaltungsgerichtsgerichten Rechtsschutz zu beantragen. Daraus ergab
  144. sich, dass die beteiligte Behörde keine Veranlassung sah, ihre Planungen zu
  145. ändern. Damit bestand für das Beschwerdegericht kein Anlass zu einer erneuten persönlichen Anhörung.
  146. -7-
  147. 13
  148. 2. Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 74 Abs. 7 FamFG abgesehen.
  149. Stresemann
  150. Schmidt-Räntsch
  151. Göbel
  152. Brückner
  153. Haberkamp
  154. Vorinstanzen:
  155. AG Borken, Entscheidung vom 13.08.2015 - 29 XIV (B) 17/15 LG Münster, Entscheidung vom 30.10.2015 - 5 T 538/15 -