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1 year ago
  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. IM NAMEN DES VOLKES
  3. URTEIL
  4. IX ZR 199/13
  5. Verkündet am:
  6. 25. September 2014
  7. Kluckow
  8. Justizangestellte
  9. als Urkundsbeamtin
  10. der Geschäftsstelle
  11. in dem Rechtsstreit
  12. Nachschlagewerk:
  13. ja
  14. BGHZ:
  15. nein
  16. BGHR:
  17. ja
  18. BGB §§ 675, 665
  19. a) Der Steuerberater ist ohne besonderen Anlass nicht verpflichtet, die Jahresberichte des Bundesfinanzhofs einzusehen.
  20. b) Der Steuerberater darf einen im Auftrag des Mandanten eingelegten Einspruch
  21. nicht eigenmächtig zurücknehmen.
  22. BGH, Urteil vom 25. September 2014 - IX ZR 199/13 - LG Stendal
  23. AG Stendal
  24. -2-
  25. Der IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
  26. vom 26. Juni 2014 durch die Richter Vill, Prof. Dr. Gehrlein, die Richterin
  27. Lohmann, den Richter Dr. Pape und die Richterin Möhring
  28. für Recht erkannt:
  29. Die Revision gegen das Urteil der Zivilkammer 3 des Landgerichts
  30. Stendal vom 24. Juli 2013 wird auf Kosten der Beklagten zurückgewiesen.
  31. Von Rechts wegen
  32. Tatbestand:
  33. 1
  34. Die beklagte Steuerberatergesellschaft beriet den Kläger steuerlich. Im
  35. Rahmen der Einkommensteuererklärung für das Jahr 2006 machte sie für ihn
  36. Mehraufwendungen für doppelte Haushaltsführung geltend, die dadurch entstanden waren, dass der Kläger seinen Hauptwohnsitz aus privaten Gründen
  37. verlegt, seine Wohnung am Ort seiner beruflichen Tätigkeit aber als Zweitwohnung beibehalten hatte. Das Finanzamt lehnte eine Berücksichtigung dieser
  38. Kosten ab. Die Beklagte legte weisungsgemäß Einspruch ein. Nachdem das
  39. Finanzamt erklärt hatte, an seiner bisherigen Rechtsauffassung festhalten zu
  40. wollen, nahm die Beklagte den Einspruch am 12. Februar 2009 ohne Rücksprache mit dem Kläger zurück.
  41. -3-
  42. 2
  43. Am 5. März 2009 änderte der Bundesfinanzhof seine Rechtsprechung.
  44. Eine beruflich begründete doppelte Haushaltsführung sei auch dann anzunehmen, wenn die Hauptwohnung verlegt und die bisherige Wohnung als Zweitwohnung am Beschäftigungsort beibehalten werde (VI R 23/07, BFHE 224,
  45. 420; VI R 58/06, BFHE 224, 413; VI R 53/07, nv; VI R 31/08, BFH/NV 2009,
  46. 1256).
  47. 3
  48. Der Kläger verlangt nunmehr Schadensersatz in Höhe des Betrages, um
  49. den sich seine Steuerschuld bei Berücksichtigung des Mehraufwandes reduziert hätte. Das Amtsgericht hat die Beklagte unter Abweisung der weitergehenden Klage zur Zahlung von 1.108,06 € nebst Zinsen verurteilt. Die Berufung
  50. der Beklagten ist erfolglos geblieben. Mit ihrer vom Berufungsgericht zugelassenen Revision will die Beklagte weiterhin die Abweisung der Klage erreichen.
  51. Entscheidungsgründe:
  52. 4
  53. Die Revision bleibt im Ergebnis ohne Erfolg.
  54. I.
  55. 5
  56. Das Berufungsgericht hat ausgeführt: Die nicht mit dem Kläger abgestimmte Rücknahme des Einspruchs stelle eine erhebliche Verletzung der
  57. Pflichten aus dem Beratungsvertrag dar. Die Beklagte hätte von der möglicherweise bevorstehenden Änderung der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs
  58. wissen müssen. Sie sei zwar nicht gehalten gewesen, eine im Jahr 2008 in der
  59. -4-
  60. Zeitschrift "Der Ertragssteuerberater" (EStB 2008, 27) veröffentlichte Rechtsprechungsübersicht zur Kenntnis zu nehmen, in welcher das Problem behandelt worden sei, weil diese Zeitschrift nicht zur Pflichtlektüre eines Steuerberaters gehöre. Sie hätte jedoch den Jahresbericht des Bundesfinanzhofs für das
  61. Jahr 2007 lesen müssen. Die im Internet veröffentlichten Jahresberichte seien
  62. frei verfügbar und wiesen - übersichtlich gegliedert - auf wenigen Seiten die
  63. wichtigsten anhängigen Revisionsverfahren aus. Im Jahresbericht 2007 sei unter Punkt D. I. 2 unter dem Schlagwort "Doppelte Haushaltsführung in Wegverlegungsfällen" über das im sechsten Senat anhängige Revisionsverfahren VI R
  64. 23/07 berichtet worden. Ob der Jahresbericht für das Jahr 2008 bereits im Netz
  65. gestanden habe und damit für die Beklagte verfügbar gewesen sei, könne dahinstehen. Der Bundesfinanzhof habe dem Verfahren VI R 23/07 ersichtlich eine besondere Bedeutung beigemessen. Bei dieser Sachlage sei die Beklagte
  66. verpflichtet gewesen, vor der Rücknahme des Einspruchs Rücksprache mit
  67. dem Kläger zu nehmen.
  68. II.
  69. 6
  70. Diese Ausführungen tragen die angefochtene Entscheidung nicht. Der
  71. Beklagten kann nicht vorgeworfen werden, dass sie im Zeitpunkt der Rücknahme des Einspruchs vom Fortbestand der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs zu den Voraussetzungen der einkommensteuerrechtlichen Berücksichtigung einer doppelten Haushaltsführung ausgegangen ist.
  72. 7
  73. 1. Allerdings gab es im Zeitpunkt der Rücknahme des Einspruchs am
  74. 12. Februar 2009 die vom Berufungsgericht festgestellten Anhaltspunkte für
  75. eine bevorstehende Änderung der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs.
  76. -5-
  77. 8
  78. a) Nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 EStG in der seinerzeit maßgeblichen
  79. Fassung vom 15. Dezember 2003 (BGBl. I, 2645) stellten notwendige Mehraufwendungen, die einem Arbeitnehmer wegen einer aus beruflichem Anlass
  80. begründeten doppelten Haushaltsführung entstanden, abzugsfähige Werbungskosten dar. Eine doppelte Haushaltsführung lag vor, wenn der Arbeitnehmer außerhalb des Ortes, an dem er einen eigenen Hausstand unterhielt,
  81. beschäftigt war und auch am Beschäftigungsort wohnte (§ 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5
  82. Satz 2 EStG). Der Bundesfinanzhof verneinte in ständiger Rechtsprechung die
  83. berufliche Veranlassung einer doppelten Haushaltsführung, wenn der Steuerpflichtige die Familienwohnung aus privaten Gründen vom Beschäftigungsort
  84. wegverlegt hatte und von der am Beschäftigungsort beibehaltenen oder von
  85. einer dort neu begründeten Zweitwohnung aus seiner bisherigen Beschäftigung
  86. weiter nachging (BFHE 115, 322, 325 f; 126, 511, 513 f; 126, 518, 520; vgl.
  87. auch BFHE 224, 420, 423); die doppelte Haushaltsführung sei in einem solchen
  88. Fall nicht beruflich, sondern privat veranlasst.
  89. 9
  90. b) Die zitierte Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs wurde in der
  91. Kommentar- und Aufsatzliteratur kritisiert (vgl. etwa Schmidt/Drenseck, EStG,
  92. 27. Aufl., § 9 Rn. 147 sowie die Nachweise bei BFHE 224, 420, 423). Das
  93. Amtsgericht hat eine in der Zeitschrift EStB 2008, 27 veröffentlichte Rechtsprechungsübersicht herangezogen, in welcher auf das Revisionsverfahren VI R
  94. 23/07 hingewiesen worden ist. Das Revisionsverfahren VI R 23/07 wurde überdies in den Jahresberichten des Bundesfinanzhofs von 2008 und 2009 erwähnt.
  95. Im Jahresbericht 2009 wurden unter der Überschrift "Doppelte Haushaltsführung in Wegverlegungsfällen" weitere anhängige Revisionsverfahren aufgeführt
  96. (VI R 58/06, VI R 53/07 und VI R 31/08). Ob dieser Bericht im Zeitpunkt der
  97. Einspruchsrücknahme bereits im Internet abrufbar war, hat das Berufungsge-
  98. -6-
  99. richt allerdings nicht feststellen können. Alle genannten Revisionsverfahren finden sich schließlich auch in der monatlich als Anlage zum Bundessteuerblatt
  100. erscheinenden Liste der beim Bundesfinanzhof, Bundesverfassungsgericht und
  101. Europäischen Gerichtshof anhängigen Verfahren in Steuersachen.
  102. 10
  103. 2. Der Beklagten gereicht es auf der Grundlage des vom Berufungsgericht festgestellten Sachverhalts jedoch nicht zum Verschulden, dass sie diese
  104. Hinweise nicht wahrgenommen hat.
  105. 11
  106. a) Grundsätzlich darf der Steuerberater auf den Fortbestand einer
  107. höchstrichterlichen Rechtsprechung vertrauen. Wegen der richtungsweisenden
  108. Bedeutung, die höchstrichterlichen Entscheidungen für die Rechtswirklichkeit
  109. zukommt, hat sich der Berater bei der Wahrnehmung seines Mandats grundsätzlich an dieser Rechtsprechung auszurichten; denn von einer gefestigten
  110. höchstrichterlichen Rechtsprechung pflegt nur in Ausnahmefällen abgewichen
  111. zu werden. Maßgeblich ist die jeweils aktuelle höchstrichterliche Rechtsprechung im Zeitpunkt der Beratung. Über deren Entwicklung muss sich der Berater anhand der amtlichen Sammlungen und der einschlägigen Fachzeitschriften
  112. unterrichten.
  113. 12
  114. b) Eine Änderung der Rechtsprechung hat der Berater allerdings dann in
  115. Betracht zu ziehen, wenn ein oberstes Gericht sie in Aussicht stellt oder neue
  116. Entwicklungen in Rechtsprechung und Rechtswissenschaft Auswirkungen auf
  117. eine ältere Rechtsprechung haben können und es zu einer bestimmten Frage
  118. an neueren höchstrichterlichen Erkenntnissen fehlt. Eine Verpflichtung des Beraters, die Rechtsprechung der Instanzgerichte und das Schrifttum einschließlich der Aufsatzliteratur heranzuziehen, kann ausnahmsweise auch dann bestehen, wenn ein Rechtsgebiet aufgrund eindeutiger Umstände in der Entwicklung
  119. -7-
  120. begriffen und neue höchstrichterliche Rechtsprechung zu erwarten ist. Hat der
  121. Berater eine Angelegenheit aus einem solchen Bereich zu bearbeiten, muss er
  122. auch Spezialzeitschriften in angemessener Zeit durchsehen, wobei ihm ein realistischer Toleranzrahmen zuzubilligen ist. Es kommt auf die besonderen Umstände des Einzelfalls an. Dabei ist darauf abzustellen, mit welchem Grad an
  123. Deutlichkeit (Evidenz) eine neue Rechtsentwicklung in eine bestimmte Richtung
  124. weist und eine neue Antwort auf eine bisher anders entschiedene Frage nahe
  125. legt. Ferner kann ins Gewicht fallen, mit welchem Aufwand - auch an Kosten der neuen Rechtsentwicklung im Interesse des Mandanten Rechnung getragen
  126. werden kann (BGH, Urteil vom 6. November 2008 - IX ZR 140/07, BGHZ 178,
  127. 258 Rn. 9; vom 23. September 2010 - IX ZR 26/09, WM 2010, 2050 Rn. 17).
  128. 13
  129. c) Der Jahresbericht des Bundesfinanzhofs ist nicht Teil der amtlichen
  130. Sammlung und gehört nicht zu den einschlägigen Fachzeitschriften, welche ein
  131. Steuerberater auszuwerten hat.
  132. 14
  133. aa) Welche Zeitschriften dies sind, hat der Senat bisher offen gelassen.
  134. Die Frage bedarf auch im vorliegenden Fall keiner Entscheidung. In Betracht
  135. kommen vor allem das vom Bundesfinanzministerium herausgegebene Bundessteuerblatt und die von der Bundessteuerberaterkammer herausgegebene
  136. Zeitschrift "Deutsches Steuerrecht". Es muss sich um Zeitschriften handeln,
  137. welche die für die Beratungspraxis benötigten Informationen dank einer redaktionellen Aufarbeitung gebündelt auffinden lassen. Da der Berater nicht nur die
  138. höchstrichterliche Rechtsprechung, sondern auch die aktuellen Entwicklungen
  139. in Gesetzgebung und Literatur zu verfolgen hat, kann von ihm nicht die Kenntnis jeder einzelnen Entscheidung des Bundesfinanzhofs erwartet werden. Auch
  140. reine Entscheidungssammlungen, etwa die Zeitschrift BFH/NV, braucht er daher nicht vollständig auszuwerten. Er darf vielmehr darauf vertrauen, über etwa-
  141. -8-
  142. ige neue Rechtsentwicklungen durch die allgemeinen steuerrechtlichen Fachpublikationen unterrichtet zu werden (BGH, Urteil vom 23. September 2010,
  143. aaO, Rn. 24 ff).
  144. 15
  145. bb) Hinsichtlich der noch nicht ergangenen, sondern erst bevorstehenden höchstrichterlichen Entscheidungen können keine höheren Anforderungen
  146. gestellt werden. Ein Steuerberater ist nicht gehalten, die monatlich als Anlage
  147. zum Bundessteuerblatt erscheinende Liste der beim Bundesfinanzhof anhängigen Verfahren durchzusehen (BGH, Urteil vom 6. November 2008, aaO
  148. Rn. 25). Gleiches gilt für die Jahresberichte des Bundesfinanzhofs. Dem Berufungsgericht ist zuzugeben, dass eine Durchsicht dieser Berichte ohne großen
  149. Aufwand möglich ist. Ihnen ist ein Inhaltsverzeichnis vorausgestellt, welches
  150. das Auffinden der eingegangenen Revisionen von besonderem Interesse (Abschnitt D) und der zu erwartenden Entscheidungen von besonderer Bedeutung
  151. (Abschnitt E) in den einzelnen Rechtsgebieten erleichtert. Adressat der Jahresberichte ist jedoch nicht der einzelne Steuerberater. Sie stehen im Zusammenhang mit der Jahrespressekonferenz des Bundesfinanzhofs, auf welcher der
  152. Präsident oder die Präsidentin des Gerichts die Geschäftsentwicklung des vergangenen Jahres erläutert, einen Überblick über im Berichtsjahr neu eingegangene wichtige Streitverfahren gibt und zudem auf Verfahren von besonderem
  153. Interesse hinweist, die im laufenden Jahr zur Entscheidung anstehen. Der jeweilige Jahresbericht wird an die Teilnehmer dieser Veranstaltung verteilt und
  154. anschließend auf der Internetseite des Gerichts veröffentlicht. Auch wenn der
  155. Bericht also jedermann zugänglich ist, richtet er sich doch vorrangig an die Vertreter der allgemeinen Presse und der Fachpresse, die ihn publizistisch verwerten. Der einzelne Steuerberater kann sich darauf verlassen, die für ihn bedeutsamen Informationen der allgemeinen Presse und der Fachliteratur entnehmen
  156. zu können.
  157. -9-
  158. 16
  159. d) Die Zeitschrift "Der Ertragsteuerberater" gehört nicht zur Pflichtlektüre
  160. eines Steuerberaters. Gegenteiliges folgt entgegen der Ansicht der Revisionserwiderung nicht daraus, dass "sogar" das Amtsgericht, ein Zivilgericht, den hier
  161. einschlägigen Aufsatz EStB 2008, 27 aufgefunden habe. Eine DatenbankRecherche zum Themenkreis der Wegverlegungsfälle mit dem bekannten Aktenzeichen VI R 23/07 führt sehr schnell zu diesem Aufsatz und zu weiteren
  162. Aufsätzen in der genannten Zeitschrift. Allein deshalb muss diese jedoch nicht
  163. von jedem Berater fortlaufend gelesen werden. Dass die seit dem Jahre 2004
  164. beim Bundesfinanzhof anhängigen Revisionsverfahren Gegenstand eines Aufsatzes oder einer Anmerkung in einer allgemeinen Fachzeitschrift gewesen wäre, hat der insoweit darlegungs- und beweispflichtige Kläger in den Tatsacheninstanzen nicht dargetan. Entgegen der Ansicht der Revisionserwiderung ist es
  165. nicht Sache der Beklagten darzulegen, in welchen von ihr ausgewerteten Zeitschriften das Thema "Wegverlegungsfälle" nicht behandelt worden ist. Darlegungs- und beweispflichtig für eine Pflichtverletzung des Beraters ist grundsätzlich der Mandant, der Schadensersatz verlangt.
  166. III.
  167. 17
  168. Das angefochtene Urteil erweist sich jedoch aus anderen Gründen als
  169. richtig (§ 561 ZPO).
  170. - 10 -
  171. 18
  172. 1. Die Beklagte hat gegen ihre Pflichten aus dem Beratungsvertrag verstoßen, indem sie den Einspruch gegen den Einkommensteuerbescheid eigenmächtig, ohne Rücksprache mit dem Kläger, zurückgenommen hat.
  173. 19
  174. a) Grundsätzlich ist der rechtliche Berater - der Steuerberater ebenso wie
  175. der Rechtsanwalt - verpflichtet, die Weisungen seines Mandanten zu befolgen
  176. (vgl. BGH, Urteil vom 20. Februar 1968 - VI ZR 24/66, VersR 1968, 792, 794;
  177. vom 10. Juni 1980 - VI ZR 127/79, VersR 1980, 925; vom 20. März 1984
  178. - VI ZR 154/82, WM 1984, 1024; vom 15. November 2007 - IX ZR 44/04, BGHZ
  179. 174, 205 Rn. 8; Vill in Zugehör/G. Fischer/Vill/D. Fischer/Rinkler/Chab, Handbuch der Anwaltshaftung, 3. Aufl., Rn. 841). Nach § 675 Abs. 1, § 665 BGB ist
  180. er zwar berechtigt, von den Weisungen des Auftraggebers abzuweichen, wenn
  181. er den Umständen nach annehmen darf, dass der Auftraggeber bei Kenntnis
  182. der Sachlage die Abweichung billigen würde. Vor der Abweichung hat er jedoch
  183. dem Auftraggeber Anzeige zu machen und dessen Entschließung abzuwarten,
  184. wenn nicht mit dem Aufschub Gefahr verbunden ist. Der Auftraggeber trägt das
  185. Misserfolgs- und Kostenrisiko des Auftrags; deswegen hat er und nicht der Berater die grundlegenden Entscheidungen darüber zu treffen, in welcher Weise
  186. seine Interessen wahrgenommen werden sollen (Vill, aaO Rn. 842, 844). Der
  187. Berater darf, auch wenn er über ein höheres Maß an Sachkunde und Erfahrung
  188. in schwierigen Rechts- und Sachlagen verfügt, nicht seine Entscheidung an die
  189. Stelle derjeniger seines Mandanten setzen. Weicht der Berater von einer Weisung des Mandanten ab, liegt darin eine Pflichtverletzung, die ihn zum Schadensersatz verpflichten kann (BGH, Urteil vom 15. November 2007, aaO). Anspruchsgrundlage ist insoweit § 280 BGB (Soergel/Beuthien, BGB, 13. Aufl.,
  190. § 665 Rn. 17; MünchKomm-BGB-Seiler, BGB, 6. Aufl., § 665 Rn. 36; Staudinger/Martinek,
  191. BGB
  192. (2006),
  193. § 665
  194. Rn. 27;
  195. Fehrenbacher
  196. in
  197. Prüt-
  198. - 11 -
  199. ting/Wegen/Weinreich, BGB, 9. Aufl., § 665 Rn. 7; vgl. zum alten Schuldrecht
  200. Knütel, ZHR 137 (1973), 285, 324 f).
  201. 20
  202. b) Indem die Beklagte den Einspruch zurückgenommen hat, hat sie gegen eine Weisung des Klägers verstoßen. Wird ein Steuerberater beauftragt,
  203. Einspruch gegen einen Steuerbescheid einzulegen, heißt das in aller Regel zugleich, dass der auftragsgemäß eingelegte Einspruch durchgeführt und nicht
  204. zurückgenommen werden soll. Anhaltspunkte dafür, dass das im vorliegenden
  205. Fall anders gewesen sein könnte, hat keine der Parteien vorgetragen.
  206. 21
  207. c) Die Beklagte ist nach dem Hinweis des zuständigen Finanzamts auf
  208. die Aussichtslosigkeit des Einspruchs und aufgrund der ihr bekannten Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs zu den Voraussetzungen der steuerlichen
  209. Abzugsfähigkeit der Kosten einer doppelten Haushaltsführung wohl davon ausgegangen, dass der Kläger einer Rücknahme des Einspruchs zustimmen würde. Gleichwohl hätte sie ihn von ihrer Absicht, den Einspruch zurückzunehmen,
  210. in Kenntnis setzen und seine Entscheidung abwarten müssen. Ausreichend Zeit
  211. hätte sie gehabt. Dass Gefahr im Verzug gewesen wäre, hat die für die tatsächlichen Voraussetzungen einer berechtigten Abweichung nach § 665 BGB darlegungs- und beweispflichtige Beklagte (vgl. MünchKomm-BGB/Seiler, aaO
  212. Rn. 40) nicht vorgetragen. Ihr Handeln war schuldhaft; denn seine Vertragspflichten, insbesondere die Vorschrift des § 665 BGB, hat der Steuerberater zu
  213. kennen.
  214. 22
  215. 2. Die in der unterbliebenen Rückfrage liegende Pflichtverletzung hat den
  216. geltend gemachten Schaden verursacht.
  217. - 12 -
  218. 23
  219. a) Verletzt der Steuerberater eine Vertragspflicht, so kann der Mandant
  220. Ersatz des hierdurch entstandenen Schadens verlangen (§ 280 Abs. 1 Satz 1
  221. BGB). Zwischen der Pflichtverletzung und dem geltend gemachten Schaden
  222. muss also eine ursächliche Verknüpfung in dem Sinne bestehen, dass das dem
  223. Berater vorgeworfene Handeln oder Unterlassen nicht hinweggedacht werden
  224. kann, ohne dass der Erfolg entfällt (G.
  225. Fischer in
  226. Zugehör/G. Fi-
  227. scher/Vill/D. Fischer/Rinkler/Chab, aaO Rn. 1097). Wird dem Berater ein Unterlassen vorgeworfen, ist folglich zu prüfen, ob der Erfolg auch dann eingetreten
  228. wäre, wenn die unterbliebene Handlung vorgenommen worden wäre. Im hier
  229. gegebenen Fall eines Verstoßes gegen die aus § 665 Satz 2 BGB folgende
  230. Pflicht zur Rücksprache mit dem Mandanten setzt eine Schadensersatzpflicht
  231. daher voraus, dass der Mandant eine andere Weisung erteilt hätte (Staudinger/Martinek, BGB (2006) § 665 Rn. 27). Damit ist ein hypothetischer Kausalverlauf zu prüfen. Entgegen der in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat
  232. geäußerten Ansicht des Klägers und Revisionsbeklagten geht es insoweit jedoch nicht um die Fragen des rechtmäßigen Alternativverhaltens und der hypothetischen Kausalität, sondern allein um die Anspruchsvoraussetzung der Kausalität der unterlassenen Nachfrage für den entstandenen Schaden (vgl. G. Fischer, aaO Rn. 1098; BGH, Urteil vom 16. Juni 1988 - IX ZR 69/87, WM 1988,
  233. 1454, 1156 f zur Notarhaftung; vom 2. Juli 1992 - IX ZR 256/91, WM 1992,
  234. 2020, 2022 zur Anwaltshaftung).
  235. 24
  236. b) Feststellungen dazu, wie sich der Kläger auf eine Rückfrage der Beklagten hin verhalten hätte, hat das Berufungsgericht nicht getroffen. In den
  237. Tatsacheninstanzen hat die Beklagte mehrfach vorgetragen, dass der Kläger
  238. dann, wenn er auf die ablehnende Stellungnahme des Finanzamtes hingewiesen worden wäre, den Einspruch zurückgenommen hätte. Der Kläger hat dem-
  239. - 13 -
  240. gegenüber darauf verwiesen, dass er Einspruch eingelegt habe, um eine Entscheidung in der Sache zu erreichen. Darlegungs- und beweispflichtig für den
  241. Kausalzusammenhang zwischen der Pflichtverletzung und dem Schaden ist der
  242. geschädigte Mandant (BGH, Urteil vom 30. September 1993 - IX ZR 73/93,
  243. BGHZ 123, 311, 313; vom 5. Februar 2009 - IX ZR 6/06, WM 2009, 715 Rn. 7).
  244. Der Kläger, der insbesondere gemäß § 287 Abs. 1 Satz 3 ZPO seine Vernehmung als Partei hätte anbieten können (vgl. BGH, Urteil vom 16. Oktober 2003
  245. - IX ZR 167/02, WM 2004, 472, 474; vom 21. Juli 2005 - IX ZR 49/02, WM
  246. 2005, 2110, 2111), hat in den Tatsacheninstanzen keinen Beweis angetreten.
  247. 25
  248. c) Der Kläger hätte allerdings auch von Amts wegen vernommen werden
  249. können (vgl. BGH, Urteil vom 18. Mai 2006 - IX ZR 53/05, WM 2006, 1736
  250. Rn. 18); dazu oder zu einem rechtlichen Hinweis (§ 139 ZPO) haben die Vorinstanzen von ihrem abweichenden rechtlichen Standpunkt aus keinen Anlass
  251. gesehen. Im Ergebnis erweist sich die Klage unabhängig von der unterbliebenen Beweisaufnahme als begründet, so dass der Senat von der Aufhebung des
  252. angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht abzusehen und die Revision der Beklagten zurückzuweisen hat (§ 563
  253. Abs. 3 ZPO).
  254. 26
  255. aa) Die Frage, wie sich der Mandant auf eine gemäß § 665 Satz 2 BGB
  256. geschuldete Rückfrage verhalten hätte, gehört ebenso wie diejenige nach der
  257. Reaktion auf eine pflichtgemäße Beratung hin zur haftungsausfüllenden Kausalität, die nach § 287 Abs. 1 ZPO zu beurteilen ist (BGH, Urteil vom 11. Mai 1995
  258. - IX ZR 140/94, BGHZ 129, 386, 399; vom 20. März 2008 - IX ZR 104/05, WM
  259. 2008, 1042 Rn. 12; G. Fischer, aaO Rn. 1100; Gehrlein, Anwalts- und Steuerberaterhaftung, 2. Aufl., S. 65). Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kommen im Rahmen der Beraterhaftung unter bestimmten Voraus-
  260. - 14 -
  261. setzungen Beweiserleichterungen in Betracht, dann nämlich, wenn im Hinblick
  262. auf die Interessenlage oder andere objektive Umstände der Ursachenzusammenhang zwischen der Pflichtverletzung des Beraters und einem bestimmten
  263. Verhalten des Mandanten typischerweise gegeben ist. Es handelt sich um einen Anwendungsfall des Anscheinsbeweises (BGH, Urteil vom 30. September
  264. 1993 - IX ZR 73/93, BGHZ 123, 311, 314 ff; vom 20. März 2008 - IX ZR 104/05,
  265. WM 2008, 1042 Rn. 12; Beschluss vom 15. Mai 2014 - IX ZR 267/12, WM
  266. 2014, 1379 Rn. 2; G. Fischer, aaO Rn. 1113).
  267. 27
  268. bb) Im vorliegenden Fall spricht der Beweis des ersten Anscheins dafür,
  269. dass der Kläger die Anregung des Finanzamtes und der Beklagten, den Einspruch zurückzunehmen, nicht aufgegriffen hätte. Er hatte trotz der seinem Anliegen entgegenstehenden Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs Einspruch
  270. gegen den Steuerbescheid einlegen lassen. Er konnte die steuermindernde
  271. Berücksichtigung der Kosten der doppelten Haushaltsführung nur dann erreichen, wenn er den Einspruch aufrecht erhielt und nicht zurücknehmen ließ.
  272. Gründe, die aus Sicht des Klägers für eine Rücknahme des Einspruchs sprechen könnten, sind von der Beklagten nicht dargetan worden und sind auch
  273. nicht ersichtlich. Insbesondere konnte der Kläger, wie er im Berufungsverfahren
  274. - 15 -
  275. dargelegt hat, hierdurch keine Kosten sparen. Die Kosten der Steuerberatung
  276. waren bereits mit der Einlegung und Begründung des Einspruchs angefallen;
  277. die Einspruchsentscheidung des Finanzamts wäre kostenfrei ergangen.
  278. Vill
  279. Gehrlein
  280. Pape
  281. Lohmann
  282. Möhring
  283. Vorinstanzen:
  284. AG Stendal, Entscheidung vom 17.07.2012 - 3 C 959/11 (4.0) LG Stendal, Entscheidung vom 24.07.2013 - 23 S 2/13 -