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1 year ago
  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. BESCHLUSS
  3. 2 StR 158/10
  4. vom
  5. 14. Juli 2010
  6. in der Strafsache
  7. gegen
  8. wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht
  9. geringer Menge
  10. -2-
  11. Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts und des Beschwerdeführers am 14. Juli 2010 gemäß § 349 Abs. 4
  12. StPO beschlossen:
  13. Auf die Revision des Angeklagten M.
  14. wird das Urteil des Land-
  15. gerichts Frankfurt am Main vom 16. November 2009, soweit es
  16. ihn betrifft, mit den Feststellungen aufgehoben.
  17. Die Sache wird insoweit zu neuer Verhandlung und Entscheidung,
  18. auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
  19. Gründe:
  20. 1
  21. Das Landgericht hat den Angeklagten wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln (Heroin) in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und neun Monaten verurteilt. Mit der hiergegen gerichteten
  22. Revision rügt der Angeklagte die Verletzung formellen und materiellen Rechts.
  23. Die Revision hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg.
  24. 2
  25. 1. Die Revision rügt die fehlende Verlesung der Anklage (§ 243 Abs. 3
  26. Satz 1 StPO) und beruft sich insoweit auf das Hauptverhandlungsprotokoll, das
  27. eine Verlesung nicht ausweist.
  28. -3-
  29. 3
  30. Die Begründung der Revision ist am 1. Februar 2010 beim Landgericht
  31. eingegangen und war zunächst inhaltlich unbeachtet geblieben. Am 19. Februar
  32. 2010 hat die Staatsanwaltschaft unter Hinweis auf die vorgenannte Rüge die
  33. Akten dem Landgericht zurückgesandt. Daraufhin haben am 23. Februar 2010
  34. die Berufsrichter, die Protokollführerin und der Dolmetscher sowie - nach Rücksendung der Akten - am 24. Februar 2010 der Vertreter der Staatsanwaltschaft
  35. in dienstlichen Erklärungen versichert, die Anklage sei verlesen worden.
  36. 4
  37. 2. Die Revision beruft sich zu Recht auf eine Verletzung des § 243
  38. Abs. 3 Satz 1 StPO. Da dem Hauptverhandlungsprotokoll eine Verlesung der
  39. Anklage nicht zu entnehmen ist, ergibt sich im Hinblick auf die Beweiskraft des
  40. Protokolls (§ 274 StPO), dass eine Verlesung der Anklage nicht stattgefunden
  41. hat. Das Protokoll ist auch weder lückenhaft noch widersprüchlich, sondern insoweit eindeutig.
  42. 5
  43. a) Nach § 274 Satz 1 StPO kann die Beobachtung der für die Hauptverhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten nur durch das Protokoll bewiesen
  44. werden. Als Gegenbeweis lässt das Gesetz nur den Nachweis der Fälschung
  45. zu (§ 274 Satz 2 StPO). Darüber hinaus kann zwar nach der Entscheidung des
  46. Großen Senats für Strafsachen des Bundesgerichtshofs durch eine nachträgliche Berichtigung des Protokolls auch einer bereits ordnungsgemäß erhobenen
  47. Verfahrensrüge zum Nachteil des Revisionsführers die Tatsachengrundlage
  48. entzogen werden (BGHSt 51, 298; BVerfG NJW 2009, 1469). Eine solche nachträgliche Protokollberichtigung hat vorliegend jedoch nicht stattgefunden und
  49. kann unter den hier vorliegenden Umständen auch nicht nachgeholt werden.
  50. -4-
  51. b) Die Entscheidung des Großen Senats hat zu einer substantiellen Än-
  52. 6
  53. derung des Strafverfahrenrechts dahingehend geführt, dass Protokollmängel in
  54. erster Linie im Protokollberichtigungsverfahren zu beseitigen sind (BGH, NJW
  55. 2010, 2068, 2069).
  56. Grundlage einer jeden Protokollberichtigung ist die sichere Erinnerung
  57. 7
  58. der Urkundspersonen. Fehlt es hieran, kann das Protokoll nicht mehr berichtigt
  59. werden (BGHSt 51, 298, 314, 316). Für das Verfahren gilt, dass vor einer beabsichtigten Protokollberichtigung die Urkundspersonen zunächst den Beschwerdeführer zu hören haben. Widerspricht er der beabsichtigen Berichtigung substantiiert, sind erforderlichenfalls weitere Verfahrensbeteiligte zu befragen. Halten die Urkundspersonen trotz des Widerspruchs an der Protokollberichtigung
  60. fest, ist ihre Entscheidung hierüber mit Gründen zu versehen. Die Gründe der
  61. Berichtigungsentscheidung unterliegen der Überprüfung durch das Revisionsgericht im Freibeweisverfahren. Im Zweifel gilt insoweit das Protokoll in der
  62. nicht berichtigten Fassung (BGHSt 51, 298, 315 f.; vgl. BGH, NStZ 2008, 580,
  63. 581).
  64. Das gilt im Ergebnis auch, wenn das vom Großen Senat vorgegebene
  65. 8
  66. Verfahren der Protokollberichtigung nicht eingehalten oder nicht durchgeführt
  67. wird.
  68. 9
  69. c) Der Senat sieht keine Veranlassung die Akten zum Zwecke der Einleitung eines Protokollberichtigungsverfahrens zurückzusenden (vgl. insoweit
  70. BGH, wistra 2009, 484). Die Akten waren dem Vorsitzenden der Kammer bereits durch den Vertreter der Staatsanwaltschaft unter Hinweis auf die Rüge der
  71. nicht verlesenen Anklage zurückgesandt worden, ohne dass ein Berichtigungsverfahren eingeleitet wurde. Beide Urkundspersonen haben in Kenntnis dieser
  72. -5-
  73. Rüge lediglich dienstliche Erklärungen abgegeben. Eine nochmalige Rücksendung ist vor diesem Hintergrund nicht geboten und käme überdies dem Fall einer Wiederholung eines nicht ordnungsgemäßen Verfahrens unter Verletzung
  74. des Rechts des Angeklagten auf ein faires Verfahren gleich (vgl. MeyerGoßner, StPO, 53. Aufl., § 271 Rn. 26a).
  75. 10
  76. Neben einer ordnungsgemäßen Protokollberichtigung kommt eine freibeweisliche Aufklärung des tatgerichtlichen Verfahrensablaufs allein unter Berücksichtigung abgegebener dienstlicher Erklärungen und damit unter geringeren Anforderungen als in dem die Verfahrenswahrheit sichernden Protokollberichtigungsverfahren nach erhobener Verfahrensrüge und zum Nachteil des
  77. Angeklagten nicht in Betracht (BGHSt 51, 316 f.; vgl. BGH, NStZ 2005, 281,
  78. 282; StV 2004, 297; NStZ 2000, 47; BGHR StPO § 274 Beweiskraft 8, 11 und
  79. 13 jeweils mwN). Ob hiervon in Fällen krasser Widersprüchlichkeit Ausnahmen
  80. zu machen sind (vgl. BGH, NJW 2010, 2068, 2069), kann offen bleiben. Eine
  81. solche liegt hier nicht vor.
  82. 11
  83. 3. Der Senat kann ein Beruhen des angefochtenen Urteils auf diesem
  84. Verfahrensverstoß nicht ausschließen.
  85. Rissing-van Saan
  86. Schmitt
  87. RiBGH Prof. Dr. Krehl ist
  88. wegen Urlaubs an der
  89. Unterschrift gehindert.
  90. Rissing-van Saan
  91. Eschelbach
  92. Ott